Wie schwer wiegen Meinungs- und Versammlungsfreiheit?

Der Staatsschutzsenat am OLG Hamburg hat im Prozess gegen Kenan Ayaz erneut deutlich gemacht, dass er sich der Staatsräson, jegliche kurdische Äußerung als terroristisch zu verurteilen, nicht widersetzen will.

Wer als Besucher:in auch an nur einem der mittlerweile 29 Hauptverhandlungstage anwesend war, konnte sich am letzten Freitag erneut ein Bild davon machen, dass das Oberlandesgericht Hamburg alles aufbietet, um Kenan Ayaz wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft zu verurteilen. Dazu gehört auch, sämtliche Anträge der Verteidigung abzuschmettern, mit denen eine differenzierte Darstellung von Ereignissen möglich wäre, die den Angeklagten entlasten könnten. Stattdessen wird seitens des Gerichts darauf hingewiesen, dass bereits die Teilnahme und die bis dato nicht bewiesene organisatorische Verantwortung für Veranstaltungen als sogenannte Betätigungshandlung für die PKK als Kader gewertet werden können.

Vorwurf: Organisierung von Kulturfestival

Um eine Klärung zu erreichen, wurde zu einem ergangenen Beschluss des Gerichts Gegenvorstellungen bzw. Anträge von der Verteidigung erhoben, die vor allem den Charakter von Versammlungen zum Gegenstand haben, für die Ayaz Verantwortung tragen soll: unter anderem das Dersim-Festival und die Newroz-Feier in Frankfurt am Main 2019. An ersterem nahmen mehrere tausend Menschen teil. Sie alle eint das Interesse am „Erhalt der kurdischen Kultur, insbesondere der Kultur aus Dersim“ und ihr „Interesse an dem Thema des Völkermords an den Kurden in Dersim und an Themen wie Ökologie und Femiziden“, wie die Verteidigung in ihrem Antrag schreibt. Es traten mehrere Musik- und Tanzgruppen auf. Außerdem gab es mehrere Redebeiträge, etwa von Abgeordneten der HDP und der Partei DIE LINKE. In diesen wurde sich für Frieden und Demokratie, Ökologie und Geschlechtergerechtigkeit ausgesprochen und der Völkermord in Dersim verurteilt. Weder wurde zu Gewalt aufgerufen noch andere Gruppen oder Menschen abgewertet. Auch verlief das Festival friedlich und es wurden keine strafrechtlich relevanten Vorgänge festgestellt.

Selbiges trifft auf den Ablauf der Newroz-Feier zu. So berichtete die Tagesschau am 23. März 2019 um 20 Uhr: „In Frankfurt haben mehr als zehntausend Menschen das kurdische Neujahrsfest gefeiert. Mit Demonstrationen und einer anschließenden Kundgebung forderten sie Frieden und Demokratie im Mittleren Osten. Viele Teilnehmer forderten auch Freiheit für den in der Türkei als Terrorist verurteilten Kurdenführer Öcalan. Laut Polizei verliefen die Veranstaltungen ohne Zwischenfälle.“ Für eben jene Veranstaltung unterstellt das Gericht Kenan Ayaz eine organisatorische Verantwortung und sieht darin eine Straftat nach § 129b StGB.

Die Verteidigung begründete die erhobenen Gegenvorstellungen bzw. Anträge damit, dass diese darauf abzielen, „dass es sich bei der strafrechtlichen Verfolgung der Teilnahme an oder der Organisation von den Versammlungen, um eine grund- und konventionswidrige Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit handelt“. In diesem Zusammenhang wurden etliche Feststellungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) herangezogen, nach denen „die für die Teilnahme an einer Kundgebung verhängten Strafen einen Eingriff in das Recht auf Versammlungsfreiheit darstellten. […] Denn eine extensive Gesetzesauslegung, der zufolge eine legale Aktivität während einer legalen Demonstration für den Betroffenen im Vorhinein unvorhersehbar anschließend strafrechtlich sanktioniert wird, würde nicht nur denjenigen, der strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde, in Zukunft davon abhalten, sein Recht auf Versammlung wahrzunehmen, sondern hat auch das Potential, andere Bürger von der Teilnahme an Demonstration abzuhalten.“

Das Gericht sollte sich gut überlegen, ob es aus purer Verzweiflung und Willkür gegen ein so hohes Gut wie das Meinungs- und Versammlungsrecht verstoßen möchte, um Kenan Ayaz als PKK-Kader zu verurteilen. Das Gericht würde erneut seine Befangenheit bestätigen.

Kommentar einer Besucherin

Eine Besucherin äußerte Unmut: „Dieses Gericht wirkt auf mich so selbstgerecht. Wie können sie so selbstverständlich über Menschen urteilen, die so viel Unterdrückung erlitten haben und sich noch nicht einmal für den Kontext interessieren. Es handelt sich doch hier um Richterinnen am Oberlandesgericht. Diese Leute sind doch schon ganz oben auf der Karriereleiter. Was bringt sie dazu, sich so unhinterfragt der deutschen Staatsräson, dass die Kurd:innen terroristisch seien, so dermaßen zu unterwerfen? Wie können sie das Leid der Kurd:innen so vollkommen ignorieren, auch die persönliche Erfahrung von Kenan Ayaz? Es schmerzt umso mehr, weil es sich bei den Richterinnen um Frauen handelt, für deren Befreiung die kurdische Bewegung vor allem anderen kämpft. Kulturfeste wie die Newroz-Feier oder das Dersim-Festival werden hier in den Zusammenhang mit Terrorismus gestellt. Dabei sind es doch Kulturfeste einer unterdrückten Nation, einer Nation, die seit einem Jahrhundert einem Genozid ausgesetzt ist.“

Relativierung von Repression

In bewährter Tradition lehnte das Gericht auch an diesem Prozesstag mehrere Anträge ab. In einem Beschluss wurde das beantragte Sachverständigengutachten zu den Kommunalwahlen in der Stadt Agirî (tr. Ağrı) im Jahr 2009 abgelehnt. Kenan Ayaz hatte den kurdischen Kandidaten unterstützt, wurde nach den Wahlen und der Aufdeckung des Wahlbetruges festgenommen und war sechs Monate zu Unrecht inhaftiert. Die Verteidigung forderte mit dem Antrag ein Sachverständigengutachten zu diesen Kommunalwahlen, bei denen die AKP zu ihren Gunsten manipuliert haben soll. Es sollte damit aufgezeigt werden, dass die AKP alles daransetzt, legale Möglichkeiten prokurdischer Politik zu konterkarieren. Doch für das Gericht sind „einzelne historische Vorgänge“ wie die Kommunalwahlen nicht beweisrelevant. Begründet wird dies damit, dass „der für den Fall einer Verurteilung möglicherweise erhebliche, jedoch erwiesen anzusehende, abstrakt-generelle Umstand, dass der Angeklagte einer Volksgruppe angehört, die bei der Wahrnehmung ihrer kulturellen Identität und ihrer politischen Handlungsfähigkeit zahlreichen Einschränkungen durch die türkische Regierung ausgesetzt war und ist“. Bei diesen Worten bleibt einem der Mund offen stehen. Was genau meint das Gericht hier mit „Einschränkungen“? Den Versuch, Rojava auszulöschen, die gezielte Ermordung von kurdischen Intellektuellen und Politiker:innen in der Region, die Inhaftierung von Tausenden von Kurd:innen in der Türkei, die von diesen erlittene Folter und Misshandlung? Oder meinen sie etwa die systematische Unterdrückung kurdischer Kultur und in diesem Kontext das Verbot von Festivals und der Zensur von Medien verschiedener Art oder das Verbot von prokurdischen Parteien und das Absetzen ihrer Bürgermeister:innen? All dies als „Einschränkung“ zu deklarieren, ist nichts anderes als eine Relativierung der Repression gegenüber Kurd:innen und mit ihnen solidarischen Menschen. Und so wundert es denn nicht, dass in dem Beschluss wortwörtlich von „Erfahrungen“ die Rede ist, die Kenan Ayaz im Zuge der Kommunalwahlen gemacht habe. Es ist also einfach nur eine „Erfahrung“, zu Unrecht sechs Monate in Haft zu verbringen.

Mit Blick auf den vergangenen Prozesstag zeigt sich eine weitere Besucherin, die bereits Prozesse in der Türkei besucht hat, geschockt angesichts der Parallelen bei der Verfolgung der Kurd:innen in der Türkei und in Deutschland: „In der Türkei gibt es durchaus Richter:innen – wenn auch wenige -, die sich der Staatsräson, jegliche kurdische Äußerung als terroristisch zu verurteilen, widersetzen.“

Weitere Verhandlungstermine

6.6., 19.6. bis 13 Uhr, 27.6., 2.7., 9.7., 11.7., 17.7., 22.7. und 19.8.

Der Prozess findet im 1. Stock des OLG Hamburg am Sievekingplatz 3 statt, entweder in Saal 237 oder 288. Die Verhandlungen beginnen in der Regel um 9:30 Uhr.

Postadresse und Spendenkonto

Auf der Seite kenanwatch.org werden Informationen in den Sprachen Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland angeboten. Kenan Ayaz freut sich über Post. Briefe können auch in anderen Sprachen als Kurdisch oder Türkisch geschrieben werden, da eine Übersetzung gewährleistet ist. Zu beachten ist die Schreibweise des Behördennamens „Ayas“, damit die Briefe auch zugestellt werden.

Kenan Ayas
Untersuchungshaftanstalt Hamburg
Holstenglacis 3
20355 Hamburg

Spendenkonto:

Rote Hilfe e.V. OG Hamburg
Stichwort: Free Kenan
IBAN: DE06200100200084610203