Red Storm Bravo: Simulierter und echter Protest gegen die Zeitenwende in Hamburg

Was Olaf Scholz am 27. Februar 2022 als „Zeitenwende“ im Bundestag ankündigte wird im Hamburger Straßenbild zur militärischen Realität. Am Wochenende absolvierte die Bundeswehr in Hamburg die NATO-Militärübung „Red Storm Bravo“. Gegen die Übung eines fiktiven Kriegsszenarios gegen Russland gingen tausende Menschen auf die Straße. – Ein Bericht von Emil Koch.
Der rote Sturm aus dem Osten, der unsere Sicherheit bedroht. Darauf bereiteten sich vom 25. bis zum 27. September 500 Bundeswehrsoldat:innen sowie zahlreiche Zivilkräfte anhand eines fiktiven Krisenszenarios vor. Das Szenario eines „Spannungsfalls“ mit Russland sieht vor, dass in einem NATO-Bündnisfall, der aufgrund eskalierender Spannungen an den Grenzen der baltischen Staaten ausgerufen wird, Deutschland zur Drehscheibe für militärische und zivile Transporte an die Ostgrenze des NATO-Gebiets wird.

Der Stadt Hamburg kommt aufgrund ihres Hafens eine besondere Bedeutung zu. Das Hafengebiet stand folglich im Zentrum der Militärübungen, jedoch wurden auch angrenzende Gebiete und Verkehrswege einbezogen.

Zu den geprobten Szenarien gehörten beispielsweise eine reibungslose Truppenverlegung sowie das Zurschaustellen der deutschen Fähigkeiten bei der Drohnenabwehr. Diese nimmt eine zunehmend zentrale Rolle in Kriegen ein. Kurt Leonard, Kommandeur des Landeskommandos der Bundeswehr, forderte in diesem Kontext einen Ausbau der deutschen Fähigkeiten zur Drohnenabwehr.

Behörden üben zivil-militärische Zusammenarbeit
Die Bundeswehr betonte vorweg, dass Verteidigung nicht als eine rein militärische, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird. Diese könne nicht alleine von der Bundeswehr geleistet werden. Schlussfolgernd nahmen auch zivile Blaulichtorganisationen, Hamburger Behörden, Unternehmen der Hafen- und Logistikbranche und sogar die Arbeitsagentur an der Militärübung teil. Das postulierte Ziel war die Verbesserung der zivil-militärischen Zusammenarbeit.

Konkret bedeutet dies, dass neben militärischen Übungen auch soziale Fragen der Logik der Zeitenwende untergeordnet werden. Beispielsweise wurde die Umsetzung des Arbeitssicherstellungsgesetzes trainiert. Dieses soll im Verteidigungsfall den Bedarf an Arbeitskräften für lebens- und verteidigungswichtige Aufgaben decken. Das Gesetz wurde 1968 im Rahmen der Notstandsgesetze beschlossen, bislang jedoch nie angewendet.

Für Arbeiter:innen würde eine Umsetzung bedeuten, dass Grundrechte massiv eingeschränkt werden: Im Kriegsfall können sowohl das Recht auf freie Berufswahl als auch die Möglichkeit zur Kündigung beschnitten werden. Faktisch käme dies einer Arbeitspflicht gleich.

Gespielter und echter Protest
Auch der Umgang mit „zivilen Protesten“ stand am Wochenende auf dem Lehrplan und umfasste den Einsatz der Bundeswehr gegen Demonstrierende, die sich gegen die Militarisierung zur Wehr setzen. In der Nacht zum Freitag simulierten Bundeswehrreservist:innen eine Sitzblockade und unterbrachen damit eine Militärkolonne. Die „Demonstrierenden“, performativ durch Schilder mit der Aufschrift „Kleber“ gekennzeichnet, wurden anschließend von der Polizei von der Straße geräumt.

Während sich die Militärübung mit gespielten „Klimaklebern“ beschäftigte, organisierte in Hamburg ein breites Bündnis verschiedener Organisationen wirklichen Protest. Am Donnerstag fand zunächst eine Kundgebung mit etwa 250 Teilnehmer:innen statt. Am Freitag folgte ein Demonstrationszug mit 2.000 Menschen. Die Demo-Route führte vom Hühnerposten bis zu den Landungsbrücken.

Arbeiter:innen aus den Mercedes-Werken Hamburg und Bremen sowie von Airbus und Enercon hängten dort an der S-Bahn-Brücke ein Banner mit der Aufschrift: „Unsere Arbeit, unsere Fabriken, unser Hafen – nicht für euren Krieg!“ auf. Unter der Brücke schallte es laut: „Die Reichen wollen Krieg, die Jugend eine Zukunft“

Die Protestierenden kritisierten vor allem die Normalisierung militärischer Präsenz im Alltag sowie die gleichzeitigen Einsparungen im Nahverkehr, in der Pflege und in der Bildung, während der Staat militärisch aufrüstet. Auch das jüngst beschlossene Wehrdienstgesetz sowie Deutschlands Beteiligung am Genozid in Gaza wurden kritisiert und hervorgehoben.

Militarisierung der gesamten Gesellschaft
Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) sprach im Vorfeld des Red Storm Bravo davon, dass die Übung zwar nicht groß, aber dennoch in der Stadt spürbar sein werde. Er appellierte an die Hamburger:innen sich damit zu beschäftigen, was im Kriegsfall zu tun sei: „Jeder muss sich vorbereiten.“

Aber was bedeutet das konkret? Grotes Aussage verweist ungefiltert darauf, dass das Projekt der Zeitenwende nicht auf eine außenpolitische Militarisierung begrenzt ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Kriegstüchtigkeit zum Ziel hat, deren Auswirkungen das Leben aller Menschen unmittelbar beeinflusst. Für Hamburger:innen wurde dies am vergangenen Wochenende besonders spürbar.

Die außenpolitische Aufrüstung geht Hand in Hand mit einer inneren Zeitenwende und treibt den Abbau von sozialer Sicherheit und demokratischen Grundrechten voran. Austeritätspolitik, also staatliche Sparpolitik und Militarisierung hängen systemisch zusammen. Ausdruck findet dies ganz offensichtlich in der Aussage von Friedrich Merz: „Wir können uns dieses System nicht mehr leisten“ – während parallel eine Erhöhung der Militärausgaben aller NATO-Mitgliedsstaaten auf fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes sowie die Aufhebung der Schuldenbremse für Rüstungsausgaben beschlossen wird.

Niederhaltung antimilitaristischer Proteste
Aber auch die in Hamburg erprobte Niederhaltung zivilen Widerstands ist Ausdruck dieser Entwicklung. Zu spüren bekommen dies bereits all jene, die sich gegen militärische Aufrüstung, Deutschlands Beteiligung am Genozid in Gaza und außenpolitische Doppelmoral zur Wehr setzen.

Ende August zeigte sich dies in Köln: Bei einer Anti-Kriegs-Demo des Rheinmetall-Entwaffnen-Bündnisses setzte die Polizei Demonstrierende über mehrere Stunden fest, verwehrte Trinkwasser und den Zugang zu Toiletten und ging mit extremer körperlicher Gewalt gegen sie vor. Zuvor wurde vergeblich probiert, ein antimilitaristisches Protestcamp der Gruppe zu verbieten. Die Botschaft war eindeutig: Der Protest trifft den Staat empfindlich und wird gerade deswegen mit allen Mitteln bekämpft.

Eine Regierung, die massiv aufrüstet und gleichzeitig Einsparungen bei jenen fordert, die bereits wenig haben, tut vor allem eines: den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Gemeinschaft, die angeblich vor Putin verteidigt werden soll, selber zu zerstören und somit den Aufstieg autoritärer Kräfte zu forcieren. Politiker:innen, die sich als Apologeten der Freiheit, der Demokratie und des Völkerrechts inszenieren scheinen auf einmal all ihre Grundsätze, die sie nach außen betonen im Inneren vergessen zu haben.

Zahlreiche Hamburger:innen haben am Wochenende gezeigt, dass dies nicht von der gesamten Bevölkerung mitgetragen wird. Beginnen die Ängste der Gesellschaft wirklich an der NATO-Ostflanke oder vielmehr bei der durch Bund und Länder entschiedenen Beschränkung demokratischer Rechte und der Austeritätspolitik, die den Alltag erschwert und Investitionen in Bildung und Soziales verhindert?

https://perspektive-online.net/2025/09/red-storm-bravo-simulierter-und-echter-protest-gegen-die-zeitenwende-in-hamburg