Sehen, wie es ist. Haben wir es beim RAF-Prozess gegen Daniela Klette mit einer Reinszenierung des Stammheimer Verfahrens zu tun?

Bei einer der ersten Sitzungen in der Verdener Reithalle saß – als ich sie betreten und die Sicherheitskontrolle durchlaufen hatte – in der Mitte des ansonsten leeren Pressebereichs ein weißhaariger Mann von lässiger Eleganz, der ostentativ auf einem hier vollkommen verbotenen Smartphone herumfingerte. Wow! Wie er das durch die Kontrolle gekriegt habe, fragte ich ihn, indem ich anerkennend nickte. Er sah auf, riss ruckartig die Brauen hoch und blitzte mit den Augen: »Ich bin von der Verwaltung!« Das ist ein Regelverstoß, dachte ich, er muss im Publikumsbereich sitzen, weil er kein Journalist und der Pressebereich nur für Journalist*innen ist – denn ich hatte das Einhalten von gängelnden, sinnlosen Regeln, wozu man hier unablässig genötigt wird, gut internalisiert und fragte daher etwas gereizt: »Warum sind Sie hier?! Was machen Sie hier?!« Nun erklärte er, dass er selbst diesen Reithallen-Wahnsinn verbrochen hatte und jetzt sein Werk besichtigen wollte. »Ah, Evaluation«, sagte ich. »Nein!!!«, rief er aus, dass es zum Erbarmen war mit der unverstandnen Künstlerseele, und präsentierte mit weit ausholender, allumfassender Bewegung beider Arme das Panorama des Ganzen: »Sehen, wie es ist!« Das wollen wir gerne tun. Dabei versteht sich, dass mit dem Verdener Verfahren immer das Verdener Verfahren bis jetzt gemeint ist.
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Beinah gegensätzlich erscheint die Prozessführung der Vorsitzenden Richter, die nicht nur in Stammheim und Verden, sondern grundsätzlich das Verfahren gestalten. Während Prinzing, der Vorsitzende des Stammheimer Verfahrens, kaum einen möglichen Rechtsbruch ausließ und sich im steten Kontakt mit dem zuständigen Revisionsrichter seine Rechtsbrüche absegnen ließ, scheint Engelke, der Vorsitzende im Verdener Verfahren, ein Urteil zu wünschen, das eine Revision erst gar nicht zulässt. Dazu gehört unter anderem, dass die Angeklagte und die Verteidigung rechtliches Gehör erhalten und dass die Verteidigung unbehelligt arbeiten kann, was beides in Stammheim nicht gegeben war, wo Prinzing pausenlos unterbrach und das Wort entzog und die Verteidigung ausgeschlossen und kriminalisiert wurde. Während Prinzing mehr oder weniger unverhohlen die mehr oder weniger unverhohlenen Anweisungen der Bundesanwaltschaft direkt umsetzte, monierte Engelke, dass die Staatsanwaltschaft ihm Akten vorenthält.

Aber leider liegen die Gestaltung von Raubüberfällen als Terrorverfahren und die Ablehnung von Sachverständigengutachten zu entscheidenden Fragen außerhalb rechtsstaatlicher Standards. Verweigert werden Gutachten zu DNA-Beweisen, weil Klettes Anwesenheit an fast keinem Tatort nachweisbar ist, und zu den bei dem Überfall auf einen Geldtransporter im niedersächsischen Stuhr abgegebenen Schüssen, weil damit die Anschuldigung der generellen Tötungsbereitschaft vom Tisch wäre. Dazu kommt, dass die Kammer die fantastischen Interpretationen des LKAs von Notizen aus Klettes Wohnung als Beweismittel zur Akte nimmt, obwohl Fantastik in der Beweisaufnahme nicht erlaubt ist.

Theodor Prinzing und Lars Engelke sind eins darin, dass sie sich derselben Institution und mithin demselben politischen Ziel verpflichtet haben. Das Ziel dieser Institution ist es, das Privateigentum an den Produktionsmitteln, die gesellschaftliche Ordnung also, aus der die Vernichtung der planetaren Lebensgrundlagen hervorgeht, aufrechtzuerhalten durch rechtsförmige Legitimierung eben jener Gewalt, ohne die die Vernichtung der planetaren Lebensgrundlagen nicht möglich ist. Es soll schnell prozessiert werden, deshalb werden jetzt fünf von 13 Überfällen fallen gelassen, denn es wird von Steuergeldern bezahlt, die vom Akkumulationsfonds abgehen und viel dringender für Ermittlungen, Reithallen-Umbau und Polizeieinsätze gebraucht werden.

In beiden Verfahren wurde und wird von Gericht und Klage führender Behörde stets darauf bestanden, es handle sich nicht um ein politisches, sondern um ein normales Strafverfahren. Es sind die Justiz selbst und die bürgerliche Rechtswissenschaft, die diese Unterscheidung in politische versus normale, unpolitische Verfahren vornehmen. So gilt etwa der Hochverrat als eine politische, der Raub von Geld als eine unpolitische Straftat. Inzwischen hat die bürgerliche Rechtswissenschaft das Stammheimer Verfahren entgegen aller damaligen Behauptungen der Justiz als einen politischen Prozess bestimmt. Jedoch: Politik ist, was das Gemeinwesen betrifft, und nichts anderes betrifft das Gemeinwesen so essenziell und total, betrifft es nicht nur, sondern formiert es, wie die Eigentumsverhältnisse, hier das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das von der Justiz mit jedem einzelnen Prozess, den sie führt, unmittelbar oder vermittelt durchgesetzt wird, so dass es unpolitische Verfahren überhaupt nicht gibt. Die Rede von normalen, unpolitischen Verfahren will den falschen Schein erzeugen, als sei ihr Inhalt, die Eigentumsverhältnisse, normal, naturwüchsig, unveränderbar und gehe das Gemeinwesen im Namen des Volkes nichts an.

Für beide Verfahren wurde ein Verhandlungssaal gebaut, der für die Öffentlichkeit nur schwer zugänglich ist. Verden ist abgelegener als Stammheim, in Stammheim waren die Sicherheitskontrollen umfangreicher und rabiater, als sie es in Verden sind. In beiden Fällen war und ist die Umgebung des Verhandlungssaals eine rechtsfreie Zone, wo man dem Kommando der Polizei unterworfen ist wie in einer Diktatur. Beide Male wurde und wird nichts unterlassen, um die Öffentlichkeit draußen und den Schein der Öffentlichkeit aufrechtzuhalten.

In Stammheim waren Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Jan Carl Raspe, Holger Meins und Andreas Baader der Mai-Offensive von 1972 angeklagt, die aus insgesamt sechs Sprengstoffanschlägen auf zentrale Einrichtungen der Kapitalherrschaft bestand und den logistischen Beitrag der BRD zum Amerikanischen Krieg in Vietnam beschädigte. Daniela Klette wird unter dem Vorwand von ein paar geraubten Euro dafür bestraft, dass sie sich so langandauernd dem Zugriff des Staates erfolgreich entzogen hat. Dass es nicht um die Aneignung fremden Eigentums geht, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass nur die »rechtswidrige Aneignung« fremden Eigentums, wie es in der Anklageschrift heißt, verboten ist. Wäre Daniela Klette eine Kapitalistin, die sich den Teil der Arbeitskraft ihrer Arbeiter*innen angeeignet hätte, der im Lohnverhältnis unbezahlt ist, um den Mehrwert zu bilden, und dazu etwas zwischen 2,7 Millionen und etlichen Milliarden an nicht bezahlten Steuern, egal ob legal oder illegal, so würde sie nicht strafrechtlich verfolgt, sondern erhielte Ansehen und politische Posten.

Der Gipfel ihres Terrorismus’ schließlich besteht darin, dass sie »auf ein erfülltes Leben zurückblickt«. Hätte sie in der Illegalität wenigstens ein Hundeleben führen müssen, wäre sie unterernährt, krank und gebrochen, so wäre alles nur halb so schlimm. Nicht hinnehmbar aber ist es für den Staat des Kapitals, dass eine Arbeitskraft sich der Verwertung entzieht, dass Daniela Klette ihr Leben für sich beansprucht hat, dass es überhaupt eine Perspektive ohne Kapital gibt, ist, was nicht sein darf. Daher muss diese Perspektive mit der Infamie der »generellen Tötungsbereitschaft« in den Dreck gezogen und das Gutachten, das diesen Schmutz widerlegt, verweigert werden. Am allerwenigsten darf sein, dass es Menschen dabei gut und, wie man sieht, besser gehen kann als in der trostlosen Tretmühle der legalen Lohnsklaverei oder unter der sadistischen Geißel des Jobcenters oder ohne Wohnung auf der Straße oder direkt im Schützengraben mit einem weggefetzten Bein oder in der Einsamkeit der Macht oder in der permanenten Angst der Reichen vor Einbrecher*innen und davor, dass die Enteigneten als Klasse aufstehen könnten, um sich ihr Teil zu nehmen, usw.

Der Umfang der Akten entsteht durch den Umfang der Ermittlungen und war und ist in beiden Fällen ungewöhnlich groß. In Stammheim erklärte die Bundesanwaltschaft, vom Bundeskriminalamt nur zehn Prozent der Akten erhalten zu haben, in Verden hat die Staatsanwaltschaft nichts dergleichen geäußert.

Während in Stammheim das Urteil schon mit der Tat feststand, also noch bevor das Verfahren überhaupt begonnen hatte, kann das Strafmaß gegen Daniela Klette innerhalb des üblichen Spielraums – die mediale Vorverurteilung und die Militarisierung des Prozesses einmal außen vor gelassen – noch eine offene Frage sein.

In beiden Verfahren wurde und wird das soziale Umfeld der Angeklagten ausspioniert, eingeschüchtert und bedroht. Aktuell hat der herzkranke Jürgen Schneider die Bedrohung im nd dokumentiert. Er hatte Klette im Gefängnis besucht, wurde infolgedessen vom BKA vorgeladen, folgte aber der Vorladung wegen ärztlich attestierten erhöhten Herzinfarktrisikos nicht, woraufhin die Bundesanwaltschaft eine Welle von Herzinfarkt befördernden Schikanen in Gang setzte. Da ein Toter nicht sprechen kann, kommt es den Behörden offensichtlich weniger auf die Erlangung von Informationen an als vielmehr auf die Abschreckung von Solidarität: Volle Soli mit Jürgen und allen, die bei ihren Bestrebungen für das gute Leben für alle vom Staat bedroht oder gefangen gehalten werden!

Zwar waren und sind beide Verfahren stark militarisiert, aber das Stammheimer Verfahren war mit GSG 9, Reiterstaffel, Schäferhund, Hubschrauber und was das staatliche Gewaltpotenzial sonst noch vorhielt, ungleich stärker militarisiert, als es das Verdener ist, und war damit zugleich näher an der realen Gefahrenlage, die heute, im Unterschied zu damals, gar nicht existiert.

Wurde die Militarisierung des Stammheimer Verfahrens von Freund*innen des Rechtsstaats als unverhältnismäßig und anstößig wahrgenommen, so wird die Militarisierung des Verdener Verfahrens bis ins konservative Lager hinein nur noch als eine Groteske gesehen, eine Zurschaustellung staatlicher Gewaltmittel, an der man sinnlich wahrnehmen kann, wo der Terrorismus zu Hause ist.

Wir möchten wissen, warum man sich überhaupt ans Gesetz halten soll, wenn die Regierung sich nicht einmal an die Verfassung hält, und stellen fest: Das Privateigentum an den Produktionsmitteln wurde in Stammheim unter systematischer Verletzung rechtsstaatlicher Standards und wird in Verden bis jetzt unter partieller Verletzung dieser Standards durchgesetzt. Es kommt aber darauf an, es aufzuheben, wenn die Erde bewohnbar bleiben soll.
von: Stephanie Bart / analyse und kritik am: 23.11.2025 – 20:06

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