Präventive Konterrevolution, der Versuch, gesellschaftlichen Unruhen noch vor ihrer Entstehung zu unterdrücken, führt zu harter Repression gegen jene Personen, die unbiegsam gegen Staat und Kapital kämpfen. Unsere Genossin Andi ist eine davon. Ein Interview vor dem Prozess (az)
Was sind die offiziellen Anklagepunkte und wie kam es zur Anklage?
Während des Wefs 2017 wurde eine Pyrobox vor dem türkischen Generalkonsulat in Zürich gezündet. Die Bundesanwaltschaft hatte das Verfahren zweimal eingestellt, es aufgrund des Drucks aus der Türkei wieder aufgenommen. Das gehört zur „low intensity warfare“ des türkischen faschistischen Staates, Einmischung in ganz Europa ist seine Taktik. Die Kräfte, die sich in Solidarität erheben, sollen verfolgt werden. Demnächst gibt es auch einen Prozess in Bern wegen des „KILL ERDOGAN with his own weapons“-Transparents. Der Schweizer Staat ist Komplize des türkischen Faschismus. Und nicht nur der Schweizer Staat, das ist international der Fall.
Ausserdem wirst du wegen Beteiligung an Demonstrationen während des Lockdowns angeklagt.
Wir sprechen ja von der politischen Krise des Staates, sie tun das auch. Der bürgerliche Freiheitsbegriff und das Individuum sind zentrale Werte der Schweiz, die vorgibt, die bestmögliche Demokratie zu sein. Diese Werte werden gerade autoritär mit Füssen getreten. Eine Reaktion darauf war zu erwarten. Der Schweizer Staat hat Task-Forces aufgestellt in denen Militär, Polizei und Staatsschutz teil waren, um Unruhen zu verhindern. Klassische präventive Konterrevolution. Wir als Aufbau waren selbstverständlich von Anfang an in ihrem Visier.
Es ist nicht erstaunlich, was gerade passiert. Der Kapitalismus ist ein sehr zynisches System, er ist nicht solidarisch oder kollektiv und kann deshalb nicht auf eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung reagieren. Sehr vereinfacht gesagt, steht nicht der Mensch, sondern der Profit im Zentrum. Entsprechend können sich während der Pandemie einige bereichern, während andere verarmen, global ist es noch viel offensichtlicher. Die Länder, die dringend Ressourcen brauchen würden, um der gesundheitlichen Krise zu begegnen, werden ruiniert und haben keine Möglichkeit, ihre Bevölkerung zu schützen. Der Staatschutz hatte natürlich Angst, dass wir daraus etwas machen können, das schreiben sie relativ wörtlich so im Staatschutzbericht.
Können wir denn etwas daraus machen?
Man wünscht sich immer mehr. Ich wollte beispielsweise anlässlich des Prozesses dem Tages Anzeiger ein Interview gegeben, das wurde nicht abgedruckt, weil wir auf diesem Teil zur Pandemiepolitik und der Staatskrise bestanden haben. Brisanz liegt darin, dass die revolutionäre Linke von einer „breiteren“ Bevölkerung gehört und verstanden werden könnte. Am Beispiel des Gesundheitswesens lässt sich heute revolutionäre Kritik sehr einfach formulieren, es müsste ganz klar so aufgebaut sein, dass das schwächste Glied solidarisch getragen wird.
Wie kannst du im Prozess Staatskritik zeigen?
Wir haben uns für diesen Prozess für einen Boykott entschieden. Bei einer politischen Prozessführung müssen wir uns überlegen, in welchem politischen Kontext sich dieser Angriff abspielt. In der jetzigen Phase betrachten wir den Boykot als die geeignetste Form, um den Bruch mit dem Staat auszudrücken. Nicht zu gehen macht fassbar, dass wir den Staat nicht akzeptieren. Es ist mir wichtig, dass man weiss, dass ich mich nicht brechen lasse. Auf der Anklagebank sitzt ja eine lange Kontinuität im revolutionären Kampf, diese lässt sich nicht durch die Intervention des Staates unterbrechen, das bringe ich mit einem Boykott am einfachsten zum Ausdruck. Aber wir äussern uns, es gibt jetzt auch viele Soli-Aktionen überall.
In der Zeit der Mobilisierungen und Staatskritik von rechts müssen wir einen Raum für uns eröffnen, in welchem wir durch unser Verhalten zeigen können, dass wir Kritik am Staat haben. Es gibt viel zu sagen, wir leben in einer bedeutungsvollen Zeit, deshalb haben wir mit einem Teil der Klimajugend zusammen eine Staatskritik zu entwickeln versucht und eine Veranstaltung zu Rojava gemacht. In dieser Veranstaltung wurde präsentiert, dass auch in einer kriegerischen Situation Schritte nach vorne gemacht werden können, fortschrittliche Entwicklungen stattfinden und der Widerstand so aufgebaut werden kann, dass er auch erfolgreich sein kann.
Genau, zurück zur Bedeutung von Rojava.
Im Strafverfahren von Bellinzona wird die internationale Bewegung, die sich mit dem revolutionären Prozess in Rojava solidarisiert, angegriffen. Rojava ist international ein positiver Bezugspunkt, ein Projekt, das gegen militärische Angriffe und Barbarei verteidigt wird und sich weiterentwickelt.
Die Bedeutung von Rojava liegt insbesondere in dieser Weiterentwicklung. Darin, dass da der Prozess aufrecht erhalten wird, obwohl die Bedingungen extrem feindlich sind. Der politische Prozess wird verstärkt und nächste Schritte geplant. Die Bewegung hat eine strategische Intelligenz, analysiert die Situation und leitet taktische und strategische Schritte daraus ab.
In den Bergen kann sich die Guerilla halten, das türkische Militär kann die Berge nicht einnehmen, deshalb fliegt es pausenlos Angriffe aus der Luft, zerstört die Natur, die Schutz bietet. Und sie werfen Giftgas in die Höhlen und Tunnelsysteme der Guerilla, hochgiftiges, sehr übles Gas. Seit Monaten versucht das Militär, Truppen in den Bergen auf den Boden zu bekommen. Jetzt, das ist brandaktuell, musste sich das türkische Militär aus Werxelê und Tabûra in Avashin (kurdische Region im Irak) zurückziehen. Die neu erarbeitete Strategie der Guerilla ist so erfolgreich, dass eine militärische Einnahme durch den Feind nicht möglich ist, obwohl der pausenlos angreift. Das ist durch diese Neuorientierung, die sie gefunden haben, möglich. Dass die Bewegung nicht besiegbar ist, liegt an ihrer Fähigkeit, zu analysieren und der Entschlossenheit, das umzusetzen.
Das zeigt die Stärke und Entschlossenheit der kurdischen Kräfte, das ist unglaublich! Und es zeigt, weshalb die kurdische Bewegung so bedingungslos auf allen Ebenen bekämpft wird, sie weist uns eine reale Perspektive.
Ich habe vorher harmlos „feindliche Bedingungen“ gesagt. Das ist aber richtig zu verstehen, in Rojava wird das Schlagwort „Sozialismus oder Barbarei“ wirklich fassbar, es geht um viel. In besetzten Gebieten wie Afrin wird die Bevölkerung ausgewechselt, Daesh Familien werden importiert und angesiedelt, Kurdisch sprechen ist verboten, es wird gequält, gemordet und vertrieben. Die Gefahr, sexualisierte Gewalt zu erfahren, ist allgegenwärtig, auch für Männer. Diese sprechen weniger darüber, aber da viel mit Handys gefilmt wird, wissen wir, was passiert. Es ist unaussprechlich. Nur als Beispiel: Feldarbeiter haben trotz Verbot die Olivenbäume gepflegt, sie wurden gefangen genommen, gefoltert und noch lebend aus dem Helikopter geworfen. Alle verstehen die Botschaft: Haut ab oder wir bringen euch um.
Dieser Krieg wird durch den Nato-Staat Türkei mit dem Einverständnis der imperialistischen Mächte geführt, z.B. Killerdrohnen könnten sie ohne die Bewilligung der USA und Russlands in Syrien nicht einsetzen. Der Waffenhandel ist sowieso ein klarer Fall. Und die Schweizer Handelskammer macht weiter Deals mit der Türkei, wie immer. Auch am Wef ist es schon gewissermassen Tradition, dass die Türkei für ihre Politik Verbündete an Bord holen kann, die Hinterzimmer des Wefs dienen derartigen Kriegen direkt und indirekt. Die internationale Komplizenschaft liegt nicht nur im Stillschweigen, sie geht viel weiter, wie nun auch mein Prozess zeigt.
Die Bewegung in Rojava ist voller Widersprüche, das sind revolutionäre Bewegungen immer. Aber sie ist das wichtigste und beeindruckenste Vorbild, von dem wir viel lernen können. Die Widerstandsvernetzung sagt klar: Unite against Turkish Fashism.
«Auf der Anklagebank sitzt der kontinuierliche, revolutionäre Kampf» Teil 2
Der Prozess hat stattgefunden, das Urteil ist gesprochen. Auch wir waren in der Zwischenzeit sehr aktiv. Fortsetzung von Teil 1
Wie waren die zwei Prozesstage für dich?
An sich so, wie wir das geplant hatten, unsere Strategie ist aufgegangen. Wir haben einen Boykott gemacht und einen Raum für unsere Inhalte eröffnet. Der Boykott alleine genügt natürlich nicht, er eröffnet einen Raum, aber den müssen wir mit Inhalt füllen. Wir sind mit Genoss_innen aus der türkisch-kurdischen Linken von Zürich, aber auch aus den Städten Basel, Winterthur und dem süddeutschen Raum vors türkische Konsulat gegangen, haben uns getroffen, anschliessend viel diskutiert. Wir zeigen damit, dass uns die Inhalte wichtig sind, und dass wir die Selbstbestimmung behalten. So sind wir nicht auf die Anklagebank gesessen, sondern haben den Spiess umgedreht, sind dahin, wo wir sein wollen. Lustigerweise hat der Richter das richtig verstanden, er hat gesagt: «Die Angeklagte klagt lieber selber an, als dass sie sich anklagen lässt.» Wir nennen das, den Spiess umdrehen.
Wie kam es zu diesem Urteil 14 Monate unbedingt?
Die Kläger haben nochmals gesagt, dass sie nichts haben. Sie wissen eigentlich nicht, was meine Rolle bei diesem Anschlag war. Ich wurde wegen ‚Gehilfinnenschaft‘ verurteilt. Es ist meine lange Geschichte von Militanz und meine Kontinuität, die verurteilt wurde.
Sie haben eine elegante Lösung gesucht, mich anzuklagen, obwohl sie nichts haben und das zeigt klar die politische Dimension dieses Prozesses, der Richter sagt das sogar. Er hat damit den Hunger nach Verurteilung des türkischen Staates gesättigt. Gleichzeitig ist der Staatsanwalt so fein raus. Er hat immer offen gesagt, dass zu wenige Beweise vorliegen, aber über dieses Konstrukt ‚Gehilfinnenschaft‘ wahrt er das Gesicht und kann das politische Urteil liefern, das der türkische Staat gefordert hat.
Der türkische Staatsvertreter hat übrigens immer im „Namen der Freundschaft unserer Völker“ vom Schweizer Staat eine Verurteilung verlangt, das hat er wörtlich so geschrieben. Tatsächlich sass der Konsul dann auch zwei Tage lang im Saal und hat das persönlich überprüft.
Bist du die erste, die ‚Gehilfinnenschaft‘ kassiert oder gibt es das?
Das habe ich mich auch gefragt, das weiss ich nicht. Aber wir werden nachfragen.
Ihre Definition von Gehilfin ist eine lange, revolutionäre Geschichte mit Kontinuität, auch in der Frage der militanten Praxis.
Wirst du das Urteil weiterziehen?
Das haben wir noch nicht entschieden. Mein Anwalt hat Einsprache gemacht – die muss ja innerhalb von 10 Tagen erfolgen. So haben wir die Möglichkeit, sofern wir uns dafür entscheiden. Es ist auch deshalb wichtig, weil sonst gar kein schriftliches Urteil verfasst werden muss. Das bekommen wir mit einer Einsprache auf jeden Fall. .
Wie schätzt du das Urteil nun ein?
Die Einschätzung war von Anfang an, dass es ein Angriff ist, der auf Druck des türkischen Staates zu Stande gekommen ist. Wir sind entsprechend nicht überrascht. ‚Gehilfinnenschaft‘ ist ein billiger Trick, er wurde aus dem Ärmel gezaubert. Die Bundesanwaltschaft hat das Gesicht gewahrt, sich nicht lächerlich gemacht, obwohl sie keine Beweise geliefert hat auf der anderen Seite die Türkei zufriedengestellt, „im Namen der Freundschaft unserer Völker“.
Welchen Eindruck haben dir diese Tage hinterlassen?
Die Reaktionen haben mich sehr beeindruckt. Ein Blick auf die Social Media oder unsere Homepage zeigt, dass es eine sehr grosse internationale Zustimmung gegeben hat, eine sehr grosse Solidarität. Es gab zahlreiche militante Aktionen, viele Ideen der solidarischen Grüsse aus Rojava, aus Bashur, aber auch aus europäischen Ländern, wie Spanien, Portugal, Deutschland, Frankreich und Belgien. Solidaritätserklärungen, z.B. von Flintas hier in der Schweiz und in Rojava, es gab auch Graffitis, Transparente, Fotos. Oder ich wurde von der internationalen politischen Presse angefragt, Interviews zu geben. Das alles ist Ausdruck der Solidarität und aufbauend, zeigt, dass Solidarität eine Waffe ist, die stärkt. Im Moment laufen international viele Angriffe gegen die Solidarität mit Rojava. Unsere Meinung dazu ist: Sie greifen eine Person heraus, aber gemeint sind alle. Die Solidarität ist eine Antwort für alle. Und sie ist die stärkste Waffe in der internationalen Bewegung.