Nach dem Erdbeben steigt die Wut auf den Staat – Erdogan ruft Ausnahmezustand aus

Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei, Kurdistan und Syrien sind die Menschen vielerorts bei der Bergung von Opfern auf sich allein gestellt. Staatliche Hilfsgruppen würden oftmals nicht ankommen, kritisieren Betroffene. Hinzu kommt, dass immer deutlicher wird, wie sehr die wirtschaftliche Unterentwicklung und mangelnde präventive Regierungsmaßnahmen für einstürzende Gebäude mit verantwortlich waren. Nun ruft der türkische Regierungschef Erdogan den Ausnahmezustand aus.
Jede Stunde zählt derzeit in den türkischen, syrischen und kurdischen Erdbebengebieten. Gerade weil die Temperaturen oftmals um null Grad liegen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Überlebende unter den Trümmern erfrieren. Mittlerweile sind bereits 8.500 Menschen nach offiziellen Angaben tot geborgen worden. Besonders problematisch ist dabei, dass es an schwerem Gerät fehlt, um Verschüttete frei zulegen. Dabei steigt die Wut auf den Staat, denn dieser stelle genau diese notwendige Hilfe nicht bereit, wie Betroffene kritisieren.

Gegenüber der kurdischen Nachrichtenagentur schildert der Bruder des unter den Trümmern eingeschlossenen Mehmet Gökçek aus der Stadt Bazarcix die Situation mit folgenden Worten: „Uns wird nicht geholfen. Wir wissen, dass sie am Leben sind. Ich war beim Krisendienst und habe sie angefleht, aber es wurde kein Team geschickt. Wir haben die Nacht hier verbracht und bis zum Morgen gewartet. Wir wollen nicht, dass mein Bruder und meine Schwägerin sterben. Ihr Kind fragt, ob sie herausgekommen sind. Ich kann nichts sagen. Die Rettungskräfte sollten uns jetzt helfen. Sie sagen, es gäbe ein Team, aber keine Ausrüstung. Wenn heute keine Hilfe kommt, werden sie sterben. Wir wissen, dass sie noch leben. 24 Stunden können sie überleben. Sie können auch verletzt sein. Mein Bruder ist Diabetiker. Wir haben acht Personen selbst retten können. Die Leute hier halfen uns. Aber wir brauchen professionelle Teams. Sie kommen aber nicht.”

ARD-Korrespondentin Willinger berichtete in den tagesthemen, man habe den ganzen Tag über hier sehr viel Wut und Verzweiflung erlebt: „Gerade eben ist ein junger Mann an uns vorbei gelaufen und hat gesagt, bitte sag vor der Kamera, dass der Staat hier quasi nicht vorhanden ist“. Weiter erklärte sie, dass es „vermutlich nicht nur an der Naturkatastrophe gelegen hat, sondern auch an der Baustruktur.“ Viele Menschen würden sagen, die jetzige Situation sei „menschengemacht.“

Erdogan ruft Ausnahmezustand aus
Am Dienstag hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Ausnahmezustand in 10 von dem Beben betroffenen Provinzen ausgerufen. So wolle er „sicherstellen, dass die Such- und Rettungsarbeiten und die anschließenden Arbeiten schnell durchgeführt werden“.

Zugleich will der Anführer der AKP/MHP-Regierung damit durchsetzen, dass Hilfe nur durch die staatliche Katastrophenschutzorganisation AFAD umgesetzt wird. Die kurdischen Europaverbände KCDK-E und TJK-E befürchten, dass dadurch Hilfe in den kurdischen Gebieten schlechter ankommt als anderswo. Um zu gewährleisten, dass Spenden diese Gebiete auch wirklich erreichen, sollten diese über die humanitäre Non-Profit-Organisation “Heyva Sor A Kurdistanê” (“Der Kurdische Halbmond”) erfolgen.

Der Abgeordnete der linken Partei HDP, Mehmet Rüştü Tiryaki, kritisierte: „Es ist es nicht sehr überzeugend, dass sie einerseits erzählen, dass sie überall hinkommen und gleichzeitig den Ausnahmezustand ausrufen. In Wirklichkeit sind sie nirgendwo angekommen. Als wir durch die Stadt fuhren, hielten uns die Einheimischen für Regierungsbeamte und buhten uns aus. Sie sagten, dass ‘niemand kommt, um uns zu helfen’.“

Zudem würden politische Parteien und Gemeinden sogar daran gehindert, den Überlebenden zu helfen. Vielerorts wurden Spendenaktionen gestoppt oder das gesammelte Geld wurde beschlagnahmt. „Sie hinderten auch Bürger, Parteien, Vereine und Kommunen daran, Hilfe zu leisten. Es ist eine große Ungerechtigkeit, dass sie sowohl die Hilfe verhindern als auch den Überlebenden nicht helfen. Sie verfolgen sie damit doppelt.”, so Tiryaki.

Behörden möchten damit mutmaßlich verhindern, dass linke Organisationen, indem sie selber mit anpacken, das staatliche Missmanagement aufzeigen. Tatsächlich haben kurdische, demokratische und linke Oppositionelle dazu aufgerufen, sich nicht auf den Staat zu verlassen und die Aufräumarbeiten selbst in die Hand zu nehmen.

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