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10 Jahre Urteil zur Sicherungsverwahrung

Dem Gesetzgeber eine Frist bis 31. Mai 2013 gesetzt, neue Bestimmungen zu erlassen. Wie stellt sich aus Betroffenensicht die Situation heute dar?

Zur Geschichte der SV

Mit dem „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ vom 24.11.1933 wurde von den Nationalsozialisten die SV in das Strafrecht aufgenommen. Seitdem können in Deutschland Menschen auch über die eigentlich zugemessene Freiheitsstrafe hinaus inhaftiert werden. Das Oberste Gericht der DDR verbot in den den 50er Jahren die Anwendung der Regelungen zur SV, da diese „faschistischen Ungeist“ atmen würden.

Die Verschärfungen 1998 – 2004

Noch unter der CDU/FDP-Koalition von Helmut Kohl wurde durch Gesetz vom 26.01.1998 die Zehnjahreshöchstfrist für die erstmalig angeordnete SV aufgehoben. Bis dato mussten Verwahrte zwingend nach 10 Jahren Vollzug der SV frei gelassen werden. Nunmehr konnte eine Verwahrung auch darüber hinaus erfolgen, und zwar nicht nur bei neu zu verurteilenden Personen, denn die Neuregelung galt unmittelbar auch für längst in SV einsitzende Menschen.

Im Jahr 2005 wurde auf Bundesebene auch ein Gesetz über die nachträgliche Verhängung der SV eingeführt, das erlaubte, bei Strafgefangenen erst während des laufenden Strafvollzuges die SV anzuordnen. Sollte sich, so die Begründung, nämlich erst während des Vollzugs der Freiheitsstrafe erweisen, dass ein Mensch „gefährlich“ für die Bevölkerung sein, wäre es unverständlich, einen solchen Menschen frei lassen zu müssen.

Die rechtlichen Probleme und nachfolgenden Gerichtsverfahren

Weil die Regelungen gewissermaßen „rückwirkend“ galten, stellte sich schnell die Frage, wie die Verschärfungen mit Artikel 103 Absatz 2 Grundgesetz vereinbar sein sollen. Danach ist nämlich die nachträgliche Verlängerung von Strafen verboten (so genanntes Rückwirkungsverbot). Für jene Betroffenen, deren Urteil oft schon 15 oder mehr Jahre zurück lag, die sich 1998 in SV befanden, stellte sich nämlich die gesetzgeberische Entscheidung als eine Verlängerung der Haft auf unabsehbare Dauer hinaus dar. Das BVerfG machte sich die Sache eher einfach. Es entschied am 05.02.2004 (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2004/02/rs20040205_2bvr202901.html), dass kein Verfassungsverstoß vorliege, denn das Rückwirkungsverbot gelte nur für Strafen. Bei der SV handele es sich jedoch um eine präventive Maßnahme, ihr komme „kein (…) Strafcharakter“ zu, da sie „keine Reaktion auf die in der Anlasstat verwirkte Schuld“ darstelle.

Dem folgte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nicht. Er stellte sechs Jahre später durch Urteil vom 17.12.2009 (und weiteren Urteilen in den Folgejahren) klar, dass die SV durchaus wie eine Strafe ausgestaltet sie und für sie das menschenrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot gelte.

Hieran anknüpfend kamen einige Oberlandesgerichte, wie das in Karlsruhe, zu dem Ergebnis, eine über 10 Jahre hinaus dauernde Vollziehung der SV bei zur Einführung des entsprechenden Gesetzes 1998 schon Verurteilten, sei rechtswidrig, die Urteile des EGMR seien unmittelbar geltendes Recht und zu befolgen. Deshalb seien die Betroffenen frei zu lassen.

Andere Oberlandesgerichte, darunter Köln und Nürnberg, folgten dem nicht. Deren Ansicht nach hätten Urteile des EGMR keine Gesetzeskraft. Gültige Gesetze der BRD müssten befolgt werden, so auch die seit 1998 geltende Regelung zur Streichung der 10-Jahres-Grenze. In den dortigen Bezirken wurden die Betroffenen nicht entlassen. Letztlich musste erneut das BVerfG entscheiden.

Urteil des BVerfG vom 04. Mai 2011

Nach einer mündlichen Anhörung am 08. Februar 2011, bei welcher zahlreiche Sachverständige gehört wurden, kam der 2. Senat des BVerfG zu dem Schluss, die Regelungen würden nun doch die Verfassung verletzen (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2011/05/rs20110504_2bvr236509.html). Es urteilte, dass die meisten Regelungen zur SV verfassungswidrig seien. Eigentlich hätten die Betroffenen deshalb frei gelassen werden müssen. Hierzu wollte sich die Mehrheit der acht RichterInnen nicht durchringen und legte eine Übergangsfrist von 2 Jahren fest, innerhalb derer eine Neuregelung zu schaffen sei.

Einerseits beharrte das BVerfG weiter darauf, dass auf die Regelungen der SV nicht das für Strafen geltende Rückwirkungsverbot anzuwenden sei und distanzierte sich insoweit deutlich von den Urteilen des EGMR, andererseits kam das Gericht nicht umhin zuzugestehen, dass der Vollzugsalltag in der SV weitestgehend von bloßer Verwahrung gekennzeichnet sei, welche nicht ansatzweise dem „Sonderopfer“ (so die Wortschöpfung des BVerfG) der Betreffenden gerecht werde, welche nämlich in einem Gefängnis leben müssen, wiewohl ihre Strafe längst verbüßt sei. Vorsorglich machte des BVerfG dem Gesetzgeber einige Vorgaben, wie künftig der Vollzug auszugestalten sei (zu den Details Absätze 111 ff in dem Urteil vom 04.05.2011).

Reformen zum 01. Juni 2013

Tatsächlich setzten der Bund und die 16 Länder zum 01.06.2013 zahlreiche neue Regelungen in Kraft. Konnte zuvor SV bspw. auch wegen Betrugs oder wegen Einbrüchen verhängt werden, fielen diese Delikte vollständig aus dem Katalog der SV heraus. In der Regel darf die SV nur wegen schwerer Gewalt- oder Sexualtaten angeordnet, bzw. vollstreckt werden.

Mehrere Bundesländer, darunter Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, bauten für teilweise zweistellige Millionenbeträge neue Hafthäuser, in welchen die Zellen nicht mehr über eine offene WC-Schüssel in der 8 m² kleinen Zelle, sondern einen abgetrennten Nassbereich, teilweise mit Dusche, verfügten, sowie einen Herd und sich die Größe auf über 20 m² fast verdreifachte. Auch die Hofareale wurden vergrößert, vor allem wurde das Personal aufgestockt. Konnte noch vor der Reform der damals für die Betreuung der Freiburger Verwahrten zuständige Sozialpädagoge Herr Görzel in einem Fachaufsatz, zusammen mit seinem Kollegen, berichten, sie gemeinsam hätten ½ Stelle für die Betreuung der Untergebrachten, also jeder der beiden ¼ Stelle, ist heute der Personalschlüssel bei ca. 1:16. Das bedeutet, ein/e Sozialarbeiter/in, bzw. Psychologe/in ist für rund 16 Untergebrachte zuständig (nur zum Vergleich: Im Strafvollzug sind Personalschlüssel von 1:90 und mehr üblich).

Angeboten werden Maltherapie, Bewegungstherapie, Einzel- und Gruppentherapien, sowie eine „milieutherapeutische“ Begleitung im Haftalltag.

Perspektive von Untergebrachten

Es gibt nicht nur die/den exemplarische/n Untergebrachte/n (wie es unter den fast 600 Sicherungsverwahrten fast nur Männer gibt. Aktuell werden in Frankfurt a. M. und in Schwäbisch Gmünd jeweils eine Frau verwahrt), deshalb finden sich unter den Betroffenen auch jene, die begrüßen, dass sich, manchmal erstmals in ihrem Leben ein ganzer Stab von Menschen um sie, ihre Sorgen, Nöte und Befindlichkeiten bekümmert.

Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich jedoch berichten, dass ein wohl wesentlich größerer Teil der Verwahrten ziemlich hoffnungs- und perspektivlos in die Zukunft blickt, zumindest was eine baldige Freilassung angeht. So befinden sich mittlerweile über 20 % der Freiburger Insassen über 10 Jahre in der SV, obwohl eigentlich die Vollstreckung über 10 Jahre hinaus die absolute Ausnahme bleiben sollte.

Allerdings sprach das BVerfG schon in seinem Urteil von 2004 davon, es gebe die „hoffnungslos Verwahrten“, welche also bis zum Tod nicht freigelassen werden würden (welchen man deshalb „einen Rest an Lebensqualität“ zu gewährleisten habe).

Zu welch destruktiven Entwicklungen die Situation führt, zeigt exemplarisch die Lage in der JVA Freiburg, wo vor Ostern 2020 zwei Verwahrte, im Alter von 36 und 37 Jahren, in die Zelle eines Mitverwahrten eingedrungen und diesen misshandelt haben sollen. Angeklagt wurden sie dann zusätzlich wegen versuchten Mordes, denn es kam der Verdacht auf, sie hätten die Vergiftung eines Untergebrachten geplant und Rattengift in dessen Tiefkühlgemüse eingebracht. Die beiden Angeklagten hatten seit langem versucht, in andere Bundesländer verlegt zu werden, um dort einen Neuanfang zu versuchen, denn durch ihre Vollzugsgeschichte sahen sie hier in Baden-Württemberg keine Zukunft für sich. Es steht deshalb die Möglichkeit im Raum, dass sie durch die Aktion die Verlegung faktisch erzwingen wollten (so wie es im Jahr zuvor Herrn W. gelang. Er schlug im Hof einen Mitinsassen nieder und wurde einige Monate später tatsächlich in ein anderes Bundesland verlegt).

Wer will, kann es sich einfach machen und die beiden Angeklagten als „durchgeknallte Typen“ sehen, und den Mantel des Schweigens darüber breiten. Aber anstatt nur den individual- symptomatischen Teil des Verhaltens in den Blick zu nehmen, erscheint mir der symbolhafte-strukturelle Anteil ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger. Die Verzweiflung von vielen der Bewohner scheint mir nämlich mit Händen greifbar zu sein, Verzweiflung darüber, nur noch eine endlos lange Verwahrung und womöglich gar den Tod hinter Gittern vor sich sehend und dennoch leben zu müssen. Kamen früher Menschen in der SV an, wenn sie dem Rentenalter näher waren als noch dem letzten Schulbesuch, so landen heutzutage 28-jährige, 30-jährige, 35-jährige in den SV-Trakten, also eine viel jüngere Generation. Sie trifft zwar auf ein „multiprofessionelles Behandlungsteam“ (wie das heute in der Elendsverschleierungsindustrie des Justizvollzuges genannt wird), dessen Arbeit jedoch de facto aus der Verwaltung des Elends besteht und nicht in der Schaffung einer lebensbejahenden und realistischen Perspektive auf eine zeitnahe Rückkehr in die Freiheit.

Sie treffen auf ein Klima, das von Verwahrung, Krankheit, Siechtum und Tod gekennzeichnet ist, wo zudem kleinlichste Regelungen, wie sie jedem gefangenen Menschen aus dem Strafvollzug bekannt sind, den Alltag beherrschen (ich berichte darüber auf meinem Blog seit 2013).

Sie treffen auf Bedienstete, die resigniert haben oder mit den eigenen desolaten Karriere-Chancen beschäftigt sind, die sich, zumal wenn sie zum uniformierten Dienst gehören, von den studierten „Team-Mitgliedern“ vielfach nicht ernst genommen fühlen. Oder auf Studierte, die ganz offen bekunden, dass eigentlich viel zu viel Geld in den Bereich SV gepumpt und damit verschwendet werden würde. Geld, das besser in Altenheimen oder Kindergärten aufgehoben wäre.

Einem Insassen wurde sogar angeraten, er könne sich ja, wenn er weiter unzufrieden sein, in seiner Zelle aufhängen. Wie die Therapeutin später betonte, habe es sich bei ihren Hinweis mit dem „aufhängen“ um eine „paradoxe Intervention“ gehandelt, eine in der Literatur und Praxis sehr anerkannte Interventionstechnik.

Das mag ein Einzelfall sein, wirkt jedoch fort, denn es ist symptomatisch für das Gesamtklima im Bereich der SV. Dem Gefühl der inneren Verwüstung, für das vielen der Einsitzenden die Sprache fehlt sie auszudrücken, tritt eine verwüstende Struktur entgegen. Struktur deshalb, weil in ihr nicht nur die Beschäftigten vor Ort wirken, sondern die Aufsichtsbehörden ebenso wie die gesetzlichen Regeln und zuletzt auch die Gesellschaft, die nicht willens erscheint, etwaige Risiken in Kauf zu nehmen und absolute Sicherheit zur obersten Maxime erhoben wird.

Wo aber die Höhlenbewohner auf Jahre hinaus, den Tod im Blick, in den seit dem 01.06.2013 tatsächlich auf gesetzliche Bestimmung hin „Zimmer“ genannten Zellen hausen, leiden diese Kinder des Todes nicht nur an sich selbst. Denn ihre Mitmenschen bilden für sie den Hintergrund einer niemals enden wollenden seelischen Qual. Sie richten sich ihr Zuhause ein, an einem Ort, wo es kein Zuhause gibt, sie müssen leben, wo es kein Leben mehr gibt.

Es genügt nicht, auf jene Verwüstungen zu verweisen, die sie selbst zuvor zeitlebens angerichtet haben, denn dafür haben sie ihre Freiheitsstrafen verbüßt! Hegel sprach von der Strafe als „Negation der Negation“. Durch die Straftat werde die Norm, letztlich die Gesellschaft „negiert“, und die Strafe negiere ihrerseits diese Negation. Die Verwahrung in der SV geht jedoch weit über diese „Negation der Negation“ hinaus.

Was gemildert werden würde, nähmen Gesellschaft, Politik und Justiz die Vorgaben des BVerfG wirklich ernst, würden also den Vollzug der SV freiheitsorientiert ausrichten, würden den Vollzugsalltag weitestgehend, in praktischer wie auch technischer Hinsicht (z.B. Zugang zu Computern, Internet) dem Leben in Freiheit angleichen. Würden durch tägliche oder zumindest wöchentliche Ausführungen vor die Mauern den Bezug zum Leben dort erhalten sich bemühen. Aber in der Praxis führt es Anstalten schon an die absoluten Leistungsgrenzen, die vier Ausführungen auf welche ein Rechtsanspruch besteht, durchzuführen. In Niedersachsen gewährte der Landtag zu Anfang davon sogar 12 im Jahr, bis man merkte, der Aufwand sei doch relativ groß. So kürzte man die Zahl auf vier pro Jahr.

Bei alledem war noch gar nicht von dem (biologistisch-deterministischen) Menschenbild, welches hinter der SV steht, die Rede. Der schon vor der Zeit der Nationalsozialisten gültigen Vorstellung vom „geborenen Verbrecher“, der genetisch-biologisch determiniert sei. Subkutan zieht sich diese Vorstellung durch die Jahrzehnte, bis heute. Da ist die Rede von „parasitären Lebensstilen“, von „psychopathischen“ Persönlichkeiten und noch mehr, was eben die einschlägigen psychiatrischen Diagnosemanuale an bunten Begrifflichkeiten so hergeben, und an welchen die Betroffenen nahezu auf Lebenszeit festgehalten werden.

Ja, die Lebensbedingungen heute sind qualitativ etwas besser als vor der Reform 2013, aber nicht ansatzweise mögen sie den Verlust der Freiheit zu kompensieren, noch die seelisch verwüstenden Lebensumstände, welche Menschen geradezu zu destruktiven Handlungen zu treiben scheinen.

Finanziell, personell wie organisatorisch löste das Urteil des BVerfG von vor 10 Jahren viel Aufwand aus. Es gab sogar Betroffene, die Hoffnung schöpften, dabei auch unterstützt von ihren RechtsanwältInnen. Davon ist heute, 10 Jahre später, wenig bis nichts geblieben!

Thomas Meyer-Falk, c/o JVA (SV), Hermann-Herder-Str. 8, 79104 Freiburg

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