Antifa Ost Prozess am Ende: Erster Teil.

Nach über 90 Verhandlungstagen wird das sogenannte Antifa Ost Verfahren vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Dresden Ende April oder Anfang Mai zu Ende gehen. Voraussichtlich wird das Urteil am 3. Mai 2023 gesprochen werden. Addn wird die letzten Gerichtstermine ausführlich begleiten. Dafür sollen in diesem zweiteiligen Artikel noch einmal die verschiedenen Vorwürfe und der Verfahrensstand aufgearbeitet werden.

Die Anklage setzt sich aus mehreren Punkten zusammen: einerseits den neun einzelnen Tatkomplexen, für die jeweils eine Beteiligung der Angeklagten nachgewiesen werden muss. Andererseits ist der zentrale Punkt die Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB selbst. Bei letzterem muss lediglich die Mitgliedschaft, Werbung oder Unterstützung nachgewiesen werden, ohne dass einer der weiteren Anklagepunkte zwangsläufig erfüllt sein müsste.

Tatkomplex „Enrico B.“

Der erste Tatkomplex ist der Angriff auf den ehemaligen NPD-Stadtrat Enrico Böhm aus Leipzig. Dieser wurde im Oktober 2018 vor seiner Haustür in Leipzig-Gohlis von mehreren Personen zusammengeschlagen. Mehrere Zeug:innen sagten hinterher aus, sie seien der Meinung, eine vermummte Frau in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben. Ein entsprechendes Phantombild, welches aber wenig mehr als die Augenpartie zeigte, wurde vor Gericht behandelt. Außerdem fand die Spurensicherung in der Nähe des Tatortes eine verknotete Plastiktüte. An dieser wurde eine DNA-Mischspur von mindestens vier Personen gesichert. In dieser Spur sind laut Anklage auch Anteile der Angeklagten Lina enthalten. Der angegriffene Böhm sagte in seiner Zeugenaussage am OLG, „es waren vier männliche Täter.“

Nach einer umfangreichen Beweisaufnahme, die die Verteidiger:innen angestoßen hatten, erteilte der Vorsitzende Richter vor einigen Wochen einen rechtlichen Hinweis an Lina. Diesem zufolge käme in ihrem Fall eine Verurteilung wegen Beihilfe zu einer gefährlichen Körperverletzung in Betracht. Zwar könne nicht davon ausgegangen werden, dass sie an der Tat beteiligt gewesen sei. Sie könne sich jedoch als Mitglied der angeklagten Vereinigung mittelbar beteiligt haben. Die DNA-Spur sei vermutlich lange vor der Tat und ohne Kenntnis der konkreten Tatumstände gelegt worden, etwa beim Verpacken von Tatmitteln.

Tatkomplex „Cedric S.“

Am 20. Oktober 2018 wurde Cedric Scholz, mutmaßlicher Kader der Jungen Nationalisten, an seinem Wohnort in Küren bei Wurzen von mehreren Personen angegriffen. Das Hauptindiz in diesem Komplex ist ein USB-Stick, der bei einer Hausdurchsuchung gefunden wurde. Auf ihm befanden sich Bilder der Ortschaft Küren. Laut Metadaten wurden sie zu einer Uhrzeit gemacht, zu der auch der spätere Angriff passierte. Die Anklage vermutet eine Ausspähungshandlung. Diese wird inzwischen einer weiteren Beschuldigten, die noch nicht angeklagt worden ist, zur Last gelegt. Das LKA Sachsen hatte versucht, zu rekonstruieren, aus welchem ​​Fahrzeug die Fotos aufgenommen worden waren. Die Ermittlungen ergaben eine mögliche Übereinstimmung mit einem Fahrzeug, dass der Beschuldigten¹ im Rahmen ihrer Arbeitstätigkeit zur Verfügung gestanden haben soll. Ein Mitarbeiter der Firma gab an, das Armaturenbrett wieder zu erkennen. Weitere Beweise oder Indizien gibt es in diesem Komplex nicht.

Der Journalist Edgar Lopez hat das Verfahren auf Twitter begleitet.
Tatkomplex „Kanalarbeiter“

Anders als die meisten Taten verlief ein Angriff auf einen in Leipzig-Connewitz eingesetzten Kanalarbeiter. Während seiner Arbeitszeit war dieser von mehreren Vermummten mit Schlagwerkzeugen attackiert worden. Die Anklage geht von einer spontanen Tat, der sonst geplant arbeitenden kriminellen Vereinigung aus.

Zur Tatzeit trug er eine Mütze des nazistischen Labels „Greifvogel Wear“. Nach eigener Aussage ist sie dem Geschädigten vor Jahren von einem Bekannten geschenkt worden, er selbst sei unpolitisch. Sein Arbeitskollege sagte aus, dass ihn eine vermummte Person während des Angriffs angesprochen habe, er solle sich ruhig verhalten. Die Stimme habe er als weibliche wahrgenommen.

In einem anderen Verfahren gegen einen der Angeklagten am OLG hat die Polizei über mehrere Monate dessen PKW abgehört. In einem Gespräch stießen die ermittelnden Beamt:innen aus Berlin auf einen Satz, den sie meinten, dem in Sachsen geführten Antifa Ost Verfahren, zuordnen zu können. Laut Anklage handelt es sich um ein Bekenntnis zu dem Angriff in Leipzig-Connewitz.

Ein lange in Dresden wohnhafter Neonazi hat die Marke Greifvogel Wear gegründet.
Tatkomplex „Eisenach I“

Im thüringischen Eisenach wurde am 19. Oktober 2019 die Kneipe „Bull’s Eye“ des Neonazis Leon Ringl durch mehrere Personen angegriffen. Leon Ringl sitzt derzeit selbst in Untersuchungshaft wegen mehrerer Vorwürfe im Zusammenhang mit der Gründung und Unterstützung krimineller und terroristischer Vereinigungen. Er und weitere Geschädigte des Angriffs sind organisierte Neonazis, die maßgeblich für faschistische Aufmärsche und Angriffe in Eisenach und Thüringen verantwortlich sind.

Einerseits bezieht sich die Anklage maßgeblich auf die Aussagen dieser Personen zu ihren Erlebnissen am Tatabend. Mehrere Kneipengäste wollen eine Frauenstimme unter den Angreifer:innen erkannt haben, welche die Anklage mit Lina verknüpft. Ein Zeuge und Freund des Kneipenbesitzers beobachtete die Personengruppe vor dem Etablissement, verstrickte sich bei seiner Aussage aber in starke Widersprüche. In diesem Zusammenhang wird Leon Ringl die Beeinflussung des Zeugen vorgeworfen.

Des Weiteren gibt es eine Überwachungsaufnahme von einem angrenzenden Grundstück, die allerdings wenig mehr als eine verschwommene Personengruppe zeigt. Maßgeblich für die Zuordnung zur kriminellen Vereinigung ist für die Bundesanwaltschaft eine am Tatort gefundene DNA-Spur eines im selben Verfahren gesondert verfolgten Beschuldigten. Aus der Anwesenheit dieses Mannes und der mutmaßlichen Sichtung einer Frau am Tatort, kam auch hier die Verbindung zu Lina zu Stande.

Hingegen konnte die Verteidigung für einen der Angeklagten ein Alibi vorlegen, welches die Bundesanwaltschaft selbst ermittelt hatte, ohne es jedoch den Akten im hiesigen Verfahren beizufügen. Außerdem wurde auch für einen zweiten Angeklagten ein zumindest mittelbares Alibi vorgelegt. Auch hier geht es erneut um Abhörmaßnahmen in einem PKW. Durch Nachforschungen seitens der Polizei ist dies mittlerweile weitgehend bestätigt worden.

Weiter geht es in unserem zweiten Teil mit den weiteren Anklagepunkten, bevor voraussichtlich Mitte/Ende April 2023 die Bundesanwaltschaft, die Nebenklage und die Verteidigung ihre Plädoyers beginnen werden. Die letzten Verhandlungstage finden im Hochsicherheitssaal auf dem Hammerweg, wenn nicht anders verfügt ab 9:30 Uhr, immer mittwochs und donnerstags statt. Besucher:innen müssen Leibesvisitationen über sich ergehen lassen und einen gültigen Reisepass oder Personalausweis vorlegen.

¹ Die Zahl der Beschuldigten und Angeklagten in diesem und anhängigen Verfahren beträgt mittlerweile um die 20 Personen. Im Text wird unterschieden zwischen Angeklagten, die derzeit in Dresden auf der Anklagebank sitzen und Beschuldigten. Diese sind werden ebenso nach § 129 StGB verfolgt, sind aber noch nicht angeklagt.