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Aufklärung unerwünscht

Der Mord an der Heilbronner Polizistin Michèle Kiesewetter wirft neue Fragen über die staatliche Verstrickung im NSU-Komplex auf

Am 25. April 2007 waren die beiden Polizeibeamten, Michèle Kiesewetter und Martin A. »im Rahmen des sogenannten Konzeptionseinsatzes ›Sichere City‹ zusammen mit weiteren Kollegen der Bereitschaftspolizei in Heilbronn (eingeteilt). Es gab keinen konkreten Auftrag für die Beamten, die ab 13.00 Uhr auf Streife gewesen sind. Sie sollten in der Heilbronner Innenstadt polizeiliche Präsenz zeigen und Kontrollen von verdächtigen Personen und Fahrzeugen durchführen«, hieß es im darauffolgenden Bericht der Polizei Heilbronn. Über den Ablauf der tödlichen Ereignisse gab die Polizei weiter bekannt, daß die beiden Beamten auf der Theresienwiese eine Mittagspause gemacht hatten, als sie gegen 13.55 Uhr von unbekannten Tätern angegriffen wurden. Martin A. wurde schwerverletzt, die Beamtin Michèle Kiesewetter verstarb noch am Tatort.

Über die Motive der unbekannten Täter wurde in der Zeitungslandschaft spekuliert. Mal waren die verschwundenen Dienstwaffen das Motiv, woanders wurde über Verwicklungen von Polizeibeamten in kriminelle Geschäfte gemunkelt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb am 8. November 2011: »Die Fahnder leuchten viele Milieus aus. Mal suchen sie die Täter unter Obdachlosen, dann in den Zirkeln der organisierten Kriminalität, auch Sinti- und Roma-Familien werden in den Blick genommen. Von einem Fall simpler Beschaffungskriminalität ist auch immer einmal wieder die Rede. Für einen rechtsextremistischen Hintergrund gab es nie Hinweise, zumindest wurden sie von der Polizei nicht öffentlich gemacht.« Nicht viel später stellt sich das Phantom, das man wochenlang suchte, als eine Ente heraus. Die Wattestäbchen, die die Polizei zur Aufnahme von Spuren am Tatort verwendeten, sollen durch die DNA eine Mitarbeiterin der Herstellerfirma verunreinigt worden sein. Danach verschwand der Fall aus den Schlagzeilen.

Fehlgeleitete Ermittlungen

Lange galt der Mordanschlag auf die beiden Polizisten als unaufgeklärt. Dann kam die überraschende Wende. Im ausgebrannten Campingwagen der beiden Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU), Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die sich dort am 4. November 2011 das Leben genommen haben sollen, werden neben zahlreichen anderen Waffen, auch die verschwundenen Dienstpistolen gefunden. Damit scheint bewiesen zu sein, daß der Mord in Heilbronn 2007 ebenfalls auf das Konto des NSU geht. Als Motiv wird ein Anschlag auf »zwei Repräsentanten des Staates« genannt, was suggerieren soll, daß die Polizeibeamten zufällig als Opfer ausgesucht wurden.

Warum sollten NSU-Mitglieder wahllos Polizisten ermorden und das ausgerechnet in baden-württembergischen Heilbronn? Warum sollen NSU-Mitglieder plötzlich etwas machen, was sie neun Jahre nicht getan haben? Fragen, die doch naheliegend sind und von den Ermittlern bisher weder gestellt, geschweige denn beantwortet wurden. Bei einem Anschlag auf Polizisten darf man davon ausgehen, daß nicht »Pannen« die Ermittlungen bestimmen und leiten, sondern der unbedingte Wille, den Mordanschlag auf Kollegen aufzuklären. Während bei den Morden an Kleinunternehmern mit größtmöglichem Aufwand in die falsche Richtung ermittelt wurde, sollte man in diesem Fall davon ausgehen, daß mit allem, was der Polizeiapparat bietet, in die richtige Richtung ermittelt, daß jeder Spur nachgegangen wird, wenn sie nur die geringste Chance bietet, zu den Tätern zu führen. Umso überraschender ist der Aufwand, mit dem auch in diesem Fall die Verhinderung der Aufklärung betrieben wurde. Ein Umstand, der fürs erste schwer zu erklären ist.

Fügt man die Details zusammen und rekonstruiert so das Ereignis mit den Hinweisen, die man bis heute hat, ergibt sich ein Bild, das sich gravierend von dem 2007 veröffentlichten unterscheidet: Die beiden Polizeibeamten hatten ihre Mittagspause nicht auf der allseits beliebten Theresienwiese gemacht. In der Internetzeitung Kontext vom 19. Juni 2013 heißt es dazu: »Die Heilbronn-Ermittler sagen, Kiesewetter und ihr Kollege wurden erschossen beziehungsweise verletzt, als sie auf der Theresienwiese in Heilbronn Mittagspause machten. Die Bewegungsdaten der beiden Beamten an jenem Tag sagen möglicherweise anderes. Danach machten sie bereits um 11.30 Uhr an dem Trafohaus auf dem Festplatz eine Pause. Anschließend fuhren sie zu einer Schulung ins Polizeipräsidium. Um 13.45 Uhr machten sie sich von dort wieder auf den Weg mit direktem Ziel Theresienwiese, wo sie etwa um 13.55 Uhr eintrafen. Kurz danach wurden sie angegriffen. Waren sie vielleicht sogar mit den Tätern verabredet?«

Auch ein weiterer Umstand stellt sich anders dar. Bisher ließ man die Öffentlichkeit wissen, daß es keine Hinweise gab, die zu den möglichen Tätern führten. Sowohl Polizei als auch die ermittelnde Staatsanwaltschaft wußten es besser: Martin A. wurde schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Als er in der Lage war, sich an das Geschehene zu erinnern, schilderte er, daß er eine Person im Rückspiegel gesehen habe, bevor er von dieser schwerverletzt wurde.

Mit Hilfe seiner Erinnerungen wurde ein Phantombild erstellt – was für eine Fahndung nach den möglichen Tätern mehr als hilfreich ist. Dann passierte wieder etwas Ungewöhnliches: Das Phantombild wurde nie veröffentlicht. Man ließ es verschwinden und folgte statt dessen mit Hingabe der Wattestäbchenspur.

Die Südwest Presse berichtete am 10. Juni 2013 über die ausgebliebene Fahndung mit den einzigen konkreten Hinweisen: »Die Redaktion (der Südwest Presse, W.W.) konnte in die geheimen Ermittlungsakten zum Polizistenmord ­blicken: Die Zeugen berichten von bis zu sechs Tätern – tatsächlich paßt keines der Phantombilder zu Böhnhardt, Mundlos oder Zschäpe. Es sind Aussagen und Phantombilder abgedruckt, die vom Polizisten Martin A. stammen – dabei wird von den Behörden kommuniziert, er könne sich nicht an die Tat erinnern. Im geheimen Bericht der Sonderkommission ›Parkplatz‹ ist vermerkt, A. habe ›klare und konkrete Erinnerungen‹.«

Auch Kontext hatte Einblick in die Ermittlungsakten und kommt in einem Beitrag vom 19. Juni 2013 ebenfalls zu dem Schluß: »Das Bild, das nach Angaben von Martin A. von dem Mann erstellt worden war, der sich den beiden Polizisten auf seiner Wagenseite näherte, zeigt weder Mundlos noch Böhnhardt. Auch die anderen Phantombilder, die die Polizei aus Zeugenaussagen erstellen ließ, ähneln den beiden Männern nicht.«

Wenn Ermittler Spuren und Hinweisen nicht nachgehen, die den Mordanschlag an Kollegen aufklären können, wenn sie ihren eigenen Kollegen entmündigen, dann handelt es sich nicht um eine Panne. Es müssen Umstände sein, die schwerer wiegen als eine tote Polizistin und ein schwerverletzter Kollege.

»Krokus« und der Fall Kiesewetter

Allein die hier vorliegenden Indizien sind von einer Brisanz, die das ganze Konstrukt vom »Zwickauer Terrortrio«, von einer neonazistischen Terrorgruppe aus exakt drei Mitgliedern, ad absurdum führen würde: Mit den Phantombildern könnte belegt sein, daß an dem Mordanschlag auf die beiden Polizisten mehr als die bisher benannten Mitglieder des NSU beteiligt waren – jenseits der Frage, wo sich Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zum Zeitpunkt der Tat aufgehalten hatten. Diese Annahme wird durch Aktenvermerke erhärtet, wonach Zeugen gesehen haben, daß sich ein blutverschmierter Mann in der Nähe des Tatorts zu einem Audi 80 geschleppt und dabei dem Fahrer etwas zugerufen habe, was dem osteuropäischen Sprachraum zugeordnet wurde.

Für die Annahme, daß bei dem Mordanschlag mehrere als die bekannten NSU-Mitglieder beteiligt waren, spricht ein weiteres Indiz. Für den Mordanschlag wurden zwei Pistolen benutzt: eine »Tokarew« aus russischer und eine »Radom Vis« aus polnischer Herstellung.

Warum sollten die namentlich bekannten NSU-Mitglieder diese Waffen benutzt haben? Bei den neun zuvor begangenen Morden wurde ausschließlich ein und dieselbe Waffe benutzt –, so die offiziellen Ermittlungen: eine Pistole des Fabrikats »Ceska 83«. Was sonst niemand macht – nicht einmal Kleinkriminelle – sollen die mit den Regeln der Konspirativität bestens vertrauten NSU-Mitglieder getan haben: Sie führten das Beweismittel, das ihnen lebenslange Haft garantiert, bis zuletzt mit sich – als »Visitenkarte«, so die fachkundigen Polizeipsychologen. Warum haben sie ausgerechnet bei einem Angriff auf »zwei Repräsentanten des Staates« auf diese »Visitenkarte« verzichtet?

Auf den ersten Blick erscheint es widersinnig, daß Polizei und Ermittler nicht jeder verdächtigen Spur, nicht jedem Tatverdacht folgten. Es kann nicht an den vielen tatrelevanten Spuren liegen. Die einzige plausible Erklärung kann daher nur sein, daß am Ende dieser Spuren Personen und Zusammenhänge stehen, die man – aus welchen Gründen auch immer – schützen will und muß.

Fakt ist, daß es für eine unmittelbare Beteiligung von Mundlos und Böhnhardt weder Beweise noch hinreichende Indizien gibt. Die Hinweise und Spuren, die es gibt, weisen auf andere Täter hin, die es nach Diktion der Generalbundesanwaltschaft und nach dem Urteil der Mainstreammedien nicht geben darf.

Das würde jedenfalls den geradezu kafkaesken Umgang mit der V-Frau »Krokus« erklären, die seit einem Jahr darum ringt, nicht länger als V-Frau des Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg verleugnet zu werden. Für gewöhnlich schützen Geheimdienste ihre V-Leute. In diesem Fall fühlt sich die Frau sowohl vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Baden-Württemberg als auch von Neonazis, die sich von ihr verraten fühlen, bedroht. Der Grund ist einfach und gefährlich: Sie ist eine Quelle, die es nicht geben darf.

Für die Öffentlichkeit und die verschiedenen Untersuchungsausschüsse gab es die V-Frau »Krokus« jahrelang nicht, obwohl sie nach ihrer Auskunft seit Oktober 2006 für den Verfassungsschutz in Baden-Württemberg gearbeitet hatte. Angesetzt war sie auf Neonazis. Ihr Zugang zur Szene rund um Schwäbisch Hall bekam sie durch einen »unglücklichen« und »ärgerlichen« Umstand: Ihre langjährige Freundin liierte sich mit einem führenden Neonazi dieser Gegend, dem NPD-Funktionär Matthias Brodbeck. Der Umstand, daß »Krokus« selbst nicht zur Neonaziszene gehörte, war für das LfV geradezu ideal: Informationen wurden als vertrauenswürdig und sicher eingestuft, wie Spiegel online am 13. Juni 2013 berichtete: »›Dem Grunde nach handelt es sich bei Informant ›Krokus‹ um die ›geborene Quelle‹. Sie ist zuverlässig, verschwiegen und überaus einsatzwillig (…)‹, heißt es in einem vertraulichen Papier. Die V-Frau wurde intern stetig besser beurteilt, von Glaubwürdigkeitsstufe F bis hinauf zur zweitbesten Bewertung B.«

Dank dieses persönlichen Zugangs konnte »Krokus« sehr detaillierte Berichte und Mitteilungen über die Neonaziszene machen. Den sicherlich größten Fund machte sie, als sie wenige Tage nach dem Mordanschlag auf die beiden Polizisten in Heilbronn ihrem V-Mann-Führer berichtet haben will, daß es einer Neonazifrau gelungen war, den geheimgehaltenen Ort des schwerverletzten Polizeibeamten Martin A. herauszubekommen. Diese Frau arbeitete als Krankenschwester im Krankenhaus in Ludwigsburg, wo der Angeschossene zuerst untergebracht worden war.

Daß dieser Hinweis so zuverlässig und glaubwürdig war, wie ihre Informationen zuvor, unterstreicht ein weiteres Indiz, das Kontext in einem Beitrag vom 19. Juni 2013 benennt: »Auf der bekannten Adreßliste des NSU-Mitglieds und mutmaßlichen Mörders Uwe Mundlos, die 1998 in der Garage in Jena gefunden, aber nie ausgewertet wurde, sind mehrere Namen aus Ludwigsburg aufgelistet. Darunter eine Frau, die tatsächlich als Krankenschwester im Klinikum Ludwigsburg gearbeitet hat.«

Die Bedeutung dieser Mitteilung liegt auf der Hand: »Krokus« würde bezeugen können, daß der Verfassungsschutz frühzeitig davon wußte, daß Neonazis in den Mordanschlag in Heilbronn verwickelt waren. Von genau dieser Spur wollen aber die Ermittlungsbehörden bis heute nichts gewußt haben.

Nachdem »Krokus«, zwischenzeitlich im Ausland Schutz suchend, hartnäckig und nicht nachlassend ihr Wissen gegen die Mauern des Schweigens der Ermittler und Aufklärer warf, tat sich in letzter Minute ein Hauch von Aufklärungswillen auf: Der in Berlin tagende Parlamentarische Untersuchungsausschuß (PUA) über den NSU wollte seine Tätigkeit abschließen. Er verlängerte schließlich Mitte Mai 2013 seine Tätigkeit, und forderte die Akten zum Fall »Krokus« an.

LfV stellt sich ahnungslos

Wie sehr die Verfolgungsbehörden bis heute mit der Nichtaufklärung der NSU-Mord- und Terrorserie beschäftigt sind, belegt der Umgang mit den Akten zu der V-Frau »Krokus«. Obwohl diverse Untersuchungsausschüsse auf Landes- und Bundesebene alle Unterlagen angefordert hatten, die zur Aufklärung beitragen könnten, händigte das LfV Baden-Württemberg am 27. August 2012 nur »einige Akten«, die die Tätigkeit der V-Frau »Krokus« betreffen, an den PUA aus. Dieser setzte nach und forderte das LfV Baden-Württemberg letztmalig auf, alle Unterlagen auszuhändigen. Aus der vormaligen Nichtexistenz von »Krokus« wurden letztlich mehr als neun Akten.

Über die Unterschlagung von möglichen Beweismitteln, über die sukzessive Zusendung von angeforderten Unterlagen äußerte sich der FDP-Bundestagsabgeordnete Hartfrid Wolff in der Waiblinger Kreiszeitung vom 15. Juni 2013 geradezu sizilianisch: »Warum so spät? Das versteh’ ich nicht. Oder ich will’s nicht verstehen müssen. Weil ich das mögliche Motiv, das dahinterstehen könnte, gar nicht aussprechen mag.« Auch wenn es ein wenig keck klingt, was dieser FDP-Bundestagsabgeordnete sagen möchte, indem er es nicht sagt: Genau dies wäre sein Auftrag, dem nachzugehen, was er nicht aussprechen mag.

Der Untersuchungsausschuß verlängerte jedenfalls seine Tätigkeit um zwei Sitzungen, um anhand der vorliegenden Akten verschiedene Zeugen zur V-Frau »Krokus« zu befragen. Bevor es dazu kam, brachten sich die verschiedenen Behördenchefs in Stellung, um ihre Ahnungslosigkeit mit der ihrer Untergebenen abzugleichen: So ließ die Verfassungsschutzpräsidentin Baden-Württembergs, Beate Bube, in der Stuttgarter Zeitung vom 18. Mai 2013 verbreiten, »ihre Behörde habe über keine eigenen Quelleninformationen über das Treiben des Trios in Baden-Württemberg verfügt. ›Der Verfassungsschutz sitzt nicht auf jedem Sofa.‹ Man habe lediglich seit 1998 aus Thüringen gewußt, daß nach Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gefahndet werde. Von der Garagenliste habe ihr Amt erst Ende vergangenen Jahres erfahren. Eine Adressenliste, die 1998 in der Garage von Mundlos gefunden worden war, enthielt auch Namen aus Baden-Württemberg. Hinweise, laut denen nach dem Anschlag auf zwei Polizisten in Heilbronn im Jahr 2007 aus der rechten Szene nach dem Zustand des schwerverletzten Beamten geforscht worden war, bezeichnete die Verfassungsschutzpräsidentin als ›frei erfunden‹.«

Während das Führungspersonal sich wieder ahnungslos stellte, wußte es hingegen der Presse zu berichten, daß das Leben des V-Mann-Führers Öttinger, der vor dem PUA in Berlin seine Kenntnis über die von ihm geführte Quelle »Krokus« darlegen sollte, in größter Gefahr sei: »NSU-Prozeß: Verfassungsschutz fürchtet um Leben eines V-Mann-Führers«, vermeldeten die Stuttgarter Nachrichten am 21. Juni 2013.

Die Zeitung beruft sich im selben Artikel auf ein dem Blatt vorliegendes Schreiben der grün-roten Landesregierung an den NSU- Untersuchungsausschuß des Bundestages. »Demnach befürchtet der baden-württembergische Verfassungsschutz, daß vor allem Alexander Gronwald, der Lebensgefährte der früheren LfV-Informantin mit dem Decknamen ›Krokus‹, dem Verfassungsschutzmitarbeiter ›Öttinger‹ nach dem Leben trachtet. Gronwald versuchte 2004 ehemalige Soldaten der Bundeswehr für einen Einsatz als Söldner in Ghana zu gewinnen. In sozialen Netzwerken gibt er vor, britische Loyalisten und deutsche Faschisten eliminieren zu wollen. Sicherheitsbehörden schreiben dem Mann zudem Kontakte in die Rockerszene zu. Das seit etwa 2010 liierte Pärchen Gronwald/Krokus hatte in den vergangenen Monaten in zahlreichen E-Mails an Politiker, Behörden und Journalisten seine Sicht der sogenannten NSU-Mordserie dargestellt. Viele Abgeordnete und Behördenmitarbeiter zweifeln an der Glaubwürdigkeit des Duos.«

Gezielte Täuschungen

Immerhin wissen die Akten mehr als die zuständige Verfassungsschutzchefin. Aus denen geht nach einem Bericht von Kontext vom 19. Juni 2013 hervor, daß der schwerverletzte Polizeibeamte Martin A. tatsächlich wenige Tage nach seiner Einweisung verlegt wurde und daß das LKA sehr wohl über einen Quellenhinweis verfügte, wonach Neonazis sich nach dem Aufenthaltsort des schwerverletzten Polizeibeamten erkundigten. Spiegel online schreibt dazu am 13. Juni 2013: »Es trifft (…) zu, daß die im rechtsradikalen Milieu verkehrende Frau R. über den Gesundheitszustand von (Martin A.) informiert war.« Die V-Frau »Krokus« behauptet in einem Gespräch mit dem Autor, daß jene »Frau R.«, ihre ehemalige Friseurin und NPD-Aktivistin Nelly Rühle sei. Diese soll zu ihr gesagt haben, daß sie eine Krankenschwester kenne, die den schwerverletzten Polizisten ausspähen würde. Das gab »Krokus« laut ihrer Auskunft auch an das LfV weiter.

Derselbe Landesverfassungsschutz weiß dafür ganz genau, was es mit dem Lebensgefährten von »Krokus« auf sich hat. Einmal mehr treibt die Mischung aus Ahnungslosigkeit und detailreicher Denunziation, aus lancierten, angefütterten Medienberichten und kompetentem Nichtwissen neue Blüten.

»Quellen« zu führen und abzuschöpfen, wenn sie die eingeschlagene Ermittlungsrichtung stützen, die eigene »Quelle« zu vergiften, wenn deren Erkenntnisse unerwünscht und gefährlich sind, gehört zum Geschäft eines Geheimdienstes, der »Pannen« so professionell produziert wie »eindeutige Erkenntnisse«. Der Versuch, mit dieser lächerlichen Gefährdungslage das Erscheinen des V-Mann-Führers mit dem Tarnnamen »Öttinger« zu verhindern, schlug dennoch fehl. Am 24. Juni 2013 wurde er schließlich – hinter einer Stellwand versteckt – befragt. Und wie so oft einigten sich LfV und besagter V-Mann-Führer auf eine Version. Nun steht also die Behauptung im Raum, daß das LfV Baden-Württemberg durch die Quelle »Krokus« zu keiner Zeit etwas über die Ausspähversuche von Neonazis erfahren haben will, da das Amt sie erst ab Juli 2007 geführt habe.

Man könnte diese Version aber auch so deuten: Man verschiebt den Beginn der Anwerbung von »Krokus« um genau jene Wochen, in denen sie darüber berichtete, daß Neonazis den Aufenthaltsort des schwerverletzten Polizeibeamten Martin A. ausfindig machten. Auf diese Weise können Quellenberichte verschwinden, die andernfalls eine erkennbare Lücke hinterlassen würden.

Die unterschlagenen und bis heute nicht verfolgten Spuren, die auf weitere neonazistische Beteiligte und/oder Mitglieder des NSU, verweisen, sind die eine Seite. Es gibt jedoch noch eine andere dunkle Seite, die alle Ermittler geradezu elektrisieren müßte, wenn es um Aufklärung ginge. Warum bricht die Mordserie des NSU auf »Ausländer« mit dem Anschlag auf die beiden Polizeibeamten 2007 ab? Was hielt sie davon ab, weiterzumachen, wenn sie doch niemand aufhalten konnte?

Der damals schwerverletzte Polizeibeamte Martin A. wird im NSU-Prozeß in München als letzter Zeuge geladen. Das Innenministerium will, wie die Stuttgarter Zeitung vom 29. August 2013 berichtete, an der Entmündigung des Polizisten festhalten: »Im Innenministerium Baden-Württemberg sieht man der Vernehmung des Polizisten A. mit Unbehagen entgegen. Die Landespolizeiführung, so ein Sprecher, werde das Gericht ausdrücklich auf die ›Traumatisierung‹ des 31jährigen hinweisen.« Was es mit dieser Art von Fürsorgepflicht auf sich hat, worum es tatsächlich gehen könnte, formulieren zumindest die Freunde von Martin A. in dem Artikel: »Aus dem Umfeld des Kommissars A. wird berichtet, ihn quäle die Vorstellung, was wäre, wenn sein Attentäter noch frei herumlaufe.«

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