Dr. Banu Büyükavci war die einzige weibliche Angeklagte im Münchner TKP/ML-Prozess, der Ende Juli zu Ende ging. Sie wurde zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Im ANF-Interview spricht sie über ihre Erfahrungen und Einschätzungen.
Im Münchner „Kommunistenprozess” gegen angebliche Führungskader der TKP/ML wurde Ende Juli nach mehr als vier Jahren das Urteil verkündet. Die Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren, neun Monaten und sechseinhalb Jahren. Banu Büyükavci, die einzige weibliche Angeklagte in dem Prozess, hat sich im ANF-Interview zu ihren Erfahrungen und Einschätzungen geäußert.
Ein Monat ist es her, dass gegen Sie und neun andere Mitangeklagte das Urteil gesprochen wurde. Wie fühlen Sie sich heute? Hat sich Ihr Leben verändert?
Das Urteil war keine Überraschung für uns. Viel verändert hat sich deshalb nicht. Es war höchstens eine Erleichterung im Alltag. Nach meiner Entlassung aus der Untersuchungshaft im Februar 2018 musste ich zwei bis drei Mal pro Woche zum Prozess nach München reisen. Das fällt jetzt weg. Ich habe nun wieder mehr Zeit für meine Arbeit.
Was hat Sie seit der Verhaftung 2015 am meisten erschüttert?
Wenn man als politischer Mensch aus der Türkei kommt, ist man physisch und psychisch auf Repression vorbereitet. In der Türkei wurden Kurden, Aleviten, Kommunisten, Revolutionäre schon immer verfolgt, ins Gefängnis geworfen oder getötet. Wenn man in Deutschland, einer sogenannten Demokratie, lebt, denkt man, das sei anders. Aber jeder Staat hat seine Aufgaben und geht gegen alle vor, die ein anderes System wollen. Dass es aber in einem europäischen Land im 21. Jahrhundert immer noch Isolationsfolter gibt, ist schon erschütternd. Das ist nicht zu akzeptieren und eine Schande.
Wie haben Sie die Isolation im Gefängnis erlebt?
Zunächst muss ich sagen, dass ich in Stadelheim die einzige Gefangene in Isolation war. Zur gleichen Zeit war dort Beate Zschäpe, damals noch angeklagt wegen zehnfachen Mordes im NSU-Verfahren. Sie wurde nicht isoliert.
Isolation heißt, du bist allein in einer Zelle eingesperrt, hast keinen Kontakt zu anderen Menschen. Täglich eine Stunde Einzel-Hofgang. Als ich ankam, kannten mich die anderen Gefangenen nicht. Dass ich isoliert wurde, schürte die Gerüchteküche. Ich sei eine Kindermörderin, hieß es. Sie haben mich beschimpft und aus den Fenstern Wasser auf mich gegossen. Nach der Verhaftung erlebst du die Isolierung wie eine zweite Kriminalisierung.
Auch die Kommunikation mit den Anwälten war extrem schwierig. Wir konnten nur durch eine Glasscheibe getrennt sprechen. Die 70.000 Seiten umfassenden Akten gemeinsam durchzuarbeiten war in der Zeit, die wir hatten, kaum möglich. Bei der Post kam es oft zu Verzögerungen, weil der gesamte Schriftverkehr von einem Kontrollrichter gelesen wurde. Und bei den seltenen Besuchen, die man empfangen durfte, erinnerte die Trennscheibe immer an die eigene Isolation. Kein Händeschütteln, kein Umarmen. Das war schwer.
Was hat Ihnen während der Haft am meisten geholfen?
Ich bin Kommunistin. Ich glaube an die Revolution, an eine bessere Welt. Irgendwann wird es dieses System, diese Gefängnisse nicht mehr geben. Mit dieser festen Überzeugung lebe ich, und das gibt mir immer Kraft. Ansonsten hat mir die überwältigende Solidarität – besonders von Frauen – sehr geholfen. Dafür kann ich mich nicht genug bedanken. Die erste Karte „Freiheit für Banu” kam vom 8.März-Frauenbündnis aus Nürnberg. Bald trafen von überall Solidaritätsbotschaften ein: aus Europa, Afrika, Lateinamerika. Ein Frauenkongress in Nepal, an dem ich teilnehmen wollte, hat ein Foto mit einem Transparent für meine Freilassung geschickt, in Indien wurde eine Kampagne vorbereitet.
Ich kann mich gut erinnern, als die Beamtin mir 20 oder 30 Briefe brachte und ich in Tränen ausbrach. „Was ist?” fragte sie, „gibt es eine schlimme Nachricht?” – „Nein, ich weine vor Glück.” Ich hörte, Menschen in vielen Ländern waren fast jeden Tag auf der Straße und forderten meine Freilassung. Am ersten Verhandlungstag kamen Hunderte und applaudierten. Das gab mir Kraft und Moral.
Sie sind praktizierende Ärztin am Klinikum Nürnberg. Wie haben Ihre Kolleg*innen, Ihr Arbeitgeber reagiert, als sie erfuhren, dass unter ihnen eine „gefährliche Terroristin“ war? Hatte diese Diffamierung, die ja auch in der Presse verbreitet wurde, Auswirkungen auf Ihren Berufsalltag?
Meine Kolleg*innen haben richtig für mich gekämpft. Sie haben zum Beispiel eine Petition für mich gestartet. Mir wurde auch nicht gekündigt. Nach meiner Entlassung aus der U-Haft hat mich der Chefarzt sofort gefragt, wann und wo ich wieder arbeiten will. Als ich das erste Mal wieder am Arbeitsplatz war, wurde ich herzlich empfangen. Niemand hat je an meiner Person gezweifelt. Im Gegenteil, alle verfolgten die Medienberichte und haben sehr gut verstanden, dass der ganze Prozess ein Skandal ist. Sie sagten zu mir: „Du hast auch für uns gekämpft.“ Der Staat wollte uns kriminalisieren und durch die Isolation von der Gesellschaft trennen. Das ist nicht gelungen. Durch das Verfahren habe ich Hunderte von wunderbaren Menschen neu kennengelernt. Dafür muss ich dem Staat dankbar sein.
Nach den Urteilssprüchen sind alle Angeklagten in Revision gegangen. Wie geht es nun weiter?
Ja, natürlich haben wir Rechtsmittel eingelegt. Das wird jetzt einige Zeit dauern. Wunder können ja immer geschehen, aber wir erwarten nichts. Auf jeden Fall werden wir bis in die letzte Instanz weiterkämpfen. Das muss gemacht werden.
Nach politischen Urteilen gegen Migrant*innen folgen oft noch ausländerrechtliche Konsequenzen. Was ist da zu befürchten?
Deren Ziel ist es, uns fertig zu machen. Ich erwarte, dass alle, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, ihren Aufenthalt verlieren werden. Auch Arbeitsverbote wurden schon verhängt. Dr. Sinan Aydin, der auch Arzt ist und zuletzt für das Nürnberger Gesundheitsamt tätig war, darf nicht mehr praktizieren. Ihm wurde auch die Aufenthaltserlaubnis entzogen. Er hat jetzt nur eine Duldung. Zu befürchten sind weitere Arbeitsverbote und auch Ausweise-Anordnungen durch das Ausländeramt. Ob sie uns wirklich abschieben werden, wissen wir nicht. Das alles sind weitere Angriffe auf uns. Das erleben ja viele. Wir machen uns darüber keinen Kopf, das ist Teil unseres Kampfes. Und wir wissen, dass wir viele solidarische Menschen hinter uns haben.
Wurde während des Verfahrens mit Ihnen als einziger weiblichen Angeklagten anders umgegangen als mit den männlichen Beschuldigten?
Ich wurde als Frau nicht anders behandelt als meine Genossen. Aber in meinen politischen Erklärungen und im Schlusswort bin ich auch auf die Situation der Frauen in der Türkei und in Kurdistan eingegangen. Dabei ist es nicht üblich, dass ein Richter das Schlusswort der Angeklagten unterbricht. Als ich dann über Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen in Kurdistan sprach, meinte der Vorsitzende Richter, das wüsste er alles schon. Ich bestand darauf, weiterzusprechen, weil die Frauenpolitik in der türkischen Republik auch Gegenstand unseres Kampfes ist. Als meine Genossen ausführlich über andere Themen sprachen, wurden sie nicht unterbrochen. Ich vermute, dass die Frauenfrage als nicht so wichtig angesehen wird. Das Patriarchat ist eben auch im Gerichtssaal zu Hause.
Wenn Sie die Gefängnisse und die Situation der Gefangenen in der Türkei und in Deutschland vergleichen, welche Unterschiede fallen Ihnen da auf?
In der Türkei sind die Gefängnisse voll mit politischen Gefangenen, vor allem in den Hochsicherheitsgefängnissen vom Typ F, die übrigens nach europäischem Vorbild errichtet wurden. Für die Beamten sind „die Politischen“ Staatsfeinde. Brutale Gewalt und Folter sind normal. Darauf sind Revolutionäre vorbereitet. Niemals darf es eine Zusammenarbeit mit dem Gefängnispersonal geben. Man sagt, der Kampf findet überall statt, auf der Straße, in den Fabriken, in den Gefängnissen. Seit dem Gefängniswiderstand in Amed (türk. Diyarbakır) Anfang der achtziger Jahre haben die Kämpfe der Gefangenen eine lange Tradition. Durch kollektiven Widerstand konnten zum Beispiel das zwangsweise Tragen von Einheitskleidung oder Nacktuntersuchungen abgewehrt werden. Viele haben im Widerstand ihr Leben verloren – Ibrahim Kaypakkaya, Mazlum Doğan, Kemal Pir und viele andere. Aber der Widerstand hat sich gelohnt.
In Deutschland gibt es fast keine politischen Gefangenen und auch keine Widerstandskultur. Die Gefangenen akzeptieren alles, was man ihnen sagt. Ich gebe ein Beispiel: Am ersten Verhandlungstag wollten sie uns mit Fußfesseln ins Gericht bringen. Ich habe gesagt, dass ich das nicht zulasse. Die Beamten waren schockiert. Sie haben das nicht verstanden und redeten eine halbe Stunde lang auf mich ein. Ich erklärte, ich bin keine Sklavin und werde mich niemals freiwillig fesseln lassen. Meiner Meinung nach waren die nicht böse, sie haben nur noch nie einen entschlossenen Widerstand mit politischer Begründung erlebt. Ich sagte den Beamten dann, sie müssten mich unterstützen, denn ich kämpfe für eine Welt ohne diese hässlichen Jobs.
Haben die anderen Gefangenen Ihren Widerstand mitbekommen und wie haben sie darauf reagiert?
Ja, ich habe das erzählt und sie haben sich gefreut. Aber ich denke, sie sind noch nicht bereit, selbst einmal nein zu sagen. Dazu braucht es viel Zeit. In türkischen Gefängnissen wird von den politischen Gefangenen immer Bildungsarbeit geleistet. In Deutschland gibt es niemanden, der die Zusammenhänge erklärt, es gibt kein politisches Bewusstsein, aus dem der Widerstand erwächst.
Dieser Prozess konnte nur stattfinden, nachdem die Bundesregierung eine Verfolgungsermächtigung erteilt hatte. Wie ist Ihre Einschätzung zur Rolle der BRD in Bezug auf die Verfolgung des demokratischen Widerstands in der Türkei?
Die Geschichte zeigt ja, dass die Türken und die Deutschen alte Freunde sind. Anfang des letzten Jahrhunderts kam der deutsche Imperialismus in den Orient. Osmanische Soldaten wurden von deutschen Generälen ausgebildet. Die militärische, politische und ökonomische Zusammenarbeit hat damals begonnen und dauert bis heute an. Auch wenn es manchmal Kritik an der Türkei gibt, so ändert das nichts an der engen Kooperation. Unser Prozess ist sozusagen ein deutsches Geschenk an die türkische Regierung. Hinzu kommt, dass Imperialisten die Ideen von Kommunisten und Revolutionären immer als Gefahr sehen. Deshalb werden wir sowohl in Deutschland als auch in der Türkei als „gefährliche Terroristen“ behandelt.
Die Verteidigung und auch die Angeklagten haben immer wieder hervorgehoben, dass die Bundesregierung mit der Verfolgungsermächtigung einen Staat schützt, der eine faschistische Diktatur ist. Hatten Sie den Eindruck, dass das Gericht die eingebrachten Belege dafür berücksichtigt hat?
Auf Antrag der Verteidigung hin hat das Gericht ein Gutachten des Turkologen Prof. Dr. Neumann erstellen lassen. Dort wird bestätigt, dass es in der Türkei Menschenrechtsverletzungen gibt. Hätte man dieses Gutachten ernst genommen, hätte der Prozess sofort eingestellt werden müssen. Meiner Meinung nach wissen alle, was in der Türkei los ist, aber niemand zieht Konsequenzen. Es stand von Anfang an fest, dass die TKP/ML als „terroristisch“ eingeschätzt wird, obwohl sie außerhalb der Türkei auf keiner „Terrorliste“ steht. Das Absurde: Viele unserer Genossen erhielten Anfang der 2000er Jahre Asyl in Deutschland, weil sie in der Türkei wegen Mitgliedschaft in der TKP/ML verfolgt wurden. Jetzt nach ein paar Jahren werden sie deswegen in Deutschland eingesperrt.
Wie schätzen Sie die Auswirkungen des Urteils auf die anderen derzeit laufenden Prozesse ein, zum Beispiel gegen angebliche Aktivist*innen der kurdischen Arbeiterpartei PKK?
Die neoliberale Politik verursacht strukturelle Krisen. Um den Widerstand der Arbeiterklasse im Keim zu ersticken, muss die Politik reagieren. Als erstes geht sie auf die organisierten Menschen los, vor allem auf migrantische Organisationen. Unser Prozess reiht sich ein in die Liste der anderen Angriffe auf die Gesellschaft. Es gibt eine Linie vom neuen Polizeiaufgabengesetz bis zu den §129-Verfahren. Parallel zum Rechtsruck steigt die Repression, die manchmal auch absurd ist. Fahnen der YPG werden verboten, obwohl jeder weiß, dass die YPG gegen den IS kämpft. Sie probieren einfach aus, wie weit sie gehen können.
Welche politischen Konsequenzen ergeben sich für Sie aus dem Prozess?
Die Verfahren haben ja nicht mit uns begonnen. Seit den neunziger Jahren gibt es Prozesse gegen die PKK, auch gegen die DHKP-C. Und es wird weiter gehen. Deshalb sind Solidarität und Zusammenarbeit wichtig. Ich muss zugeben, dass ich selbst vieles an Repression, an Razzien, Inhaftierungen nicht mitbekommen habe. Das muss sich ändern. Wir müssen uns vorbereiten auf künftige Angriffe. Mit jedem Prozess sammeln wir mehr Erfahrungen, politisch und juristisch.
Wir haben auch ideologische Differenzen, aber die Sicherheitsbehörden machen keine Unterschiede. Heute sind wir betroffen, morgen werden es andere sein. Wir müssen eine Front gegen die Ungerechtigkeit aufbauen, zum Beispiel gegen Rentenkürzungen oder Hartz IV, gegen das PAG oder die Gewalt an Frauen. Leider ist es bisher so, dass wir erst zusammen kommen, wenn etwas passiert. Wir müssen das ändern. Es ist unsere tägliche Aufgabe, wachsam zu sein und ich rufe alle Demokrat*innen auf, sich zu organisieren, sich gemeinsam zu wehren.
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