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Biedermeier Ulrike Edschmid über den 1975 von der Polizei erschossenen Werner Sauber

Für ihr Buch »Das Verschwinden des Philip S.« erhält Ulrike Edschmid den Grimmelshausen-Preis und den Preis der SWR-Bestenliste, sie kann sich über begeisterte Rezensionen und ein Spiegel-Interview freuen. Sie schreibt aus der Ich-Perspektive über Werner Sauber, der sich auch Philip nannte und im Mai 1975 in Köln auf der Flucht von der Polizei erschossen wurde. Sie war mit ihm in Berlin befreundet, wohnte mit ihm zusammen, bis er für sie in der Illegalität »verschwand«. Ein hoch gelobtes Buch über einen toten »Terroristen«, das erschien mir erstaunlich, bis ich das Buch las.

Der Schreibstil der Autorin entspricht einem gepflegten Abend am offenen Kamin, mit dem passenden Ambiente vor dem Fenster (Frühnebel, fallende Blätter) und im Zimmer (Thonet-Stühle). Wenn sie indirekt auch noch Gottfried Benn zitiert, der einst lamentierte »in meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs«, so kann die Leserin oder der Leser sich mit ihm zurücklehnen. Ulrike Edschmid: »In seinem Elternhaus (…) wurden keine Bilder betrachtet«. Vom Grab des Erschossenen aus reicher calvinistischer Züricher Familie malt Frau Edschmid ein elegisches Bild: »…unter dem wuchtigen, mit einem Wappen verzierten Stein. Auf dem Grab eine junge Tanne. Verstreute Nadeln im Schnee.« Das Grab in Zürich: »wo es ins Weite hinausgeht«. So läßt sich auch ein toter »Terrorist« genießen. Aber warum wird solch Kitsch begeistert aufgenommen, sogar in »linken« Buchhandlungen, wie in Düsseldorf oder Berlin?
Mord als Selbsttötung
Niedergeschlagene Revolten endeten schon immer im Biedermeier. Wenn direkte Repression ihr Ziel erreicht hat, muß die Erinnerung bekämpft und möglichst ausgelöscht werden. Für den Kampf gegen die Erinnerung sind Angestellte wie Wolfgang Kraushaar zuständig, für die Auslöschung »traumverlorene« Bürgerkinder wie Frau Edschmid. Die Angestellten und die Bürgerkinder müssen bewältigen, daß sie einmal – nicht mehr – revoltiert hatten. Dafür werden sie belohnt.

Edschmid beschreibt das Leben Werner Saubers als permanenten Weggang: Weg von der reichen Schweizer Familie, weg von den Frauen, auch weg von ihr und ihrem Sohn, weg von der doch so aussichtsreichen Karriere als experimenteller Filmemacher, weg aus dem legalen Leben, angekommen schließlich im Ziel, seinem eigenen Tod. Sie inszeniert den Mord an Sauber als Selbsttötung. Ihr Buch über das »Verschwinden des Philipp S.« soll ihn nun endgültig verschwinden lassen. In Erinnerung bleibt von ihm nach der Lektüre vor allem die genau beschriebene Ausstattung des Sohnes aus begütertem Haus: Ein Kalbsledergürtel, ein maßgeschneiderter Mantel, schließlich die Zeichen der »Selbstzerstörung«. Sie verfolgt den Erschossenen mit dem besorgten und dann enttäuschten Blick der Dame aus gutem Hause, die erschreckt das »anarchische Aufbäumen gegen alle Vernunft« hinnehmen muß. Sie hatte doch so viel Hoffnung in ihn gesetzt. Und er war doch einmal so geschmackvoll gekleidet gewesen.

Hier allerdings wird Edschmids Buch zum Dokument. Es zeigt die Beschränkungen der Perspektive und des Verständnisses, eine nicht überwundene Klassenlage, Anfangspunkte einer Integration der Revolte in den 60er und 70er Jahren, die schließlich bis zur Regierungs- und Kriegsbeteiligung reichte.

Aber lassen wir die Dame mit ihren hochverdienten Preisen im Herbstnebel allein. Warum soll Sauber immer noch vergessen werden? Vier Monate vor seinem Tod schrieb er eine Analyse des notwendigen politischen Kampfes. Er arbeitete in Köln bei Klöckner-Humboldt-Deutz an der Stanze, unter falschem Namen, illegal. Sauber romantisierte die Illegalität nicht, aber er wußte, daß der Kampf gegen das Ausbeutungssystem notwendig an die Grenze des Erlaubten stoßen würde. Und er wußte auch, daß ein isolierter bewaffneter Kampf sich an die Stelle der Menschen setzte, um die es angeblich ging. Das trennte ihn von der RAF. In seinem Text stellt er fest (und dies bleibt höchst aktuell): »Seit Mai 1974, seit Helmut Schmidt, wird die Krise einerseits als Instrument der Kontrollerneuerung über die arbeitenden Massen benutzt; sie wird andererseits gezielt gegen die rebellierenden Massen eingesetzt, an denen Vernichtungs- und Abschiebehaft praktiziert wird.«

Sauber bezieht die Erfahrungen der Migranten in seine Analyse mit ein und beschreibt die Versuche, zwischen ihnen und den deutschen Facharbeitern eine rassistische Spaltung herbeizuführen. Er wußte, daß viel geschrieben und geredet werden darf, daß es aber Grenzen gibt. Sie verlaufen exakt an der Stelle, an der die Legitimität herrschender Politik und Ökonomie angegriffen wird. Vorbereitung auf den illegalen Kampf folgte für ihn aus der Erkenntnis dieser Grenze.
Soziale Massaker
Bereits Mitte der 70er Jahre erkannte er so die Großmachtlinie der deutschen Politik (»Die Regierung Schmidt: Knüppel aus dem Sack für eine neu imperialistische Großmachtpolitik«): »Wenn das Orwellsche 1984 nicht heute kapitalistische Wirklichkeit werden soll, muß das den gesamten Lebensbereich umfassende Überwachungs- und Disziplinierungsnetz an seinen wichtigsten Knotenpunkten zerreißen. (…) Entweder es gelingt, hier und jetzt, die bewaffnete Massenlinie resistent, daher angriffs- und lebensfähig zu machen, oder aber Westdeutschland wird erneut zur Metropole der Repression, die gemeinsam mit den USA das soziale Massaker gegen die internationale Arbeiterbewegung und gegen die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt durchzusetzen hat.«

Von all dem ist in dem preisgekrönten Buch Edschmids nicht die Rede. Das Wort »Klassenkampf« taucht zwar einmal bei ihr auf, aber eingeordnet unter die Rubrik »uns fremde Worte« als Eindringling: »Worte tauchen auf, die nicht unsere eigenen sind.«

1978 erschien das von Klaus Dethloff, Armin Golzem und Heinrich Hannover herausgegebene Buch »Ein ganz gewöhnlicher Mordprozeß. Das politische Umfeld des Prozesses gegen Roland Otto, Karl Heinz Roth und Werner Sauber«. Roth und Otto berichteten darin über Sauber. Beide waren mit ihm bei seiner Erschießung zusammen, wurden verhaftet, Roth wurde schwer verwundet. Otto schloß seinen Beitrag zu Sauber mit Sätzen, die gültig bleiben: »Wenn die Herrschenden gesprochen haben, werden die Beherrschten sprechen.« Ulrike Edschmids Buch soll dagegen beweisen, daß Widerstand sinnlos ist, ein Beleg für die Warnung Walter Benjamins aus dem Jahr 1940: » … auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.«
 
Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 157 Seiten, 15,95 Eur