stammheim2

BRD mimt Rechtsstaat

21. Mai 1975: In der JVA Stuttgart-Stammheim begann der Prozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe
Von Jürgen Heiser, junge Welt 16.5.2015

Im Oktober 1975 sang der Protestbarde Eck mit Klaus dem Geiger auf der legendären Spanien-Veranstaltung »Leben, kämpfen, solidarisieren« in Offenbach das Lied: »In Baden, bei Stuttgart-Stammheim, da steht ein neuer Justizpalast. Der ist bomben- und granatensicher und steht gleich gegenüber dem Knast«. Jeder auf diesem Solidaritätskonzert für die vom faschistischen Franco-Regime gefolterten und ermordeten politischen Gefangenen wusste, welcher »Justizpalast« gemeint war. Stammheim war zu dieser Zeit zum Inbegriff dessen geworden, was Karl Marx und Friedrich Engels bereits 1848 im »Kommunistischen Manifest« kurz und prägnant auf den Begriff gebracht hatten: »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet« (MEW 4, S. 464).

Stammheim, das ist der 1942 eingemeindete nördlichste Stadtbezirk der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart. Von seiner geschichtlichen Bedeutung her hatte der Ortsteil nichts, was ihn dazu prädestiniert hätte, zum internationalen Symbol für einen der aufsehenerregendsten politischen Prozesse der BRD zu werden. Das änderte sich erst, als die zwischen 1959 und 1963 nach den damals modernsten Erkenntnissen der Sicherheitstechnik erbaute Justizvollzugsanstalt Stammheim von Bundesjustiz und Bundeskriminalamt dazu ausersehen wurde, die 1972 verhafteten Mitglieder der Stadtguerillaorganisation Rote Armee Fraktion (RAF) aufzunehmen. Die dort nach einem auf höchster politischer Ebene festgelegten Haftstatut vollzogenen Isolationsbedingungen führten schon bald dazu, dass die Gefangenen aus der RAF sich mit Hungerstreiks gegen ihre strikte Einzelgewahrsam zur Wehr setzten. »Stammheim« wurde somit schon 1972/73 zu einem Synonym für Haftbedingungen, durch die mittels »sensorischer Deprivation« (Entzug sensorischer Reize) oppositionelle Gefangene gebrochen werden sollen.

Times: Fairer Prozess?
Vom 21. Mai 1975 an wurde Stammheim zudem zum Symbol für den Versuch, die »Normalität« eines vorgeblichen Strafprozesses vorzuführen, der gegen die »Rädelsführer« der RAF begann: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe. Der ebenfalls ursprünglich mit ihnen angeklagte Holger Meins war am 9. November 1974 während des dritten Hungerstreiks im Kampf gegen die Isolationshaft gestorben.

Der 2. Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart verhandelte jedoch nicht in einem normalen Gerichtssaal, sondern in der speziell für diesen Prozess auf dem Gelände der JVA Stuttgart-Stammheim für zwölf Millionen Deutsche Mark errichteten »Mehrzweckhalle«. Die Londoner Times brachte zum Prozessauftakt den in der Architektur des Sondergebäudes angelegten Ausnahmezustand auf den Punkt: »Die einzige Frage, die zu beantworten übrigbleibt, lautet, ob unter den Bedingungen des Belagerungszustandes ein fairer Prozess möglich ist.« Für den Londoner Economist war im Angesicht der »Stammheimer Festung« die Antwort auf diese Frage nicht mehr offen: »Der Zweck der besonderen Verfahrensweise hat weniger mit der Ermittlung von Schuld und Unschuld zu tun als damit, die Länge der zu verhängenden Strafen zu bestimmen.«

Der niederländische Rechtsanwalt Pieter Bakker Schut (1941–2007), selbst als Beobachter im Prozess und als Verteidiger von RAF-Gefangenen tätig, zitiert in seiner Analyse des Stammheimer Verfahrens Frank Kitson, den britischen Brigadegeneral und Experten für Aufstandsbekämpfung. Der schlug vor, dass »die Justiz als eine der Waffen im Arsenal der Regierung benutzt werden« könnte. »In diesem Fall wird sie nichts weiter als eine propagandistische Verkleidung für die Beseitigung unerwünschter Personen des öffentlichen Lebens sein.«

Gegen Vietnam-Politik von USA und BRD
War die Isolierung der Angeklagten in der Haft schon Beweis genug, dass sie aus dem öffentlichen Leben beseitigt werden sollten, so zeigten die als »Lex RAF« kritisierten Veränderungen der Strafprozessordnung, dass die Justiz mit den Angeklagten auch ihre Politik aus dem Verfahren entfernen wollte. Denn fortan war es auch möglich, in Abwesenheit der durch ihre Haftbedingungen verhandlungsunfähigen oder durch Ordnungsstrafen aus der Hauptverhandlung ausgeschlossenen Angeklagten über sie zu richten. Dazu diente auch der Ausschluss ihrer Verteidiger Klaus Croissant, Kurt Groenewold und Hans-Christian Ströbele, weil sie das Recht ihrer Mandanten schützen wollten, sich vor Gericht politisch zu verteidigen.

Doch die Dynamik der Weltpolitik setzte ihre eigenen Zeichen. Während die »Nationale Front für die Befreiung Südvietnams« die bis zuletzt von US-Truppen gehaltene Hauptstadt Saigon am 1. Mai 1975 (siehe jW-Thema vom 29.4. 2015) einnahm und so 20 Tage vor Beginn des Stammheimer Prozesses der jahrzehntelange Kolonialkrieg in Vietnam endete, bereiteten die Angeklagten die »offensive Linie ihres Verteidigungskonzepts« (Bakker Schut) gegen den Mordvorwurf der Bundesanwaltschaft vor. Diesen hatten die Ankläger im wesentlichen mit den Anschlägen der RAF auf das V. US-Armeekorps in Frankfurt am Main und das europäische Hauptquartier der 7. US-Armee in Heidelberg im Mai 1972 begründet. Dagegen stellten die Angeklagten beginnend mit dem 4. Mai 1976 ihre umfangreichen Beweisanträge zur Ladung des Oberbefehlshabers der US-Armee in Europa, General Michael S. Davison, sowie von Richard Nixon und weiteren hochrangigen Politikern der USA und der BRD zum Beweis ihrer gemeinsam verfolgten imperialistischen Interessen beim Völkermord in Vietnam. Die Angeklagten nahmen damit ihr völkerrechtlich begründetes Widerstandsrecht in Anspruch. (siehe jW-Geschichte vom 22.12.2012).

In dieser hochbrisanten Phase kollektiver Verteidigung wurde Ulrike Meinhof, die diese Anträge mit erarbeitet hatte, am 9. Mai 1976 erhängt in ihrer Zelle aufgefunden. Eine von Angehörigen, Verteidigern und Wissenschaftlern initiierte »Internationale Untersuchungskommission« wies in ihrem Abschlussbericht nach, dass kein zweifelsfreier Beweis für einen Suizid vorliege, es aber zahlreiche Hinweise gebe, dass Meinhof zum Zeitpunkt des Aufhängens bereits tot gewesen sei. Bakker Schut 1986: »Gesucht sind in diesem Fall immer noch die Täter.«

Am 28. April 1977 wurden die drei noch lebenden Angeklagten im Stammheimer Prozess in einem Urteil, das der Anklageschrift wie eine Kopie glich, für schuldig erklärt und wegen gemeinschaftlichen Mordes und »Gründung einer kriminellen Vereinigung« zu lebenslanger Haft verurteilt. Dem Staatsschutzsenat kam es »auf die Beteiligung [der Angeklagten] bei der Ausführung der Anschläge im einzelnen nicht an.«

Quellentext: Rechtsanwalt Klaus Croissant zum Stammheimer-Prozess
Stammheim ist eben nicht nur ein klassisches Beispiel eines politischen Prozesses, bei dem ein justizförmiges Verfahren politischen Zwecken dienstbar gemacht wurde. [Z]um erstenmal in der Justizgeschichte der BRD [wurden] die Grundsätze der präventiven Konterrevolution wissenschaftlich erprobt: von den Isolationshaftprogrammen made in USA bis hin zum Bau eines Prozessbunkers auf Gefängnisgelände, vom auf seinen Stuhl manipulierten Gerichtsvorsitzenden bis hin zum offenen Gesetzesbruch durch Abhören der Verteidigergespräche und der Gefängniszellen, von der Zerschlagung der Verteidigung durch Sondergesetze, Verteidigerausschlüsse, Verhaftungen und Berufsverbote bis hin zur Verhängung totaler Kontaktsperren.

Die Angeklagten haben den Charakter ihrer Auseinandersetzungen mit den Herrschenden auf den Begriff »(Volks-)Krieg« gebracht, wohl wissend, dass für diese Ebene der Klassenauseinandersetzungen (noch) die gesellschaftlichen Voraussetzungen fehlten. Stammheim, sein paramilitärisches Sicherheitsritual, seine staatspolizeiliche Durchdringung, seine Architektur sind jedoch ein einziger Beweis dafür, dass die Machthaber die Herausforderung der RAF auf demselben Nenner der (verdeckten) Kriegsfühung angenommen haben. Stammheim ist zu einer Art von justitiellem Vorfeld des Krieges geworden, zu einem Testplatz der Aufstandsbekämpfung.

Aus dem Vorwort zu: Pieter Bakker Schut: Stammheim. Der Prozeß gegen die Rote Armee Fraktion, Kiel 1986, S. 11