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Brief aus Gaza: „Der 17 Jahre alte Sohn meiner Cousine wurde erschossen.“

(PN) 17.04.2018 – Seit Montag haben israelische Soldaten 63 Palästinenser im Gazastreifen getötet – darunter acht Kinder –, über 3.100 palästinensische Demonstranten verletzt, davon 130 lebensgefährlich. Beschossen wurden auch erneut Journalisten, Sanitäter und Schwerbehinderte.

Teargas attacks from above Gaza
Bei den Protesten am Montag im Gazastreifen ging die israelische Armee mit extremer Gewalt gegen die Demonstrierenden vor. Die Bilanz: 63 Tote, darunter acht Kinder, über 3100 Verletzte, 130 davon im kritischen Zustand. (Foto: twitter)

In einem Brief an Freunde und Bekannte in Deutschland schildert Dr. Abed Schokry aus Gaza, was diese Gewalt für die Menschen im Gazastreifen bedeutet.

Wir geben seinen Brief hier wieder:

Gaza am 15. Mai 2018

Sehr geehrte Damen und Herrn,

Liebe Freundinnen und liebe Freunde,

Meine letzte Email hatte ich mit den Sätzen: „Ich bin wütend“ und „ich bin verzweifelt“ begonnen. Nach den Ereignissen gestern, bin ich nun sprachlos, fassungslos, machtlos, ohnmächtig. Und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht so recht, wie ich in Worte fassen kann, was in mir vorgeht, was ich zum Ausdruck bringen möchte. Denn es ist gestern ein Verbrechen/Blutbad geschehen, es wurde ein Massaker verübt, das zum Himmel schreit.

Die Täter sind die Soldaten und Befehlshaber und letztlich die Regierung „der einzigen Demokratie im Nahen Osten“. Die Opfer sind die unbewaffnet demonstrierenden Palästinenserinnen und Palästinenser an der von Israel festgesetzten Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel. Die Demonstranten mit leeren Händen, nur mit Mut und Courage ausgerüstet. Sie tragen keine Schutzanzüge, keine Gewehre, keine Zielfernrohre wie die Soldaten auf der anderen Seite. Diesen Soldaten wurde kein Haar gekrümmt, keiner von ihnen wurde verletzt. Aber sie schießen auf Männer, Frauen und Kinder. Es gibt Videos, in denen zu hören ist, wie sie sich über einen „Treffer“, einen Erschossenen freuen. Das ist so unglaublich menschenverachtend, dass ich laut schreien möchte.

Seit fast 12 Jahren leben wir im größten Freiluftgefängnis der Welt. Wie der Alltag in diesem Gefängnis aussieht, habe ich Ihnen schon oft beschrieben. Strom bekommen wir vier Stunden täglich, das Wasser aus der Leitung ist sehr salzig oder mit Abwasser vermischt, also ungeeignet um zu duschen oder um Gemüse oder Obst damit zu waschen. Die Jugendlichen haben keine Hoffnung, sie sehen keine Perspektive, sie sehen sich auch als Opfer der Besatzung, der Abriegelung und der zerstrittenen palästinensischen Gruppen. Inzwischen sind fast 70% von ihnen arbeitslos. Die Jugendlichen kennen nichts anderes als das Leben mit permanenten Problemen, denn mal mangelt es an Brennstoffen bzw. Kochgas, mal an Grundnahrungsmitteln, vor allem auch an Medikamenten. Und die Familienmitglieder, die überhaupt Arbeit haben, bekommen oft ihr Gehalt nicht. Es ist ein Leben, dass nicht nur zornig und wütend macht, sondern das auch krank macht, oft genug körperlich krank aber vor allem psychisch krank.

Gestern bin ich am Rande der Demonstration in Gaza Stadt gewesen. Ich habe die vielen Menschen gesehen, junge und alte Menschen, Männer und Frauen, auch Kinder mit ihren Eltern. Danach kehrte ich heim, und kaum war ich Zuhause, da erfuhr ich, dass der 17 Jahre alte Sohn meiner Cousine erschossen worden war. Danach kamen Meldungen, dass weitere Verwandte von mir verletzt wurden. Einige hatten Schusswunden an den Beinen, andere an der Brust und weitere hatten Bauchschüsse erlitten. Manche von ihnen wurden sofort in den Krankenhäusern operiert, andere warten darauf, ins Ausland verlegt zu werden, denn es fehlen geeignete medizinische Geräte oder Medikamente. Ob man sie aus Gaza raus lässt, weiß ich nicht.

Ich lief sofort los, um meine Verwandten im Krankenhaus zu besuchen. Es fällt mir immer schwer, ein Krankenhaus zu betreten, aber was ich diesmal sah, das übersteigt alles, was man sich vorstellen kann. Verletzte in den Gängen, überall Blut, die Patientenräume überfüllt. Während ich schreibe, klingen mir noch das Stöhnen und die Schmerzensschreie in den Ohren. Ich konnte sehen, wie sehr die Ärzte und das gesamte Personal alles taten, was in ihrer Macht stand, um zu helfen, um in all diesem Elend zu funktionieren. Über 2700 Menschen sind verletzt worden. Stellen Sie sich vor, was es bedeutet, so viele Verletzte zu versorgen. Das ist selbst in einer Stadt in Deutschland kaum möglich.

60 Menschen wurden erschossen, 60 Menschen ließen ihr Leben, während die Welt die fröhlichen Gesichter der Regierungen, die in Jerusalem feierten, im Fernsehen sehen konnte. Unser Leid interessiert die Welt nicht. Die, die sowieso auf der Seite der fröhlichen Gesellschaft stehen, die mit ihnen, was auch immer sie tun, uneingeschränkt sympathisieren, geben den zynischen Rat, dass wir still sein sollen, dass wir uns damit abfinden sollen für alle Zukunft unter Besatzung zu leben.

Ein Bruder von mir arbeitet im Krankenhaus und sagte mir, ich möge doch nach Hause gehen, denn der Anblick dieses Elends könne ich nicht ertragen. Wie recht er hatte. So blieb ich nur kurz bei meinen Verwandten und machte mich auf den Heimweg. Ich weiß gar nicht mehr, wie das war. Ich lief wie ein Automat. Alles ging mir durch den Kopf. Zu Hause angekommen, fiel ich sofort ins Bett. Ich fühlte mich ganz elend. Aber das Einschlafen war sehr schwer, denn weder die Bilder der Verletzten aus dem Krankenhaus konnte ich verdrängen, noch den Geruch vom Blut konnte ich loswerden. Heute war ich dann bei den Familien der Erschossenen, um ihnen mein Beileid zum Ausdruck zu bringen. Die Toten sind nun begraben. Und sie werden nicht zum Leben erweckt werden. ABER was ist mit den vielen Verletzten? Wie werden sie ihr Leben weiterführen können, wenn ihre Beine amputiert wurden oder wenn sie gelähmt werden oder wenn sie nicht mehr sehen oder hören können? Die Mehrheit der Verletzten ist unter 30 Jahre alt. Und sie haben nun kaum eine Zukunft vor sich.

Gewalt erzeugt Gegengewalt, das ist bekannt. Jeder Präsident bzw. Regierungschef muss alles tun, um sein Land zu beschützen. Das ist auch bekannt. Nun stelle ich aber Fragen, auf die ich keine Antwort habe

– Ist der Einsatz von diesen Waffen gegen zivile und unbewaffnete Demonstranten legitim bzw. rechtens?

– Sind unbewaffnete Demonstranten so gefährlich für die Sicherheit einer Besatzungsarmee, die zur stärksten der Welt gehört?

– Gibt es keine anderen Wege auf Demonstrationen zu reagieren, als mit scharfer Munition gezielt zu schießen?

– Was sagte das internationale Gesetz?

– Darf sich ein Land ungestraft über internationale Gesetze und Menschenrechte hinwegsetzen?

– Handelten die schwer bewaffneten Besatzungssoldaten tatsächlich aus „Notwehr“, wie sie behaupten? Wurde auch nur einer der Besatzungssoldaten verletzt?

– Darf ein Land ein anderes Land 50 Jahre und mehr einfach besetzen und das Leben der Menschen unerträglich machen? Ist es nicht Aufgabe der Weltgemeinschaft, dem Einhalt zu gebieten?

– Wie kann es sein, dass der deutsche Bundesaußenminister sich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzen will, aber wenn es um die Menschenrechte der Palästinenser geht, dann schweigt er?

– Im ersten Absatz des deutschen Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Ich will nichts mehr, als in Würde, in Ruhe und in Frieden mein Leben leben und es gestalten, wie ich es mag, und nicht wie eine andere Macht oder wie der Stärkere es mir vorschreibt.

Mit dieser extremen Gewalt seitens der Besatzung kann kein Frieden entstehen, und solche unmenschlichen Kollektivstrafmaßnahmen werden weder uns, noch unseren Nachbarn Frieden bringen.

Mit traurigen Grüßen aus Gaza

Ihr

Dr. Abed Schokry

Dr. Abed Schokry ist Palästinenser und hat in Deutschland studiert. In Berlin promovierte er zum Dr. Ing. Im Jahr 2007 erhielt er einen Ruf an die Universität Gaza/Palästina und kehrte nach 17 Jahren in Deutschland mit seiner Familie in seine Heimat zurück. Seitdem lebt er im Gazastreifen und lehrt als Dozent Wirtschaftsingenieurwesen.
https://palaestina-nachrichten.de/2018/05/17/brief-aus-gaza-der-17-jahre-alte-sohn-meiner-cousine-wurde-erschossen/