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Das BKA führte Regie

Nicht, dass die Geschichte schon geschrieben wäre: Lektürehinweise zum »Deutschen Herbst«
Von Ron Augustin

Die Metapher des »Deutschen Herbsts« steht für einen Höhepunkt in der Geschichte der RAF, wesentlich für die Entführung eines Industriellen und eines Urlauberflugzeugs, das Kontaktsperregesetz und den Tod mehrerer Gefangener aus der RAF in Stammheim und Stadelheim. Zu jedem Jahrestag melden sich groß welche, sei es, um sich finanziell über Wasser zu halten, sei es, damit ihr Name im Medienbetrieb nicht untergeht, sei es, um mit einer Politik »abzurechnen«, die ihre eigene Praxis jahrelang in Frage gestellt hat. So auch in diesem Jahr. Zum 40. Jubiläum erschienen etwa zwei Dutzend Bücher und Hunderte Stories in den Medien. Im großen und ganzen wurde nur noch nachgebetet, was seit Jahrzehnten als offiziell abgesegnet gilt.

Die Inszenierung von Jahrestagen ist so alt wie die Kirche. Dabei ging es immer um institutionelle Herrschaftssicherung, also die Festsetzung der eigenen Geltungsansprüche. Das von den bürgerlichen Medien in Gang gehaltene Ritual soll die bestehenden Verhältnisse legitimieren beziehungsweise den Frieden, den manche mit diesen Verhältnissen gefunden haben. In einer Routine, deren Mechanismen darauf beruhen, dass immer wieder dieselbe Platte abgespielt wird und wesentliche Fakten oder Begriffe einfach nicht mehr hinterfragt werden. Also genau der »Kampf um das Gedächtnis«, der die Reihen schließen soll, Deutungsmuster vorstanzt und abweichende Interpretationen marginalisiert oder kriminalisiert. Das Irre ist nur, dass bis jetzt kaum daran gerüttelt wird. Anscheinend sitzt die Angst zu tief. Kaum die Angst vor einem geschichtlichen Phänomen, sondern eher die, aus dem heutigen Konsens zu geraten.

An »Beiträgen zur historischen Aufarbeitung« gab es einiges. Der Spiegel hatte trotz intensiver »Recherchen« und Aktenfledderei nichts Besseres aufzubieten als das soundsovielste Interview mit dem ewig selben Phantasten. In einer aufwendigen Werbekampagne brachte Butz Peters, ehemals Moderator bei »Aktenzeichen XY«, seine alten Klamotten wieder in neuer Verpackung auf den Markt. Wolfgang Kraushaar, der sich ebenfalls in der Rolle eines Polizeikommissars gefällt, hat seinen soundsovielsten Versuch gewagt, Sachen in einen Kausalnexus zu bringen, die nichts mit der RAF oder auch nur mit der Linken zu tun haben. Und alles, wie gehabt, aus einer hämischen Perspektive, die mehr über die Autoren selbst als über ihren Gegenstand aussagt.

Eine Ausnahme bilden: Die Feststellung der Aufklärung, der Französischen Revolution, der UN-Menschenrechtscharta, nach der alle Menschen gleich geboren sind und gleiche Würde und Rechte haben, völlig egal, woher sie kommen, spielt in den meisten Medien keine Rolle mehr.

Ein neuer Gesichtspunkt zur Geschichte der RAF ist in dem ganzen Strom von Veröffentlichungen, der diesmal schon Anfang des Jahres einsetzte, nicht zu finden. Lustig und peinlich war festzustellen, wie sich die RAF-Experten gegenseitig in die Haare kriegten, auch wenn es kaum etwas gibt, das sie nicht voneinander kopiert haben. Kraushaar gegen Winkler, die Süddeutsche gegen Peters, gleichauf mit Koenen gegen Aust, Eschen und Delius gegen ehemalige Kollegen …

Was bei all dem immer wieder unter den Tisch fällt: Im September/Oktober 1977 gab es eine Verschiebung innerhalb des Staatsapparats, die der klassischen Analyse von Nicos Poulantzas (»Faschismus und Diktatur«, Trikont, München 1970) entsprach. Die politische Polizei nahm eine dominante Position im Entscheidungsablauf des Staates ein. Das Bundeskriminalamt führte Regie, nicht nur in den Krisenstäben, sondern auf allen Ebenen der für die Situation relevanten Organe, mit Konsequenzen, die weit über die Prämissen der Notstandsgesetze hinausgingen. Als einer von wenigen erfasste Pieter Bakker Schut diesen Prozess in seinem Buch »Stammheim« (Neuer Malik-Verlag 1986), der bis jetzt ausführlichsten Analyse der politischen Eskalation, die zum »Deutschen Herbst« führte.

Bakker Schut, der vor zehn Jahren starb, war Rechtsanwalt mehrerer Inhaftierter aus der RAF und Mitbegründer des Internationalen Komitees zur Verteidigung politischer Gefangener. Als Ergänzung zu seiner Stammheim-Analyse veröffentlichte er Briefe von Gefangenen aus der RAF und Dokumente zu polizeilichen, justiziellen und medialen Maßnahmen (»Das Info«, Neuer Malik-Verlag 1987, und als Hg. »Todesschüsse, Isolationshaft …«, Verlag Libertäre Assoziation 1985; beide auf socialhistoryportal.org/raf). Nicht, dass damit die Geschichte der RAF schon geschrieben wäre, aber die Bücher Bakker Schuts geben sicher einen besseren Einblick in den »Deutschen Herbst« als alles, was in diesem Jahr auf den Markt gekommen ist.

junge Welt 17.10.17