Der Nakba gedenken heißt Solidarität mit dem Widerstand

Stellungnahme der Zentralen Leitung der KO
vom 13. Mai 2023

„Unsere Revolution ist eine Revolution der Menschen“, mit diesem Ruf führten die Kinder von Khader Adnan die Demonstrationen in Jenin letzte Woche an, wenige Tage, nach denen ihr Vater nach 87 Tagen Hungerstreik in israelischer Haft gestorben ist. Khader Adnan starb, weil er sich weigerte, einer von fast 5000 politischen Gefangenen in den Gefängnissen der Besatzung zu sein. Er starb, weil er auf einem Leben in Freiheit und Würde bestand. Nacht für Nacht fallen die Soldaten der Besatzungsmacht in palästinensische Städte und Dörfer ein und rauben die Söhne und Töchter Palästinas. Wie auch Khader Adnan kommen viele von ihnen in sogenannte „Administrativhaft“, eine Haft ohne Anklage, die unbegrenzt verlängert werden kann. Seit 1967 hat Israel mehr als 800 000 Palästinenser in den besetzten Gebieten durch Militäranordnungen inhaftiert. Das bedeutet: 20% der Palästinenser in den besetzten Gebieten waren in israelischer Haft, von der männlichen Bevölkerung sogar 40%. Der Begriff der Militärbesatzung ist nicht geeignet, um das ganze Ausmaß dessen zu erfassen, was die zionistische Militärmacht in Palästina tut. Es handelt sich nicht um die vorübergehende Besatzung eines Gebietes, sondern um die Kolonisierung des gesamten Gebietes des historischen Palästinas, vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer. Häuserzerstörungen, Schüsse von Scharfschützen auf Streikende, gezielte Hinrichtungen, Belagerung und die Bomben, die in diesem Moment wieder auf Gaza regnen, all das sind verschiedene Ausdrücke ein und derselben kolonialen Logik. In dieser Logik sind Palästinenser notwendig eine „demographische Bedrohung“. So bezeichnet Israel Palästinenser – und als eine solche bekämpft Israel Palästinenser.

Gegen die Phrase des Existenzrechts

Israel ist ein Kolonialprojekt mit westlichen, imperialistischen Wurzeln und die Bourgeoisie des Landes versucht ihre Herrschaft auf verschiedenste Weise zu verschleiern. Die Unterdrückung der Palästinenser und die Fortführung der kolonialen Herrschaft sollen gerechtfertigt werden durch den Verweis auf eine notwendige Insel des Schutzes für Juden. Aber Israel ist ein Land in Angst: hochmilitarisiert, überwacht, gespalten, mit zweieinhalb Jahren Wehrpflicht für Männer und zwei Jahren für Frauen. Es konnte nie ein Land sein, das Sicherheit für jüdische Leben bietet, weil es seit seinem ersten Tag auf Gewalt und Vertreibung setzt. Dies konnte nur zum gewaltsamen Widerstand gegen die Vertreiber führen. Die Annahme, dass die einzige Antwort auf Antisemitismus ein „jüdischer“ Staat sein kann, hat nie gestimmt. Es ist eine Lüge der Kolonialisten und Kapitalisten, dass jüdisches Leben nur in einer jüdischen Mehrheitsgesellschaft sicher sein kann und dass Palästinenser eine Bedrohung darstellen. Für diese Lüge war der Zionismus bereit, mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas zu vertreiben, mehr als 500 Dörfer zu zerstören und zwischen 1947 und 1949 etwa 15000 Palästinenser u.a. in Massakern zu ermorden. Diese Katastrophe des palästinensischen Volkes, die Nakba, war der Versuch, Palästina zu dem „Land ohne Volk“ zu machen, was es angeblich schon gewesen sei. Die Nakba war kein Unfall, sie war ein geplanter und notwendiger Schritt zur Herstellung der demographischen Verhältnisse, die Voraussetzung für den zionistischen Staat waren.

Heute leben in dem Gebiet des historischen Palästinas ca. 7,5 Millionen Menschen. Etwa 51% von ihnen sind Palästinenser. Wer glaubt, dass nur eine demographische Mehrheit Sicherheit bringt, der muss Palästinensern in der Konsequenz ihre demokratischen Rechte verweigern, der muss ethnische Säuberungen befürworten. Ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels ist ein Bekenntnis zu fortgesetzter Vertreibung und ethnischer Säuberung, zu Belagerung und Bombardierung und zu Siedlerkolonialismus, der bis heute nicht aufhört zu töten. Wir bekennen uns dazu, diesen Staat als Gegner der palästinensischen und internationalen Arbeiterklasse zu bekämpfen. Dieser Staat war und ist nicht die Voraussetzung für ein Leben in Sicherheit und Frieden seiner Bewohner, ganz im Gegenteil: Seine Zerstörung ist es.

Die aktuellen Proteste und der Schein der Demokratie

Die aktuelle Protestbewegung in Israel ist kein Hoffnungsträger. Ihr Ruf nach „Demokratia“ ist kein Ruf danach, allen Menschen, die heute unter israelischer Kontrolle stehen – und das hieße auch den Menschen in Gaza und dem Westjordanland – eine Stimme zu geben. Erst wenn die palästinensische Bevölkerung so weit reduziert wurde, dass sie zu einer Minderheit geworden ist, wird es überhaupt aus Sicht des Zionismus denkbar, sie mit den gleichen bürgerlichen Rechten, so lächerlich sie auch im Vergleich zu einer wirklichen Arbeiterdemokratie sind, auszustatten. Im Siedlerkolonialismus sind Demokratie und ethnische Säuberung keine Gegensätze, sondern Letzteres ist Voraussetzung für Ersteres. Für Palästinenser geht es bei dem aktuellen Machtkampf in Israel um nicht mehr als eine Auseinandersetzung darüber, wer sie unterdrückt. Es waren sogenannte „linke“ Regierungen, unter denen der Siedlungsbau massiv voran ging, es waren Gewerkschaften, die tragend für das Prinzip der „hebräischen Arbeit“ und damit die Vertreibung von Palästinensern waren und es war eine angeblich „sozialistische“ Kibbutzbewegung, die zentral für den Landraub durch die Zionisten war. Einen grundlegenden Unterschied zwischen liberalem und rechtem Zionismus zu behaupten, verschleiert die Kontinuität von Vertreibung, Gewalt und Kolonisierung, die diesem Staat seit seinen Anfängen eingeschrieben ist.

Ein Volk von Bauarbeitern

Zwischen Jordan und Mittelmeer gibt es kein Gebiet, was nicht unter israelischer Kontrolle steht. Entsprechend muss auch die Ökonomie des israelischen Siedlerkolonialismus zusammenhängend im gesamten Gebiet untersucht werden. Gaza ist ein Testgelände für israelische Waffen, die dann als „im Einsatz erprobt“ vermarktet werden. Tausende Palästinenser, die täglich die Checkpoints überqueren müssen, sind das Material mit dem künstliche Intelligenzsysteme zur Gesichtserkennung und Erkennung von Bewegungsmustern gefüttert werden, während israelische Soldaten das Programm korrigieren und so trainieren. Die palästinensische Arbeiterklasse bildet eine besonders unterdrückte Reservearmee für die israelische Ökonomie, zu Tausenden überwindet sie täglich die Mauer, um legal und illegal in Israel zu arbeiten. In den härtesten Jobs, viele als Tagelöhner, meist ohne jeden Versicherungsschutz. Eine Armee von Arbeitern, entrechtet und entwürdigt, deren Reproduktionskosten zum größten Teil durch internationale Institutionen gedeckt werden. Die ursprüngliche Akkumulation, der Raub von Produktionsmitteln und Land, die Schaffung der Arbeiterklasse, die nichts hat als ihre Arbeitskraft, ist in Palästina keine ferne Vergangenheit, sondern Gegenwart und Alltag. Es sind Palästinenser, die ihres Landes und ihrer Produktionsmittel beraubt, dazu gezwungen sind ihre Arbeitskraft an die Kolonialherren zu verkaufen und die immer weiterwachsenden Siedlungen zu errichten

Vereint im Widerstand

In dieser Realität liegt auch die stärkste Waffe der Palästinenser gegen die koloniale Unterdrückung: Wenn es gelingt, diese Macht der Arbeiter zu organisieren, so wie es auch in der Vergangenheit, allem voran in der ersten Intifada, immer wieder gelang, dann ist das palästinensische Volk in der Lage, die zionistische Kolonialmacht ins Wanken zu bringen. Dabei gingen und gehen verschiedene Formen des Widerstands miteinander einher.

Angesichts der Realität des fortgesetzten Siedlerkolonialismus weigern wir uns, die Frage zu diskutieren, ob bewaffneter Widerstand „legitim“ ist. Er ist notwendig. Die Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, sind: Was ist notwendig für die Befreiung Palästinas? Welche Strategie und Taktik braucht es? Welche Organisation kann den Kampf anführen? Ein freies Palästina, das ist kein Traum und keine Phrase, es ist eine konkrete Aufgabe.

Der einzige Staat, der für die palästinensischen Arbeiter und Bauern wirklich Freiheit bedeuten kann, ist ein sozialistischer Staat. Nur in einem solchen Staat kann neben der nationalen Unterdrückung auch die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung überwunden werden, in einem sozialistischen Palästina, in dem die Bevölkerung unabhängig von Glauben oder ihren Wurzeln friedlich miteinander leben kann. Die Frage des Sozialismus kann in dem Gebiet des historischen Palästinas nicht von der nationalen Befreiung der Palästinenser getrennt werden. Die Frage, wie sich der Kampf um nationale Befreiung und der Kampf um die proletarische Revolution in Palästina gegenseitig befruchten können, wie daraus ein einheitlicher Kampf werden kann, muss insbesondere von den Kommunisten Palästinas beantwortet werden.

Deutsche Kolonialprofiteure

Unser Kampf gegen die Kolonisierung Palästinas beginnt hier. Der deutsche Imperialismus gehört zu den wichtigsten Verbündeten der israelischen Kolonialmacht. Die EU ist Israels wichtigster Handelspartner. Die BRD stabilisiert die Kolonisierung, indem sie einen erheblichen Anteil der Reproduktionskosten für die palästinensische Arbeiterklasse übernimmt und so den Preis der palästinensischen Arbeitskraft für Israel weiter drückt. Deutschland kauft Waffen von und verkauft Waffen nach Israel. In dem Sondervermögen der Bundeswehr sind rund 150 Millionen Euro für Heron Drohnen des israelischen Herstellers Elbit vorgesehen, der auch in Ulm produziert wird und dessen Erzeugnisse regelmäßig in Gaza eingesetzt werden. Zahlreiche große deutsche Unternehmen profitieren nachweislich direkt von der Kolonisierung Palästinas. Darunter ist Heidelberg Zement, eines der weltweit größten Baustoffunternehmen, das Steinbrüche auf geraubtem palästinensischem Land betreibt und das Material liefert, aus dem israelische Gefängnismauern errichtet werden. Siemens liefert Schnellzüge an Israel, die durch das besetzte Westjordanland fahren und stellt zugleich Kontrollsysteme zur Überwachung von Straßen und Siedlungen her sowie technische Ausrüstung für israelische Gefängnisse. Die bei Protesten häufig eingesetzte chemische Waffe „Skunk“, die zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt wird, wird von Fahrzeugen der Firma MAN versprüht und die Trennmauer wurde mit Kränen und Transportern von Liebherr errichtet.

Repression und Antipalästinensischer Rassismus in Deutschland

Gleichzeitig ist Palästinasolidarität in der BRD massiver Repression ausgesetzt. Einer unserer Genossen stand vor wenigen Monaten wegen Verwendung eines Kennzeichens palästinensischer Organisationen vor Gericht. Er hatte ein Schild mit der Aufschrift „From the river to the sea – Palestine will be free“ hochgehalten. Eine legitime Forderung von zahlreichen Palästinensern als Terrorkennzeichen zu verleumden, entspricht genau der Richtung, die auch eine eigens bei der Innenministerkonferenz 2022 einberufene Arbeitsgruppe zu „antiisraelischer“ Hetze einschlägt. Diese will sogar das Zeigen der palästinensischen Landkarte verbieten, da diese „das Existenzrecht Israels in Frage stellen“. Palästinensern in Deutschland wird nicht nur die Geschichte ihres Volkes strittig gemacht, sondern ihnen wird systematisch auch ihre Menschlichkeit abgesprochen. Der Schmerz über Familienangehörige und Freunde, die von der Kolonialmacht inhaftiert, verwundet und getötet wurden, darf nie einfach sein. Besonders hart trifft Repression Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Israel als Staatsräson, dass bedeutet auch, dass von Palästinensern, deren Familien durch Israel vertrieben wurden, bei Beantragung der deutschen Staatsbürgerschaft ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels gefordert wird. Es ist eine konkrete Aufgabe hier Solidaritätsstrukturen zu schaffen, damit niemand mit dieser Repression allein gelassen wird. Im Mai letzten Jahres wurden in Berlin alle Proteste in Gedenken an die Nakba verboten. Das Verbot wurde mit Gewalt und systematischem Einsatz von racial profiling durchgesetzt. Auch in diesem Jahr wurden in Berlin die Nakba-Proteste untersagt. Bemerkenswert ist, dass sich die Verbotsbegründung dabei fast ausschließlich gegen die Teilnahme des Netzwerks für palästinensische Gefangene „samidoun“ stützt. Diesen Spaltungsversuch müssen wir entschieden abwehren. Wir weigern uns, uns in „gute“ und „schlechte“ Palästinasolidarität spalten zu lassen, wir weigern uns, uns von der Repression diktieren zu lassen, wie wir sprechen und welche Forderungen wir stellen.

Die Kollaboration von Teilen der palästinensischen Bourgeoisie mit der Kolonialmacht ist Realität. Im Tausch gegen Macht und Privilegien setzte die Autonomiebehörde zwei zentrale Anliegen der Besatzung um: Sicherheitskooperationen mit der Besatzungsmacht und die Durchsetzung neoliberaler Reformen in Palästina. Auch wenn Teile der Bourgeoisie heute auf der Seite des Widerstandes stehen, ist eine eigenständige Organisierung und Orientierung der Arbeiter notwendig. Der einzige Staat, der für die palästinensischen Arbeiter und Bauern dauerhaft Freiheit und Sicherheit bringen kann, ist ein sozialistischer Staat. Nur in einem solchen Staat kann neben der nationalen Unterdrückung auch die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung überwunden werden. Unsere Solidarität gilt dem Befreiungskampf des palästinensischen Volkes.

Hoch die internationale Solidarität!

Bis zur Befreiung und zur Rückkehr!

Für ein freies Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer!

Der militante Widerstand in Palästina
Der Widerstand in Palästina hat in den letzten Monaten eine neue Qualität erreicht. Es sind nicht länger Aktionen von Einzelnen, sondern organisierte Brigaden, die vor allem Soldaten und Checkpoints angreifen. Immer wieder gelingt es ihnen nach erfolgreichen Aktionen unbeschadet zu entkommen. Als die Armee in den letzten Tagen mit massiven Mitteln in Tulkarem und Nablus einfiel, gelang es diesen Gruppen eine der hochgerüstetsten Armeen der Welt aus ihren Vierteln und Häusern zu vertreiben. Was sie neben ihrem organisierten Vorgehen auszeichnet, ist, dass sie sich klar gegen die Palästinensische Autonomiebehörde richten und Spaltungslinien entlang verschiedener Parteien hinter sich lassen. In der „Löwenhöhle“ in Nablus und in den Brigaden in Jenin, Tulkarem und Jericho kämpfen Angehörige von Fatah und Hamas, von PFLP und islamischem Jihad Seite an Seite. Als Gaza nach 36 Stunden nach Beginn des israelischen Angriffs auf den unter Blockade stehenden Gazastreifen Raketen zurückschoss, waren das keine „Hamas-Raketen“, sie wurden von dem gemeinsamen Einsatzraum der Widerstandsfraktionen (Joint Operations Room) koordiniert. Dieser Widerstand stützt sich auf eine breite Massenbasis unter den Palästinensern. Diese Basis fehlt der palästinensischen Autonomiebehörde völlig. Ohne jede demokratische Legitimierung agiert sie als Verwalterin und Repressionsorgan der zionistischen Kolonialmacht. „Mal ist es die Autonomiebehörde und mal ist es die Armee“, wird auf den Demonstrationen im Westjordanland gerufen.

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