Die Al-Aqsa Flut – Der Gefängnisausbruch des palästinensischen Volkes

ir alle werden die Nachrichten des Morgens des 7.Oktobers noch lange im Kopf behalten.Die palästinensische Nationale Befreiungsbewegung startete an diesem Tag eine großangelegte Operation gegen die israelische Besatzung. Die Operation „Al-Aqsa Flut“ wird von 14 Organisationen organisiert und durchgeführt. An mehreren Stellen in Gaza wird der israelische Grenzzaun durchbrochen und es kommt zu der von vielen Seiten als „Gefängnisausbrauch“ bezeichneten Rückkehr von palästinensischen Militanten in ihre Heimat.

Seitdem wurden alleine in der Tagesschau über 100 Artikel, Reportagen und Berichte veröffentlicht. Sie alle verfolgen dieselbe Erzählung: Hamas-Terroristen greifen unschuldige Israelis an und das demokratische Herz des Mittleren Osten, Israel, verteidigt sich gegen die Invasoren. Nicht nur in der deutschen Linken stößt diese Haltung auf Anklang, auch türkische und kurdische Linke greifen die Positionen der imperialistischen Herrscher auf. Während in so manchen „antifaschistischen“ Kreisen die Opfer des Krieges gegeneinander aufgewogen werden und ganz nach der Politik der israelischen Besatzung für sie jeder tote Israeli zehn tote Palästinenser:innen wert ist, wollen wir nicht nur eine Perspektive der antiimperialistischen Jugend bieten, sondern alle Teile der Linken kritisieren, die gewillt sind, die reaktionären Teile dieses Aufstandes den revolutionären und fortschrittlichen überzuordnen.

Der Gazastreifen, Freiluftgefängnis und revolutionäre Zelle

Der Gazastreifen, 365 km², auf denen über 2 Millionen Menschen seit über 15 Jahren eingesperrt sind, hat nicht mal die Größe Hamburgs. Seit 2007 ist der Gazastreifen fast vollständig von der Außenwelt isoliert. Die zionistische Besatzungsmacht Israel kontrolliert – außerhalb von wenigen Schmuggelrouten – den kompletten Warenimport und -export, genauso wie die Ein- und Ausreise aller in Gaza lebenden Personen. Die Arbeitslosenquote liegt dort bei über 50%. Fast monatlich gab es im letzten Jahr Raketenangriffe auf zivile Infrastruktur: Der Großteil des Wassers ist verschmutzt, die Stromversorgung ist unregelmäßig und entscheidende Rohstoffe wie Beton, um zerstörte Häuser wieder zu errichten, oder Medizin, um von Raketen oder anders verwundete und kranke Menschen zu heilen, schaffen es nicht über die Grenze. Das ist die Realität von Gaza und deswegen wird es auch zurecht als größtes Freiluftgefängnis der Welt bezeichnet. Aber was haben die Menschen von Gaza verbrochen, um in dieses Gefängnis eingesperrt zu gehören? Sie sind Palästinenser:innen, und noch dazu welche, die nicht bereit sind, ihre Heimat widerstandslos zu verlassen, die verbunden mit der Erde und dem Blut der vielen Tausenden von Unsterblichen sind, die in den 75 Jahren Besatzung von Israel ermordet wurden. Sie sind Verbrecher, denn immer wieder wagen sie es aufzustehen. Sie erinnern die Welt, die arabischen Regierungen und die Besatzer an ihre Grausamkeit und fordern, trotz aller Bemühungen der Imperialisten mit ihrer unerhörten Dreistigkeit, immer noch Gerechtigkeit. Die zweite Intifada und der Aufstand der Bevölkerung Gazas 2018 in den Rückkehrmärschen zur Grenzbarrikade, in der über 223 Menschen ermordet wurden, zeigen uns welche Rolle die Bevölkerung Gazas im letzten Jahrzehnt eingenommen hat.

Operation „Al- Aqsa Flut“

Angeführt durch die reaktionäre Hamas, aber unterstützt durch alle revolutionären und fortschrittlichen Organisationen Palästinas, überquerten die Militanten der verschiedenen Organisationen die innere Grenze und betraten das besetzte Palästina. Zahlreiche Stützpunkte der IDF wurden eingenommen und mehrere Siedlungen angegriffen. Die israelische Antwort hat nicht lange auf sich warten lassen. Am 8.10. erklärte der israelische Regierungschef Netanjahu Palästina den Krieg. Bei dieser, in den bürgerlichen Medien oft als Invasion bezeichneten Operation, handelt es sich in der Realität um einen landesweiten Volksaufstand der palästinensischen Widerstandsbewegung. Es ist eben kein Krieg, keine Auseinandersetzung zweier Staaten, sondern ein unterdrücktes Volk das sich erhebt, abgesehen davon kann man in seiner eigenen Heimat kein Invasor sein.

Was vereint das palästinensische Volk?

Seit dem Jahr 2021 gibt es eine Renaissance des bewaffneten Widerstands in Palästina. In den Protesten um Sheikh Jarra trat vor allem die Jugend in den Vordergrund. Es ist die Generation nach Oslo, die Generation, die während der zweiten Intifada geboren wurde, der jede Hoffnung auf ein befreites Palästina aberzogen werden sollte. Seitdem hat sich vor allem im Westjordanland eine starke Zusammenarbeit der verschiedenen politischen Parteien entwickelt.

Wenn wir von der Operation „Al-Aqsa Flut“ sprechen, ist die Solidarisierung mit dem palästinensischen Befreiungskampf eine bewusst gewählte Formulierung, da dieser, wie bereits dargestellt,keine homogene Struktur ist. Wie unsere Genossin Arzu Demir, die in der Revolution in Rojava zahlreiche Erfahrungen gesammelt hat, schreibt, ist das die verschiedenen Gruppen vereinende Hauptziel des Widerstandes der Kampf gegen den israelischen Zionismus und nicht das jüdische Volk. Die Einordnung der Hamas als reaktionäre Kraft ändert jedoch nichts daran, dass gerade die gewaltvolle Besatzung und Unterdrückung Gazas durch den zionistischen Staat und die jahrzehntelange Bekämpfung fortschrittlicher Organisationen, genauso wie der Verrat von Oslo (Abkommen von 1993 über die „Selbstverwaltung“ Palästinas) durch die PLO, die Grundlage für die Existenz und Stärke der politisch- islamischen Parteien in Palästina bilden. Wir können also getrost sagen, nicht die Existenz der Hamas bestimmt, wie oft berichtet, die Aggression Israels, sondern die Existenz der Besatzung und ihr Kampf gegen jede fortschrittliche Kraft in der Region, bestimmen die Existenz der Hamas als eine führende Kraft des Widerstands. Es ist an uns uns an die Seite von PFLP und DFLP zu stellen, ihre fortschrittlichen Programme zu unterstützen und so ihre Position im Kampf zu stärken.

Zivile Opfer, Gewalt und Doppelmoral

Bilder wie die eines Technofestivals, welches in der Nähe des Gazastreifens stattfand, bei dem, Berichten zufolge, 260 feiernde Menschen in einem Angriff der Hamas getötet worden sind, sind natürlich schockierend, genauso wie die Bilder einer entblößten Leiche einer IDF-Soldatin, was ganz klar auf ihr Frau-sein abzielt. Natürlich befürworten wir nicht die unnötige Ermordung von Zivilist:innen durch politisch-islamische Kräfte wie die Hamas und erst Recht keine patriarchalen Kriegspraktiken. Trotzdem ändert das nichts an der Legitimität des Befreiungsschlags.

Es schockiert uns nicht nur dann, wenn die Opfer solcher Gewalt Israelis sind und vor allem ist weder die Gewalt noch die Berichterstattung darüber gleichmäßig verteilt. Nur ungern werden der zionistische Staat und seine Unterstützer an ihre eigenen Taten erinnert, an Schatila, an Eilaboun, an Saliha oder an Safsaf, wo 70 Männer des Dorfes der Reihe nach aufgestellt, erschossen und anschließend mehrere Frauen vergewaltigt wurden. Im Anschluss an diese Verbrechen sagte Yosef Nachmani, ein Offizier der Haganah (Vorgänger Organisation der IDF): „Woher kommt dieses Maß der Grausamkeit (der Haganah- Soldaten), wie Nazis? … Gibt es keinen menschlicheren Weg, die Einwohner (der palästinensischen Dörfer) zu vertreiben?“

Menschlichkeit und Unmenschlichkeit

„Jeder Kampf hört auf gerecht zu sein, wenn Menschen dafür sterben müssen“ – immer wieder wurde dieser Satz in den letzten Tagen gesagt oder gedacht: Selbst von denen, die vorgeben gegen Kolonialismus und Apartheid zu sein, jene, die es nicht übers Herz bringen das Recht der Palästinenser:innen auf Selbstbestimmung abzuerkennen und es stattdessen neutralisieren wollen. Die Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker ist grundsätzlich unterschiedlich. Denn während der palästinensischen Nation jedes Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen wird und sogar Kinder für das Werfen von Steinen ins Gefängnis kommen oder, noch schlimmer, erschossen werden, wird Israel jedes Recht zugesprochen seine „Sicherheit“ zu verteidigen.

Wo waren all die Humanisten, die heute aufschreien, als 2021 die Menschen in Sheikh Jarra aus ihren Häusern geworfen wurden? Als Anfang des Jahres in Razzien 11 Menschen in einer Nacht von israelischen Soldaten massakriert wurden? Wo war der Aufschrei, als die Besatzung sich weigerte, die Leiche von Muhammad Rumaneh letzte Woche an seine Familie zu übergeben? Die Leute, die heute aufschreien und über die Brutalität der Hamas klagen, sollten sich fragen: Was ist das für ein Land, in dem mehrere Tausend Menschen eine Party feiern, während ein paar Kilometer weiter seit Jahren Raketen einschlagen und Menschen nicht wissen, wie lange sie überhaupt noch unter der Isolation überleben können? Während das Recht der Unterdrücker auf Menschlichkeit von ihnen waghaft verteidigt wird, wird den Unterdrückten die Unmenschlichkeit angehangen.

„Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird weder Strom, Essen noch Benzin geben. Alles ist zu. (…) Wir bekämpfen menschliche Tiere und dementsprechend handeln wir.“ – Israelischer Verteidigungsminister Yoav Gallant.

Die palästinensischen Widerständigen haben weder die Kräfte noch das Ziel, einen Völkermord der jüdischen Bevölkerung Palästinas durchzuführen. Aber die Umzingelung von Gaza, die Angriffe auf die seit Jahren ausgehungerten und demolierten Flüchtlingslager, die Entmenschlichung von Palästinenser:innen in den Medien und durch führende israelische Politiker:innen sowie die jahrezehntelange Aufrüstung des israelischen Militärs schaffen objektiv eine extreme Verschärfung der Gefahr eines Massakers im Gazastreifen, dessen Zahlen nicht im Bereich der Hunderten bleiben werden.

Es ist außerdem wichtig zu erwähnen, dass es sich bei den Bewohner:innen der „Kibutzen“ (zionistische Siedlungen mit Kollektiv-Wirtschaft) nicht einfach um Zivilist:innen handelt. Sie sind der Stoßtrupp, der, in den meisten Fällen bewaffnet, von der IDF gedeckt die Kolonialisierung Palästinas vorantreibt. Jedes einzelne Kibutz steht für ein zerstörtes palästinensisches Dorf und hunderte ermordete und vertriebene Palästinenser:innen.

Die Gewalt der Unterdrückten

Kommen wir nochmal auf diesen Satz zurück „Jeder Kampf hört auf gerecht zu sein, wenn Menschen dafür sterben müssen“. Nicht nur in Palästina findet er Verwendung im Bezug auf revolutionäre Bewegung, auch im Bezug auf Türkei und Kurdistan findet dieser Satz zu oft seine Anwendung. Aber diejenigen, die uns der Grausamkeit bezichtigen, möchten wir fragen: Wo wäre Rojava, wo wäre das kurdische Volk heute ohne die Anwendung von Gewalt? Ohne sich selbst und andere zu opfern? Ohne Aktionen wie Ankara, in denen sie den Faschismus ins Herz treffen und Opfer riskieren. Wenn wir jede Bewegung und jedem Volk, das zivile Opfer für seine Befreiung verursacht hat, das Recht und Legitimität ihrer Forderung absprechen und sie mit ihren Unterdrückern gleichsetzen, dann würden wir ganz handlungsunfähig werden. Und das trifft überall zu. Auch in Palästina und auch bei der Operation „Al-Aqsa Flut“. Wir wollen hier nochmal Arzu Demir zitieren:„Was die Gewalt der Unterdrückten anbelangt, so ist es sehr schwierig, eine reine, verfeinerte Form der Gewalt zu finden. Dies sollte das Ziel sein, aber das Gewicht der Besatzungskriege, das Leben, verschiebt den Kampf ständig an einen anderen Punkt … Dieser Humanismus (der Bürgerlichen) hat kein anderes Ergebnis als die Entwaffnung des palästinensischen Volkes. In einer Situation, in der der zionistische Staat bis an die Zähne bewaffnet ist, bedeutet die Entwaffnung Palästinas nichts anderes als eine Kapitulation.“

Die Zärtlichkeit der Völker gegen die Einheit der Kolonialisten!

Nicht nur in Palästina findet ein Krieg statt, auch in Rojava verlieren aufgrund des agressiven türkischen Angriffkriegs tausende Menschen ihre Häuser. Gleichzeitig sind über einhunderttausend Menschen auf der Flucht von Bergkarabach nach der Besatzung und einem drohenden Völkermord der azerbaijanischen Regierung. Nachdem sich Azerbaijan schon mit Israel solidarisierte, konnte der faschistische Chef Erdoğan sich das noch nicht leisten. Er mahnt stattdessen beide Seiten zur Ruhe. Die Strategie der Kolonialisten und allen voran des Erdoğan-Regimes war schon immer die Völker gegeneinander aufzubringen. Während Erdogan zwar vermeintliche Solidarität mit dem palästinensischen Volk bekundet, macht er Geschäfte mit dessen israelischen Besatzerregime. Zeitgleich, schürt er den türkischen Chauvinismus gegenüber Kurd:innen und Araber:innen innerhalb seiner eigenen Bevölkerung und innerhalb von Rojava versucht er, einen Keil zwischen die Völker zu treiben, in dem er, wie in Deir-Al-Zor, seine faschistischen Söldnerbanden, die versuchen die arabischen Stämme in der Region gegen die Autonomieregierung aufzubringen. Sein schlimmster Albtraum ist nach wie vor eine vereinte Front der Völker, die in den Kampf gegen sein Regime zieht.

Doch nicht nur im Mittleren Osten ist das zutreffend. Auch hier in Deutschland wird immer agressiver gegen Migrant:innen gehetzt, Araber:innen als Importeure von Antisemitimus dargestellt und immer mehr Revolutionär:innen, ob palästinensisch, kurdisch, tamilisch oder deutsch, ins Gefängnis gesteckt. Jüd:innen, die sich mit dem Befreiungskampf in Palästina solidarisieren, wird das Wort verboten und ihre jüdische Identität einfach „aberkannt“; jeder Aktion eines/einer Palästinenser:in wird automatisch Antisemitismus unterstellt und sich dafür sogar die absurdesten Lügen ausgedacht. Was dahinter steht ist für uns klar: Wenn wir zusammenarbeiten, sind wir ihr größter Alptraum. Deswegen stehen wir auch heute und jeden Tag für die Zärtlichkeit der Völker und die Geschwisterlichkeit aller Arbeiter:innen und Unterdrückten ein und rufen auch in diesem Geiste: Vom Fluss bis zum Meer, Freiheit für Palästina, Freiheit für alle Unterdrückten dieser Welt!