FALL LINA E. Charakteristische Merkmale

»Antifa Ost«-Verfahren: Von Anklage bestellte Gutachterin präsentiert Ergebnisse von morphologischer Analyse eines Überwachungsvideos
Von Henning von Stoltzenberg

Nach einer mehrwöchigen Pause über die zurückliegenden Feiertage ist das Verfahren gegen die Antifaschistin Lina E. und drei weitere Nazigegner vor dem Oberlandesgericht (OLG) Dresden fortgesetzt worden. Alle vier sind als vermeintliche Mitglieder einer »kriminellen Vereinigung« nach Paragraph 129 Strafgesetzbuch angeklagt und sollen in mehreren Fällen Angriffe auf Neonazis durchgeführt haben. Ein morphologisches Gutachten, in welchem Videoaufnahmen analysiert wurden, soll die Angeklagte E. nun laut Gericht belasten.

Während des Prozesstermins am Mittwoch vergangener Woche hat eine freiberuflich tätige Anthropologin den Zeugenstand betreten. Die Gutachterin sollte im »Antifa Ost«-Prozess im Auftrag des Gerichts klären, ob Lina E. auf Überwachungsvideos aus einem Zug zu sehen ist. Die Person in den Aufnahmen wird als »Frau mit Pudelmütze« bezeichnet. Sie sei den polizeilichen Ermittlern zunächst aufgrund ihres ausführlichen Telefonierens aufgefallen. Die Aufnahmen stammen aus einem Regionalexpress, der am Abend des 15. Februar 2020 von Dresden nach Leipzig fuhr.

Die Ermittler des Landeskriminalamtes Sachsen gehen derzeit davon aus, dass es sich bei der »Frau mit Pudelmütze« um die Angeklagte handelte, die während der Zugfahrt an der Planung eines Überfalls auf Teilnehmer eines neonazistischen Aufmarsches beteiligt gewesen soll. An jenem Februartag im Jahr 2020 waren mehrere Neonazis nach ihrem Ausstieg am Bahnhof Wurzen angegriffen und verprügelt worden. Bei ihnen handelte es sich um Teilnehmerinnen und Teilnehmer des besagten Aufmarsches. Mehrere Personen der Gruppe waren zum Zeitpunkt des Angriffs Mitglieder bei der NPD-Jugendorganisation »Junge Nationalisten«. Die sächsische Kleinstadt im Nordosten des Landkreises Leipzig gilt bereits seit vielen Jahren als Hotspot der Neonaziszene.

Die Gutachterin stellte nun vor Gericht das morphologische Gutachten vor, in dem Schnittbilder aus Videoaufnahmen aus dem Zug mit Bildern der Angeklagten verglichen wurden. Die Vergleichsbilder stammten unter anderem aus Überwachungsmaßnahmen, die gegen die 27jährige Angeklagte unternommen worden waren. Lina E. befindet sich bereits seit mehr als zwei Jahren in Untersuchungshaft.

Die als Sachverständige bestellte Anthropologin ging auf sogenannte charakteristische Merkmale ein, wie unter anderem der MDR berichtete. Der Gutachterin zufolge stimmen diese im Gesichtsbereich unter anderem an Nase, Mund, Augen und Ohren zwischen der »Frau mit Pudelmütze« und der Angeklagten überein. Insgesamt seien es 108 solcher identifizierenden Merkmale. Zwar habe die Gutachterin die Aufnahmen aus dem Zug dem Sender zufolge als gerade einmal mittelmäßig bezeichnet. Dennoch gehe sie davon aus, dass Lina E. wahrscheinlich die Frau aus dem Regionalexpress sei.

Die Verteidigung bestreitet dies und hält auch das vorgetragene Gutachten für äußerst zweifelhaft. Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff kritisierte, dass das Urteil über das Gutachten zwar auf der langjährigen Expertise der Gutachterin fuße, es für diese jedoch keinerlei quantifizierbare und nachvollziehbare wissenschaftlich überprüfbare Skala gebe. Das Gericht wies die Kritik als unbegründet zurück.

Bisher stützte sich die Generalbundesanwaltschaft für den Vorwurf der Tatbeteiligung gegen Lina E. vor allem auf ein Indiz: Ein bei ihr gefundener Audioplayer sei jenes Gerät, welches die »Frau mit Pudelmütze« im Zug mit sich führte. Ein Digitalforensiker des Fraunhofer-Instituts für Sichere Informationstechnologie aus Darmstadt sowie ein Spezialist des Bundeskriminalamtes hatten Ende des vergangenen Jahres jedoch während eines Prozesstermins übereinstimmend ausgeschlossen, dass sich dies anhand der vorhandenen Bilder einfach behaupten lassen könnte. Die Qualität der Videoaufzeichnungen sei schlicht zu mangelhaft.

Das am Mittwoch vergangener Woche vorgetragene morphologische Gutachten lenkt den Schwerpunkt der Anklage nun wieder in eine andere Richtung: Um die Beteiligung von Lina E. an dem Angriff in Wurzen nachweisen zu können, sollen während der kommenden Prozesstermine noch weitere Beweisanträge gehört werden. Das Verfahren wurde am Donnerstag fortgesetzt. Das OLG Dresden hat über weitere Termine zur Fortsetzung der Hauptverhandlung im April und Mai 2023 informiert. Für beide Monate sind insgesamt 15 Prozesstage anberaumt.

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