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Interview mit dem antifaschistischen Gefangenen Joel in Schweden

Dieses Interview erschien zunächst auf Englisch auf der Website www.kersplebedeb.com. Joel wurde im Juli 2014 wegen Mordversuchs, Landfriedensbruchs und Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Gefängnisstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilt. Zu der Verurteilung kam es in Zusammenhang mit der kollektiven Abwehr eines Nazi-Angriffs auf eine antifaschistische Kundgebung in Stockholm. Das Interview wurde im Herbst 2014 geführt. Die Fußnoten wurden zur Erklärung hinzugefügt.

Du wurdest in Zusammenhang mit einer antifaschistischen Kundgebung im Dezember 2013 in Kärrtorp, einem Vorort von Stockholm, verurteilt. Kannst du erzählen, was an dem Tag passiert ist?

In den Wochen vor der Kundgebung war es in Kärrtorp und in benachbarten Vororten zu reger neonazistischer Tätigkeit gekommen. Die Schwedische Widerstandsbewegung (Svenska motståndsrörelsen, SMR) versuchte, sich dort zu etablieren. Das fing mit üblichen Nazi-Sachen an wie dem Sprayen von Hakenkreuzen auf die Wände des lokalen Gymnasiums und setzte sich mit physischen Angriffen auf Menschen fort, die nicht ins nazistische Weltbild passen – dabei wurden auch Messer verwendet.
Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass es das Netzwerk Linie 17 bereits vor der Kundgebung gab. In jedem Fall war es diese Initiative, die zur Kundgebung aufrief. (1) Es gab Hinweise darauf, dass Nazis eventuell auftauchen würden, um die Kundgebung zu stören, aber als ich mich am Morgen  umhörte, sah es so aus, als würde alles ruhig verlaufen. Da später am Abend noch ein Soli-Fest für einen inhaftierten Antifaschisten geplant war, wollte ich nur kurz in Kärrtorp vorbeischauen, um dann in die Stadt zu fahren und bei den Vorbereitungen für das Fest zu helfen. Ich fuhr also mit ein paar Freunden zur Kundgebung, wo wir etwa zehn Minuten verspätet ankamen.
Nur knapp fünf Minuten später kamen die Nazis. (2) Wir sahen sie aus etwa 150 Metern Entfernung. Chaos brach aus. Wir waren nicht vorbereitet und über den ganzen Platz verteilt. Wir hatten auch nur wenig, mit dem wir uns verteidigen konnten. Die Nazis begannen, jede Menge Flaschen auf uns zu werfen. Dass viele Kinder und Pensionäre auf dem Platz waren, schien für sie keine Rolle zu spielen. Sie nahmen schnell einen beträchtlichen Teil des Platzes ein, während wir uns zurückzogen.
Eine meiner stärksten Erinnerungen von dem Tag betrifft eine Polizistin, die zunächst zwischen uns und den Nazis stand und dann plötzlich wegrannte. Als ich später den Polizeibericht las, verstand ich, dass sie aufgrund all der geworfenen Flaschen ihren Helm holen wollte, aber just in dem Moment hieß das für mich, dass es jetzt wirklich gefährlich werden würde. Und damit meine ich lebensgefährlich. Alle wissen, wie schnell SMR-Mitglieder zu ihren Messern greifen. (3)
Nach der ersten Verwirrung gelang es, uns zu sammeln und einen Gegenangriff zu starten. Wir schafften es, ein weiteres Vordringen der Nazis zu verhindern, aber das reichte für uns nicht. Es bildete sich eine Art Frontlinie. Die Polizei hatte völlig den Überblick verloren und schlug auf uns mindestens so hart ein wie auf die Nazis. Alles war immer noch recht chaotisch, aber wir waren jetzt wenigstens besser koordiniert. Gerade als wir im Begriff waren, die Nazis zurückzudrängen, sah ich einen von ihnen mit gezogenem Messer. Ich bewegte mich auf ihn zu, verlor ihn aber aus den Augen. Es war deutlich, dass sich die Nazis nicht geschlagen gaben, sondern versuchten, verlorenen Boden wieder gutzumachen. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen und da sah ich wieder einen Nazi mit einem Messer. Wäre in der Situation einer von uns zu Boden gegangen, hätte es übel für ihn ausgesehen. So kam es zu den Messerstichen gegen den Nazi, der am weitesten vorne stand.
Inzwischen waren mehr Leute, die dem Angriff zunächst ausgewichen waren, auf den Platz zurückgekehrt. Sie halfen dabei, die Nazis abzudrängen – zuerst auf den Busbahnhof und dann an ein paar Häusern vorbei in den Wald. Polizeiverstärkung kam erst, als wir schon am Busbahnhof waren. Ich selbst ging nicht weiter als bis dorthin, weil ich mich am Knie verletzt hatte. Die Polizei bildete im Wald einen Kordon um die Nazis, um sie zu schützen. (4) Ich wartete auf dem Platz, bis alle meine Freunde zurück waren. Dann fuhr ich, wie geplant, in die Stadt, um bei den Vorbereitungen für das Fest zu helfen.

Du sagtest, dass es für euch nicht ausreichte, die Nazis aufzuhalten. Was meinst du damit?

Die Nazis kamen, um uns anzugreifen, und nicht, um eine Gegendemonstration abzuhalten, wie sie behaupten. Wäre es nach ihnen gegangen, hätten sie uns alle vom Platz gejagt und dabei am besten noch einige schwer verletzt. Es ging ihnen nicht nur darum, Menschen daran zu hindern, gegen sie Stellung zu beziehen, sondern die Aktion sollte auch der Propaganda dienen. Die Nazis wollten sich des Widerstands der Straße entledigen, um in diesem Teil Stockholms ungestört rekrutieren zu können, und das auf eine Weise, die zusätzlich für Propagandazwecke nutzbar war. Wer das nicht begreift, will die Realität nicht wahrhaben. Das funktioniert nicht nur in Kärrtorp so, sondern überall. Wenn wir nicht auf der Straße kämpfen, wo dann? Gut, ich will hier nicht zu weit ausholen, aber es ist wirklich wichtig zu betonen, dass es nicht ausreichte, die Nazis einfach aufzuhalten, sondern es musste deutlich werden, dass sie in Kärrtorp keinen Fuß auf den Boden bekommen.

Du sagtest auch, dass alle wissen, wie schnell SMR-Mitglieder zu ihren Messern greifen. Kannst du dafür ein paar Beispiele nennen?

Die Messerstechereien von SMR-Mitgliedern sind gut dokumentiert. Ungefähr ein Jahr vor der Attacke in Kärrtorp wurde ein junger Mann bei einem Streit mit SMR-Mitgliedern in Vallentuna, außerhalb Stockholms, erstochen. Nur wenige Tage vor der Kärrtorp-Attacke verletzten einige der Leute, die bei dieser dabei waren, ganz in der Nähe einen Mann schwer. Zudem hatte mindestens einer der Mörder des Gewerkschaftsaktivisten Björn Söderberg SMR-Verbindungen. (5) Die Beispiele ließen sich fortsetzen, aber dies sollte fürs Erste reichen. SMR versucht, auf Menschen – vor allem junge –  mit Revolutionsromantik Eindruck zu machen. Ihr Gemeinschaftsgefühl beruht eher auf Gewalt als auf Ideologie.

Wann wurdest du verhaftet?

Eine Woche später. Ich war gerade dabei, meinen Sohn von der Schule abzuholen.

Es scheint, als wärst du seit langem in der antifaschistischen Bewegung engagiert. Kannst du davon erzählen?

Ich wuchs während der 1980er und 90er Jahre in Linköping auf. In ganz Europa waren die Nazis zu jener Zeit am Vormarsch. In Schweden trieb der „Lasermann“ sein Unwesen und Ultima Thule führte die Hitparade an. (6) Auch an Linköping ging diese Welle nicht vorbei. Im Gegenteil. Linköping war ein Zentrum der Produktion extrem rechter Musik und mehrere Führungspersönlichkeiten der verschiedenen Nazi-Organisationen, die es damals in Schweden gab, lebten in der Stadt oder in ihrer Nähe.
Da ich in Chile geboren wurde, erlebte ich den Alltagsrassismus, der die schwedische Gesellschaft immer noch prägt, selbst. Als ich klein war, wurde ich von Nazis physisch angegriffen. Als ich älter wurde, begann ich, mich zu verteidigen und zurückzuschlagen. Ich merkte, dass das vieles erleichterte.
Mit 13 begann ich, auf Hardcore-Konzerte zu gehen. Die Hardcore-Szene war damals viel politischer als heute. 1995 traf ich bei einem Konzert einen Freund, der fragte, ob ich mit ihm nach Dänemark kommen wolle, um an der Demonstration gegen den Hess-Marsch teilzunehmen. Da brauchte er nicht zweimal fragen!
Diese Reise sollte große Bedeutung für mich haben. Vorher war mir nicht klar, dass es eine richtige antifaschistische Bewegung gab. Aber in Dänemark war alles großartig organisiert. Es waren jede Menge Leute aus allen Altersgruppen bei der Demonstration, und das änderte sich auch nicht, als es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei kam, weil wir versuchten, in die Nähe der Nazis zu gelangen. So wurde ich gewissermaßen in den Antifaschismus eingeweiht. Es dauerte eine Weile, bis ich mich selbst organisierte, aber ich wusste jetzt, dass ich Antifaschist war.

War die antifaschistische Bewegung in Dänemark besser organisiert als in Schweden? Hat sich das geändert?

Ich weiß nicht, wie gut die antifaschistische Bewegung zu jener Zeit in anderen Teilen Schwedens organisiert war. Ich weiß nur, dass es in Linköping keine Organisierung gab, oder zumindest merkte man davon nichts. Ende der 90er Jahre begann sich jedoch auch in Linköping eine außerparlamentarische Linke zu entwickeln.
Ich will hier nicht auf Einzelheiten eingehen, was meine eigene Organisierung betrifft, aber in der Bewegung tat sich bald eine ganze Menge. Die Recherche, die Rekrutierung, der Aufbau der Infrastruktur – überall wurden Fortschritte gemacht. Auf einer Ebene verpassten wir aber den Anschluss, nämlich auf der taktischen. Während die Nazis erfolgreich mit neuen Organisationsmodellen und Politikformen experimentierten, blieben wir alten Ideen verhaftet.

Wie sieht es heute mit der extremen Rechten in Schweden aus? Stellt sie eine große Gefahr dar?

Das kommt auf die Definition des Begriffs „extreme Rechte“ an. Die Schwedendemokraten sind mittlerweile die drittgrößte Partei des Landes. (7) Das muss wohl als Gefahr betrachtet werden. Im Allgemeinen entspricht die politische Entwicklung der des übrigen Europas. Extrem rechte Parteien sind auf dem Vormarsch.
Was nazistische Organisationen betrifft, so ist das Risiko, dass sie ins Parlament einziehen, gering. (8) Aber Nazis werden immer eine physische Gefahr für alle diejenigen darstellen, die Widerstand gegen sie leisten. Sobald sie in Ruhe gelassen werden, werden sie stärker. Wenn wir uns die letzten zehn Jahre anschauen, dann ist es offensichtlich, dass die Nazis in den Städten, in denen sie auf harten Widerstand gestoßen sind, ihre Aktivitäten einstellen mussten. Wer diesen Zusammenhang nicht sieht, hat ganz einfach keine Ahnung.
Antifaschistische Arbeit ist oft mühselig und manchmal mag sie zwecklos erscheinen, aber wenn wir eine Stadt wie Örebro als Beispiel nehmen, dann waren Nazis dort bis vor wenigen Jahren sehr aktiv und heute sind sie praktisch verschwunden. Andere Städte, wo militanter Straßenwiderstand deutliche Resultate gebracht hat, sind Linköping und Göteborg. In Stockholm ist es aus verschiedenen Gründen schwierig, große Erfolge zu erzielen, aber selbst dort sind die Nazis einige Male in die Defensive gedrängt worden.

International gilt Schweden immer noch als offenes und liberales Land. Wie passt das mit den extrem rechten Strömungen zusammen, die du beschreibst?

Ich denke, dass es in der Regel schlicht unter den Teppich gekehrt wird, wenn Nazis vom Wort zur Tat schreiten und Banken ausrauben oder Migranten umbringen. Und wenn das nicht funktioniert – wie im Fall von Malexander (9) oder Kärrtorp –, dann inszenieren die Politiker einen aus empörten Verurteilungen und Distanzierungen bestehenden Medienzirkus. So ergibt sich ein Bild, in dem Nazis entweder keine Rolle spielen oder die Politiker das Problem im Griff haben.

Wie sieht es mit den Perspektiven für die Linke in Schweden aus?

Ich nehme an, ihr meint die außerparlamentarische Linke. Das ist schwer für mich zu sagen – ich bin ja jetzt erst mal ein paar Jahre weg vom Fenster. Aber wenn es nach mir ginge, müsste es mehr Zusammenarbeit und deutlichere gemeinsame Ziele geben.

Zum Beispiel?

Ich finde es wichtig, in den Bereichen aktiv zu sein, die uns alle treffen und vor allem die Unterklasse. Ich denke etwa an die Privatisierung der Sozialwohnungen oder die zunehmend unsicheren Anstellungsverhältnisse. Ich finde auch, dass es wichtig ist, sich in kleineren Projekten zu engagieren, um ab und an Siege feiern zu können. Das stärkt die Moral und zeigt, dass sich tatsächlich etwas ändern lässt. Ein gutes Beispiel war die Kampagne gegen JobbJakt.

Worum ging es da?

JobbJakt ist eine Website, auf der Arbeiten angeboten werden. Vor einigen Jahren wollte man eine Funktion hinzufügen, die es Bewerbern erlauben sollte, sich gegenseitig in der Lohnforderung zu unterbieten. Also: irgendwer braucht einen Fliesenleger für sein Badezimmer, jemand bietet an, den Job für 150 Kronen die Stunde zu machen, dann geht der nächste auf 100 Kronen pro Stunde runter usw. Es ist klar, dass es sich hier um Lohndumping und ein arbeiterfeindliches Projekt handelt. Wir wollten verhindern, dass solche Praktiken in Schweden Fuß fassen. Und wir hatten Erfolg.

Du hast mehrfach die Bedeutung der Organisierung betont. Kannst du mehr dazu sagen?

Die Bedeutung der Organisierung versteht sich von selbst. Wenn wir zusammenarbeiten, sind wir stärker. Wie genau das aussieht, ist sekundär. Das kann in einer Band sein, in einer Gewerkschaft, in einer militanten Gruppe, in einer pazifistischen Gruppe, in einem Kulturhaus, in einem Sozialen Zentrum, in einem Verlag oder in einem Buchladen. Du musst auch keineswegs dein ganzes Leben der politischen Arbeit verschreiben. Aber gleichzeitig sollte die Organisierung nicht beim eigenen Projekt stehenbleiben. Wir müssen die Vielfalt unserer Bewegung nutzen und Netzwerke aufbauen. Im Moment wirkt die außerparlamentarische Linke kaum wie eine wirkliche Bewegung.

Wie sieht es für dich im Moment persönlich aus? Welche Form der Unterstützung hältst du als Gefangener für besonders wichtig?

Im Augenblick sitze ich in Kumla, wo ich auf eine Evaluierung warte. Kumla ist eine „Klasse-1-Haftanstalt“ hier in Schweden, also ein Hochsicherheitsgefängnis. Es ist davon auszugehen, dass ich nach meiner Evaluierung in ein anderes Hochsicherheitsgefängnis verlegt werde. (10)
Unterstützung? Ich wäre sehr froh, wenn sich mehr Menschen engagieren und vor allem organisieren würden.

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Willst du zum Abschluss noch etwas loswerden?

Lasst mich Madball zitieren: „Times are changing for the worse / Gotta keep a positive outlook / Growing up in such violent times / Have some faith and you’ll get by.“

Wer Joel Post schicken will, findet die aktuelle Adresse auf der Facebookseite „Free Joel“.

Anmerkungen:

(1) Das Netzwerk Linie 17 (Nätverket Linje 17) ist ein Netzwerk lokaler Stadtteilgruppen entlang des südlichen Teils der Stockholmer U-Bahn-Linie 17.

(2) Es handelte sich um etwa 30 SMR-Mitglieder.

(3) Während des SMR-Angriffs befand sich nur eine Handvoll Polizeibedienstete vor Ort.

(4) Die Polizei nahm 28 SMR-Mitglieder fest. Bisher wurden 16 von ihnen angeklagt und sieben von ihnen verurteilt. Die Höchststrafe liegt bei acht Monaten Gefängnis für Landfriedensbruch.

(5) Joakim Karlsson wurde am 21. September 2012 in Vallentuna ermordet. Fidel Ogu wurde am 7. Dezember 2013 in Hökarängen schwer verletzt. Björn Söderberg wurde am 12. Oktober 1999 vor seiner Wohnung in Sätra im Süden Stockholms ermordet.

(6) Vom August 1991 bis zum Januar 1992 verübte der „Lasermann“ John Ausonius eine Reihe von Anschlägen auf Menschen, die er als „Einwanderer“ auffasste (Ausonius verwendete anfangs ein Gewehr mit Laser-Zielvorrichtung, daher der Name); eine Person, der iranische Student Jimmy Ranjbar, starb, zehn weitere wurden schwer verletzt. Ultima Thule war eine populäre schwedische Rockband mit Verbindungen zur Neonazi-Szene.

(7) Bei der Parlamentswahl 2014 erhielten die Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna) 12.86% der Stimmen.

(8) Die Partei der Schweden (Svenskarnas parti), die vor wenigen Jahren noch Nationalsozialistische Front (Nationalsocialistisk front) hieß, nahm auch an den Parlamentswahlen 2014 teil; sie erhielt 0.07% der Stimmen.

(9) Am 28. Mai 1999 wurden in dem kleinen südschwedischen Ort Malexander zwei Polizisten von Neonazis erschossen; die Polizisten waren den Neonazis nach einem Bankraub gefolgt.

(10) Joel wurde kurz nach Abschluss des Interviews in das Hochsicherheitsgefängnis Tidaholm verlegt. Für Updates siehe die Facebookseite „Free Joel“.