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Interview mit dem politischen Gefangenen Andrew „Che“ Sokolov

1. Was ist dein politischer Weg? Was ist deine politische Idendität?
Von meiner sozialen Herkunft bin ich ein Arbeiter, ein Maschinist, ein Büchsenmacher. Durch meine politischen Ansichten bin ich ein russischer Revolutionär, ein Kommunist. Während meiner Jugend, war mein Weg von einem moderaten linken Aktivisten zu einem Radikalen der den bewaffneten Kampf unterstützt. Ich war Mitglied verschiedener linker Organisationen – von den Trotzkisten und KPRF [kommunistische Partei der Russischen Föderation], zur RCYL (b) [Revolutionärer Kommunistischer Jugendbund ({Bolschewiki)] und RCWP [Russische Kommunistische Arbeiterpartei]. Nach der Unterdrückung durch die Behörden im Jahr 1997 ging ich zum ersten Mal ins Gefängnis. So begann die neue Zeit in meinem Leben – die im Gefängnis. Jetzt bin ich 36 Jahre alt, und ich habe davon 9 Jahre in Gefängnissen verbracht (linker Terrorismus und Waffenhandel). Die ukrainische Gefangenschaft verbringe ich bereits in meinem fünften Gefängnis. Ein seltsames Gefängnis.

Solange ich nicht weiss, was vor mir liegt: Austausch oder ein Gerichtsurteil oder das Erschiessen als Geisel, wenn sich der Krieg intensiviert, gibt es eine vollkommene Unsicherheit.

2. Was sind die Anschuldigungen gegen dich?
Ich werde beschuldigt, dem DPR [Volksrepublik Donetsk] Verteidigungsministerium mit Informationen geholfen zu haben. Angeblich habe ich mehrere Donbass Anlagen besucht und sie als Waffenspezialist über die mögliche Reparatur von Waffen beraten. Das ist mein „Verbrechen“. Und der Beweis ist – mein Pass als russischer Bürger, ein St.George Band an meiner Autoantenne und meine „freiwillige“ Aussage, die unter Androhung von Folter erlangt wurde, während ich vom 16. bis zum 29. Dezember, 2014, in einem geheimen Militärgefängnis in der „Anti-Terror-Operations“ Zone, festgehalten wurde. Das ist alles. Nach ukrainischem Recht gilt die DPR als terroristische Organisation, und alle, die ihr helfen – SoldatInnen, PolizistInnen, ÄrztInnen, LehrerInnen – sind „TerroristInnen“. Was für ein Unsinn! Ich wurde am 16. Dezember bei einem ukrainischen Checkpoint, zwischen Donetsk und Gorlovka entführt, als ich in meinem Auto unterwegs war, um meinen Genossen, den anarcho-kommunistischen Egor Voronov, zu besuchen. Ich fuhr irrtümlich zu diesem Checkpoint, ich hatte keine Karte. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, von der DPR in die Ukraine zu fahren (beide, Gorlovka und Donetsk sind DPR).
Als sie ein Auto mit russischem Nummernschild und einem St.George Band sahen, haben sie mich sofort festgenommen. Und für mehr als zwei Wochen wurde ich in einem geheimen Gefängnis, mit maskiertem Gesicht festgehalten, ich konnte nicht sehen, wo ich eingesperrt war und wohin ich gebracht wurde. So etwas ist gängige Praxis des ukrainischen Staates gegenüber Gefangenen. Genau so wie Prügel, Folter und Mord. Ich habe diese Tage detailliert in meinem Artikel „Jeder sagt in Gefangenschaft aus“, der von meinen GenossInnen veröffentlicht wurde, beschrieben. Jetzt verstehe ich sehr gut, was andere GenossInnen in solchen Situationen in Argentinien oder in Chile in den 1970ern fühlten. Wenn man von Militärs festgehalten wird, und sie mit einem alles machen was sie wollen, dann ist man für alle verschwunden. Ein Menschenleben kostet hier nicht einmal eine Gewehrpatrone.

3. Was ist die politische Situation in Donbass?
Die politische Situation in Donbass ist die Situation des lang andauernden Krieges. Der Krieg beeinflusst hier die ganze Wirtschaft und die Politik. Eine Militarisierung der Gesellschaft hat hier stattgefunden. Während die Ukraine es sich leisten kann, das Leben im Land in einen „friedlichen“ Teil und in eine „Anti-Terror“ Zone zu teilen, hat die DVR weder das Territorium noch die Leute dazu. Das ganze Land wird von Artillerie und Raketen geplagt. Der Krieg betrifft alle und alle müssen sich an der Verteidigung und der Arbeit für die Front beteiligen. Um so mehr, da fast die Hälfte der Bevölkerung zu Flüchtlingen wurde und nach Russland gegangen ist. Es gibt nur wenige Menschen die hier bleiben. Nur 60 bis 70 Tausend in der Novorossia Armee kämpfen gegen 250 Tausend in der Ukrainischen Armee. So ein Unterschied in Kräften führt zu einer harten Wirtschaftslage und zu Armut, für die ZivilistInnen, die in Donbass bleiben. Es gibt auch in der Ukraine Armut und Inflation, aber es ist mehrfach härter in der DPR und der LPR [Lugansk Volksrepublik].
Ein „seltsamer“ Krieg ist hier. „Niederlegung der Waffen“ wird vereinbart aber niemand hält sich daran. Strom, Gas und Kohle passieren die Frontlinie. Versteckter Handel geht hier vor sich. Lokale Eliten lösen ihre finanziellen Probleme und Angelegenheiten hinter dem Rücken von Militanten. Aber nur ArbeiterInnen und BäuerInnen kämpfen (auf beiden Seiten). Als im Herbst 2014 formale „Wahlen“ organisiert wurden, wurden mittlere Oligarchen, die, die Anti-Maidan – Zakharchenko und Plotnitskiy unterstützt hatten, legalisiert. KommunistInnen wurden aus diesen Wahlen mit formeller Begründung entfernt. All dies führt zu Unmut bei den einfachen Menschen und dem Novorossia Militär. Ich sprach mit vielen einfachen KämpferInnen, und sie wollen dass diese Situation sich ändert. Oligarchen sollen vertrieben werden und es soll verstaatlicht werden. Es soll gekämpft werden – wohl wissend, dass man sein Leben für die eigenen Fabriken, die eigenen Minen, das eigene Land gibt.
Aber nicht für die gestrigen bürgerlichen Eliten, die die Ukrainische Flagge durch die Flagge der DPR ersetzt haben. Eine solche Haltung ist Zündstoff für einen zukünftigen Bürgerkrieg innerhalb von Novorossia. Und dieser Zündstoff wird von Monat zu Monat trockener. Es waren ArbeiterInnen und BäuerInnen die von der Front zurückkehrten, die die Revolution von 1917 machten. Erfahren im lang andauernden Krieg und mit Hass auf die Befehlenden im Hintergrund. Die politische Situation? Es gibt Russland auf der einen Seite und die Ukraine und die NATO auf der anderen Seite, der Unmut der Menschen mit der sozialen Situation, mit Armut und Krieg – auf der dritten Seite (vor allem hier und in der Umgebung). Dies ist die Situation. Sehr schwer!

4. Welche politischen Kräfte sind in Donetsk und Lugansk an der Macht? Welche Wichtigkeit haben die Oligarchen? Was ist die Bedeutung der russischen Chauvinisten? Was ist die Bedeutung der KommunistInnen?
Alle politischen Kräfte in Donbass wurden im Frühjahr 2014 gebildet, während dem sogenannten „russischen Frühling“. Während eines Kriegsjahres fand ihre Radikalisierung statt, von moderaten Forderungen der Ukraine Föderalisierung zur Sezession und der Unabhängigkeit von Donbass. Zu viel Blut wurde vergossen um auch unter Bedingungen der Autonomie wieder in eine vereinigte Ukraine zurückzukehren. Eine grosse Enttäuschung kam nachdem die Menschen glaubten, dass Russland Donbass wie die Krim aufnehmen würde, oder Truppen für seine Verteidigung schicken würde. Das ist nicht geschehen.
Dieser Konflikt konnte nicht ohne viel Schmerz gelöst werden, (weder Moskau noch Washington scheinen dies gewollt zu haben). Die Hauptgründe des Kriegs Anfanges sind bekannt – es ist die Antwort von Donbass auf den Kiew Euro-Maidan Protest gegen die teilweise nationalistische Politik eines Landesteils auf einen anderen (Westen und Osten der Ukraine), die mit der Abweichung von der russischen Sprache und dem „Fallen von Lenin“ symbolisiert ist (Zerstörung der Lenin-Statuen). Eine nationalistische liberale Revolution fand in Kiew statt mit der ein moderater Oligarch, Janukowitsch, durch eine Gruppe von NationalistInnen um den Oligarchen Poroschenko ersetzt wurde. Viele Leute denken, dass es keine Revolution war, sondern eine Übernahme. Und dies geschah in einem Vielvölkerstaat. Es ist ähnlich wie Jugoslawien. NationalistInnen, die in einem Vielvölkerstaat die Macht übernehmen, führen in einem direkten Weg zu dessen Zerstörung und zum Krieg. Das ist, was in der Ukraine passiert ist – die Krim und Donbass sind für immer verloren. Darum wurden die wichtigsten politischen Kräfte zu den Anti-Maidan UnterstützerInnen und zu denjenigen, die russische Hilfe erwarteten. Leider übernahmen viele Menschen, auch von den alten ukrainischen lokalen Eliten, die lokale Donbass Bourgeoisie, PolizistInnen und ehemaligen Militärs, die Führung.
Das sind konservativen Kräfte.
Wie vor dem Krieg so auch jetzt spielen die linken Kräfte hier eine kleine Rolle. Warum?
Weil ihre Mehrheit nicht bereit war für einen solchen Kampf, für bewaffnete Politik. Aber diejenigen, die als Erste zu den Waffen griffen um eine Miliz zu schaffen, sie wurden tatsächlich die neue Macht. Durch Jahre des Friedens vergassen die Ukrainischen KommunistInnen die Bedeutung des „Kommunistischen Manifests“ von Marx ‚und Engels‘ und vergassen den einzigen Weg zum Sieg durch Rebellion und mit dem bewaffneten Kampf. Zwei Jahrzehnte bürgerlicher Wahlen und parlamentarischer Spiele haben alle „Zähne und Krallen“ abgestumpft und verwandelten die CPU [Kommunistische Partei der Ukraine] in ein Gebilde analog zur russischen KPRF [Kommunistische Partei der Russischen Föderation], in eine „konstruktive Opposition“, die den Schein wahrt. Darum waren sie, bis auf ihre symbolische Beteiligung in der Anti-Maidan Bewegung, eine schlechte Show, als in Donbass und in der ganzen Ukraine „die Macht auf den Bäumen wuchs“. Aber die Zeit für Versammlungen und Streikposten waren schon vorbei. Es war Zeit für radikaleres Handeln, und die Linke hatte versäumt dies zu tun. Deshalb begann anstelle einer sozialen Rebellion, ein langer Krieg zwischen „Seps“ [„SeparatistInnen“] und „Ukes“ [„UkrainerInnen“]. NationalistInnen von beiden Seiten nahmen daran teil. Aber die Linke blieb an der Seitenlinie.
Ich verbrachte nur wenig Zeit in Donbass, vom 4. bis zum 16. Dezember. Aber jetzt rede ich viel mit gefangen Milizionären. Und ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich nicht einen einzigen „russischen Chauvinisten“ oder Nationalisten unter ihnen getroffen habe. Oder haben sie so viel Glück, dass sie nicht ins Gefängnis kommen? Ganz im Gegenteil, alle unsere Gefangenen, die über 40 Jahre alt sind, die sich an die Sowjet-Ära erinnern, alle von ihnen sind InternationalistInnen und gingen wegen ihrem Wunsch gegen diese „Patrioten“ zu kämpfen, die gekommen waren, um zu bombardieren und zu schiessen, in den Krieg.
Die Sehnsucht nach der Sowjetzeit ist sehr stark unter ihnen. Sie unterstützen die Ideen der Verstaatlichung und des Sozialismus. Es gibt ein grosses Streben nach sozialer Gerechtigkeit unter ihnen und der Arbeits-Jugend. Sie sind Rohstoff für die linke Propaganda. Hoo! Wo seid ihr, KommunistInnen?
Nur ein Beispiel. Während meines Aufenthaltes in der DNR [Donetsk Volksrepublik], in der Stadt N kam ein lokaler Genosse von der CPU [Kommunistische Partei der Ukraine], ein Kommunist, ein Rentner, zu mir. Er brachte eine Gaspistole und wollte wissen, ob es möglich war, sie in eine richtige Pistole umzubauen. Ich untersuchte die Pistole, sie schien aus Aluminium zu sein und es ist normalerweise unmöglich, eine solche Pistole umzubauen. Ich teilte ihm dies mit und versprach eine normale Pistole für ihn zu finden. Er war Chef einer kleinen Abteilung die aus einem Arbeiter bestand. Sie brauchten die Waffe für den Schutz und die Verstaatlichung der Anlage. Es gab Leute in der Abteilung, aber keine Waffe. Deshalb ging ich da hin, um solchen GenossInnen zu helfen! Was bedeutet dies? Ich hatte über ähnliche Situationen in Büchern über die Revolution von 1905 gelesen. Damals haben sich ArbeiterInnen Waffen beschafft wo sie konnten und mit allen Möglichkeiten um ihre Fabriken zu bewaffnen. Ich erklärte ihm, dass es notwendig ist, sich zuerst Geld zu beschaffen und die alte Technik aller RevolutionärInnen war die Enteignung.
Dann wäre es möglich, die ArbeiterInnen zu bewaffnen und soziale Veränderungen herbeizuführen. Ist das Fantasie? Nein, dies ist ein echter Fall!

Dieses Interview wurde im Mai 2015 durch die Rote Hilfe International geführt.
Andrew war zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis von Mariupol.
Bei Redaktionsschluss (Ende August 2015) ist er im Knast von Berdiansk Provinz Zaporozhye, Ukraine.

Er benötigt dringend finanzielle Unterstützung, um materiell im Knast überleben zu können. Spendet auf das Konto der Roten Hilfe: Postfinance 19188293 08/18 Rote Hilfe, Vermerk „Che“