Heute, am Morgen des 11. Juni, wurde der Istanbuler Taksim-Platz durch ein gewaltiges Polizeiaufgebot mit Tränengas und gepanzerten Fahrzeugen gestürmt. Die vorausgegangenen Bekundungen von Regierungschef Erdoğan hatten die Demonstranten hoffen lassen, es gebe ein Einlenken. Erdoğan sei gesprächsbereit, er wolle sich am Mittwoch mit den Organisatoren der Proteste treffen, hatte sein Stellvertreter Bülent Arinc angekündigt. Ein Täuschungsmanöver – wie sich jetzt zeigte. Den Demonstranten gelang es nicht, den Taksim-Platz und das Camp im Gezi-Park zu halten, zu brutal war das Vorgehen der Polizei, die mit Spezialeinheiten vorrückte. strong>
Kurz zuvor hatte Thomas Eipeldauer ein Interview mit DEVRIM CAN, einer Aktivistin der marxistischen türkischen Organisation Kaldıraç geführt. Darin brachte sie auch ihre Hoffnungen auf den erfolgreichen Ausgang der Aktionen gegen die Regierung Erdoğan zum Ausdruck –
Istanbul, 11. Juni 2013 –
Sie haben ja von Beginn an hier am Taksim-Platz mitgekämpft und sind dabei verletzt worden. Wie sind die Auseinandersetzungen abgelaufen?
Devrim Can: Zu Beginn, als die Polizei den Gezi-Park angriff, war es so, dass es keinen Platz gab, um zu fliehen. Sie haben alles mit Tränengas eingedeckt, wir dachten, wir sterben hier. Die Menschen haben dann durch ihre eigenen Organisationen und soziale Medien andere über das, was hier vorgeht, informiert. Dann haben sich die Leute in der Halaskargazi Straße gesammelt. Nach dem Arbeitsende am Freitag haben sich dann immer mehr Menschen eingefunden, es sind sehr viele geworden. Die Polizei versuchte mit Wasserwerfern und Gas die Massen zu spalten, aber ab vier Uhr haben die Demonstranten, anstatt wegzulaufen, angefangen, erste Barrikaden zu errichten.
Ich war auf der İstiklal Straße (Einkaufsstraße, die zum Taksim-Platz führt – d. Red.) und wir haben dort aus Sachen, die wir irgendwo gefunden haben, Barrikaden gebaut, die mobil waren, und mit denen haben wir dann die Bullen Stück für Stück vertrieben.
Es waren anfangs etwa dreißig bis vierzig organisierte Revolutionäre an diesem Punkt, die vorne gekämpft haben. Die Massen standen etwas weiter hinten, sind zurückgegangen, wenn Tränengas kam und vorgerückt, wenn wir ein Stück Raum gewonnen hatten.
Neben dem Tränengas wurden Schockgranaten eingesetzt, die Polizei bewegte sich auch in Gruppen von etwa dreißig Personen. Drei, vielleicht vier davon waren diejenigen, die mit dem Tränengas schossen, einige setzten sogar Zwillen ein. Da haben wir uns sehr gewundert, weil das eigentlich unsere Waffe ist.
Wie haben die Unorganisierten reagiert?
Als wir mit Handschuhen die Gaspatronen zurückwarfen, haben alle geklatscht, sie waren sehr froh, dass wir da sind. Und das, obwohl sie uns früher vielleicht für „Terroristen“ gehalten haben. Das war eine sehr schöne Erfahrung. Wenn Aktivisten Polizisten mit Zwillen getroffen haben und die umgefallen sind, gab es auch Applaus. Es gab viel Unterstützung von den Massen für die vorne Kämpfenden.
Im Verlauf der Auseinandersetzungen konnten die Menschen dann auch lernen, dass wir zum Beispiel Bulldozer gegen Polizeipanzer einsetzen können, Sie haben die Bilder davon ja sicher in den Medien gesehen. Die organisierten Revolutionäre haben zusammen mit Anarchisten und Hooligans gemeinsam gekämpft.
Es ist gut zu sehen, wie sich das Bewusstsein der Menschen gewandelt hat. Früher hieß es immer: „Ich hab zu tun“ oder „Es ist zu gefährlich“, wenn es um Demonstrationen ging. Jetzt gehen sie von der anatolischen Seite nachts zu Fuß zur europäischen Seite, um bei den Straßenschlachten dabei zu sein. Von nun an ist Tränengas hier eine wirkungslose Waffe. Davor hatten die Menschen Angst davor, aber diese Angst ist gewichen.
Gab es den Einsatz von Gasmasken auf Seiten der Demonstranten schon bei früheren Protesten, oder ist das neu?
Es war so, dass die Sozialisten und Anarchisten schon vorher welche hatten. Aber die anderen Demonstranten kannten so etwas zunächst nicht. Sie haben dann durch soziale Medien mitbekommen, dass man das braucht und dann sind viele schnell zu Militärshops und Apotheken – um das Medikament, das man gegen Tränengas auf die Haut auftragen kann, zu besorgen – gegangen und haben eingekauft.
Viele Initiativen hängen hier auch Broschüren und Flyer aus, auf denen man erfährt, wie man sich schützen kann.
Stimmt die Information, dass auch das Militärkrankenhaus in der Nähe des Taksim Gasmasken an die Protestierenden verteilt hat? p>
Ja, das stimmt, aber es waren nur die einfachen weißen Masken, die kaum helfen. Das zeigt aber auch, dass vieles mit inneren Machtkonflikten in der herrschenden Klasse zu tun hat. Die denken: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Man darf nicht vergessen, dass dieses Militär auch ein Feind der Massen ist.
Ich habe gestern mit einer Anwältin gesprochen, die gesagt hat, dass zwar die meisten Gefangenen wieder frei sind, aber die Polizei gerade die gesammelten Daten auswertet und ein größerer Repressionsschlag zu erwarten ist. Wie schätzen Sie das ein?
Es gibt eine Konterpropaganda der Regierung, die davon handelt, dass „Extremisten“ den Protest ausgelöst hätten. Dreizehn Organisation, darunter unsere, werden namentlich genannt. 75 Vertreter dieser Organisationen werden namentlich als Terroristen bezeichnet. Die, die auf den Barrikaden in der ersten Reihe standen, haben sie natürlich gefilmt. Sie waren zwar vermummt, aber das hilft nicht viel.
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Manchmal kommen auch irgendwelche Leute zu den Ständen, behaupten, sie wären von der Presse, und machen Fotos. Das können wir leider nicht verhindern, weil hier so viele Menschen Fotos machen.
Wie ist es dann gelungen, die Polizei zu vertreiben?
Nach unseren Schätzungen waren am Freitag (den 31. Mai, d. Red.) etwa vier Millionen Menschen in Istanbul auf der Straße, in vielen Bezirken gab es militante Auseinandersetzungen. Donnerstag und Freitag gab es immer wieder heftige Riots, Freitag waren in 53 Städten Demonstrationen. Die hiesigen Medien haben das erst einmal ignoriert. Als es mehr als 800 Verletzte gab, lief gleichzeitig auf NTV eine Dokumentation über Pinguine. Während internationale Medien längst Bilder der Straßenschlachten zeigten, lief da eine Pinguin-Dokumentation.
Am Samstag dann haben wir weitergekämpft, immer wieder sind wir mit Tränengas angegriffen worden. Da hatten wir die Polizei schon von der İstiklal Straße auf den Platz getrieben. Zuerst waren sie dann auf der und rund um die Treppe in der Mitte des Platzes, auf der Taşkışla und in der Halaskargazi Straße. Dann haben sich Hunderttausende den Protesten rund um die Straßenschlachten angeschlossen. Dann mussten sie Bullen von der Treppe abziehen und zu den anderen beiden Orten schicken. Es gab einen riesigen Steinhagel auf die Polizisten, die Leute haben angegriffen, sich kurz zurückgezogen, wenn Tränengas kam, und dann wieder weitergemacht.
Irgendwann sind dann zwei Wasserwerfer am Platz übriggeblieben, die wollten nur noch fliehen, konnten aber nicht wegfahren, weil zu viele Menschen da waren. Es gibt ein türkisches Sprichwort: Sie mussten so schnell wegrennen, dass die Fersen am Hintern streiften.
Als wir die Polizei dann vom Taksim bis nach Beşiktaş (ein Istanbuler Stadtteil, d. Red.) vertrieben hatten, wurden Bullenautos umgekippt, die Funkgeräte wurden vergesellschaftet, die Ausrüstung und Kleidung ist ihnen abgenommen worden. Einige mussten fast nackt das Weite suchen.
Bei der Verteidigung des Platzes kommt uns auch die privilegierte Lage des Taksim entgegen, weil wir oben sind und die Bullen von unten kommen müssen. Es gibt nur zwei Wege, die eben sind: İstiklal und Halaskargazi.
Es sind ja beinahe alle Straßen mit Dutzenden massiven Barrikaden abgeriegelt. Warum nicht die İstiklal?
Unserer Einschätzung nach wird die Polizei nicht von dieser Seite kommen. Durch die İstiklal kann die Polizei ihr Gerät nicht einfach heranschaffen, sie kommen da mit den Wagen und Wasserwerfern nicht gut ran. Außerdem gehen ja auch ständig massenhaft Demonstranten diese Straße entlang und wir wollen diesen Weg nicht blockieren. Alle anderen Wege haben wir verbarrikadiert.
Wie wird Erdogan reagieren? Wird er abwarten oder die Polizei angreifen lassen?
Ich denke, die schlechteste Taktik, die er verfolgen kann, ist hier die Polizei frontal angreifen zu lassen. Aber sie verfügen über eine andere Taktik: Sie versuchen, eine innere Spaltung zwischen den Demonstranten zu erreichen. Sie versuchen nationalistische Gruppen zu nutzen. Außerdem versuchen sie durch ihre Propaganda von „Extremisten“, die hier Chaos anrichten, die Linke von den „friedlichen“ Demonstranten zu trennen.
Wir versuchen auch am Platz die Sicherheit zu gewährleisten. Sie haben auch schon durch den Einsatz faschistischer Gruppen versucht, die Barrikaden anzugreifen. Hin und wieder greift auch die Polizei selbst am Rand an, aber attackiert nicht direkt den Platz.
Außerdem versuchen sie die Anwesenheit der kurdischen BDP für sich zu nutzen, indem sie Konflikte mit Nationalisten schüren. Es ist sehr wichtig hier einzuschreiten, denn wenn es hier zu größeren Konflikten kommt, könnte das die Massen abschrecken.
Was für uns es gerade wichtig, die Aufmerksamkeit auf die Proteste weiter zu verstärken. Die Menschen selbst müssen Subjekte dieser Bewegung werden. Wir wollen alle, auch die Unorganisierten einbinden, durch die Aufgabenverteilung bei der Organisierung des täglichen Lebens hier, bei den Sicherheitsschichten an den Barrikaden.
Man darf nicht denken, dass es sich bei den Massen von Menschen, die sich zurzeit hier am Taksim aufhalten, um eine entschlossene, revolutionäre Gruppe handelt. Viele sind noch nicht in der Lage, wenn ein Repressionsschlag kommt, hier richtig weiterzukämpfen. Deshalb müssen wir nun in erster Linie dafür eintreten, dass hier eine gemeinsame Organisierung zustande kommt. Denn dann ist es nicht unrealistisch, dass wir die jetzt aufgestellten Forderungen durchsetzen können.
Ihr redet in euren Veröffentlichungen ja auch von der „Kommune vom Taksim-Platz“. Was meint ihr damit?
Wir benutzen diesen Ausdruck, weil wir hier auch die kapitalistischen Verhältnisse ein Stück weit außer Kraft setzen wollen. Ziel und Gedanke ist, dass wir hier zumindest schon zeigen können, dass es möglich ist, warenförmigen Austausch zu überwinden. Das betrifft das tägliche Leben hier, aber auch darüber hinaus wollen wir bei den Menschen das Bewusstsein schaffen, dass das möglich ist.
Wichtig ist uns, dass die Menschen lernen, als organisierte Subjekte zu handeln.
Eine Forderung von euch ist ja die nach einem Generalstreik. Sind schon Schritte in diese Richtung unternommen worden?
Es gab viele Versuche, die Normalität des täglichen Lebens zu unterbrechen. Zum Beispiel sind viele Menschen täglich um neun Uhr morgens mit Kochtöpfen auf die Straße gegangen und haben Lärm gemacht, es gab Verkehrsblockaden.
Was die Gewerkschaften anbelangt, fordern wir zwar die ganze Zeit einen Generalstreik, aber die Lage der gewerkschaftlichen Organisierung ist nicht einfach. Die reformistische Linke hat viel Einfluss auf die Gewerkschaften. In Ankara, wo es ja derzeit zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt, sind die Gewerkschaften zwar gezwungen, sich an den Protesten zu beteiligen, aber sie halten sich sehr zurück. Aber in dem gegenwärtigen Prozess gibt es natürlich das Potential, dass sich auch hier einiges ändert. Die revolutionäre Linke hat während der Proteste viel an Kraft gewonnen. Die Revolution steht zwar nicht bevor, aber dass die Gewerkschaften zum Generalstreik gezwungen werden, ist durchaus möglich.
Liveticker:
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