In ihrem Roman «Erzählung zur Sache» stellt die Autorin Stephanie Bart die Rote Armee Fraktion und ihre Texte in den Mittelpunkt. Die Spannung entwickelt das Buch aus der literarischen Verarbeitung des historischen Materials. Bart erzählt eine Geschichte des Widerstands
«Natürlich hätte die Rote Armee Fraktion, anstatt. jedes Gespräch mit Gleich- und Ähnlichgesinnten im Keim zu ersticken, sprechen lernen, zusammenarbei-
ten und auch mal Erklärungen schreiben können, die man gerne las». Dieser Satz findet sich auf Seite 208 von Stephanie Barts Roman «Erzählung zur Sache». In dem Buch verarbeitet sie auf über 670 Seiten literarisch Erklärungen der …
… RAF, Briefe der Gefangenen und Erklärungen, die sie vor Gericht gehalten haben oder halten wollten. Auf vielen Seiten lesen wir, wie Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof oder Andreas Baader mitten im Satz von Richter
Prinzip im Stuttgarter Prozessbunker unterbrochen wurden. Wir lesen die Interventionen der unterschiedlichen Rechtsanwält:innen. Manche der Rededuelle endeten damit, dass der Richter den Anwält:innen oder den Angeklagten das Mikrofon abschaltete. Später wurden sowohl Gefangene als auch einige ihrer Vertrauensanwält:innen vom Prozess ausgeschlossen. Das Verfahren konnte trotzdem fortgesetzt werden. Dafür sorgten Sondergesetze, die im Eilverfahren von der Bundesregierung in einer ganz grossen Koalition aller damals im Bonner Bunddestag vertretenen Parteien durchgepeitscht wurden. Sie waren damals auch als «Lex RAF» bekannt.
«Terroristen»?
Lange zurück scheint die Zeit, als an jedem Bahnhof die Steckbriefe mit den Konterfeis gesuchter RAF-Mitglieder, die in der offiziellen Sprache natürlich nur «Terroristen» genannt wurden, zu sehen waren. Damals weigerten sich auch viele Linke, die überhaupt keine Sympathie mit der RAF und ihrem Umfeld hatten, diesen Begriff zu verwenden. Heute, 25 Jahre nach der Auflösung der RAF, wird auch in linken Medien im Kontext der RAF fast nur noch von Terrorismus gesprochen. Diese Formulierung wird man im Roman von Bart nicht finden. Denn er ist konsequent aus der Perspektive von Gudrun
Ensslin geschrieben, die neben Ulrike Meinhof und Andreas Baader zu den Gründer:innen der RAF gehörte. Deshalb findet sich zu Beginn des Romans eine Erklärung der Autorin: «Alle in diesem Roman enthaltenen strafrechtlich relevanten Beleidigungen und Verunglimpfungen von Personen der Zeitgeschichte, lebenden oder toten, sowie Aufforderungen zu strafbaren Handlungen,und was sonst nach Strafgesetzbuch strafbar ist, sind entweder, dem literarischen Verfahren entsprechend, nicht gekennzeichnete wörtliche oder bearbeitete Zitate der RAF oder repräsentieren deren Position.»
Heidelberg und Vietnam
Die besondere Stärke des Romans ist, dass es Bart gelingt, die gesellschaftliche Atmosphäre der frühen 1970er-Jahren einzufangen. Er beginnt mit dem Kapitel
«Heidelberg, Mai 1972», in dem die RAF-Anschläge auf das US-Hauptquartier in Heidelberg durchführte. Es wird detailliert geschildert, wie die Bomben explodierten und wo sich die verletzten und toten Militärangehörigen
befanden. Mit den Rechnern in der Einrichtung im Neckartal wurden die Bombenabwürfe und Flugzugeinsätze in Vietnam koordiniert. Diesen heute fast vergessenen Fakt formuliert die Autorin in der Sprache und Diktion der RAF: «Rote Armee Fraktion auf roten Appellplatz By-ebye Campbell-Barracks Sieg im Volkskrieg, es lebe derVietcong» (S. 17). «Zwei Wochen später wurde Gudrun gefasst und in die Justizvollzugsanstalt Essen eingeliefert» (S. 27), lautet der Anfang des zweiten Kapitels. Der Beginn ihres Kampfes gegen die Totalisolation und die Durchsetzung der minimalsten Rechte hinter Knastmauern begann. In
dem Buch werden die Kämpfe sehr detailliert aus der Perspektive von Gudrun Ensslin geschildert. Wir erfahren von Hungerstreiks und Zwangsernährungen, bei denen die Gefangenen in extremer Lebensgefahr sind. Wir erfahren vom Tod von Holger Meins. Die massiven, auch militanten Proteste, die danach auf den Strassen der BRD und auch in anderen westeuropäischen Staaten stattfanden, werden in dem Zeitverzug und dem Filter geschildert, mit denen Ensslin hinter den Mauern des Gefängnisses davon erfährt.
Aus der damaligen Perspektive geschrieben
Wir sehen, wie die Informationen nach Aussen immer mehr abgeschaltet wurden. Denn der Kampf der RAF ist entgegen der Hoffnung der Staatsapparate mit der Verhaftung der Gründer:innen nicht zu Ende. Immer, wenn es neue RAF-Aktionen gibt, werden die Haftbedingungen der Gefangenen verschlechtert. Die Anwaltsbesuche werden immer mehr erschwert, Radios aus den Zellen geholt und Zeitungen einbehalten. Besonders anschaulich beschreibt Bart am Beispiel eines Briefes, den Gudrun Ensslin an Andreas Baader geschrieben hat, was diese Zensur für die Gefangenen bedeutete. Das Schreiben hat ihn aber nie erreicht. Die Leser:innen erfahren von den Beschwerden, mit denen Ensslin auf die Zensur reagiert. Dann ging der Brief verloren und Ensslin verfasste einen neuen, und die Prozedur begann von Neuem. Mit dieser dichten Erzählung gelingt es Bart, die Atmosphäre der 1970er-Jahre einzufangen, die heute auch von manchen Linken verklärt wird. Ein solcher Roman, der konsequent aus der Perspektive der damaligen radikalen Linken geschrieben ist, geht auch davon aus, dass Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und Andreas Baader keinen Selbstmord verübt haben. Der fiktive Einschub, in dem Bart am Schluss des Buches ein Szenario ihrer Ermordung entwickelt, ist der schwächere Teil des Buches. Aber er ist mit elf Seiten auch recht kurz.
Im vorletzten Kapitel führt uns die Autorin noch einmal nach Hamburg im Juni 1972. Die Verhaftung von Gudrun Ensslin in einem Modeladen wird noch einmal
sehr detailreich erzählt. In diesen Zeilen ist auch schon die spätere Niederlage der RAF herauszulesen. Allerdings braucht es einiges Hintergrundwissen, um alle Zusammenhänge zu verstehen. Auch im nächsten Absatz ist in
wenigen Sätzen viel Hintergrundwissen komprimiert. «Kern unseres Problems: dass wir keine nennenswerte Basis im Volk haben, dass wir nicht nur gegen konterrevolutionäre, linke Intellektuelle wie Negt, sondern auch nicht gegen staatliche Spaltungspropaganda angekommen sind.»
Sich auf die Zeitreise einlassen
Es ist ein grosser Verdienst von Bart, dass sie in dem Roman die Erinnerung wachhält an eine Zeit, als viele Menschen nicht nur eine andere Welt für möglich hielten, sondern auch dafür kämpften. Was Besseres als den Kapitalismus findest du allemal, lautete damals die Devise. Die Spannung entwickelt das Buch aus der literarischen Verarbeitung des historischen Materials. Dies gelingt der 1965 geborenen Autorin wahrscheinlich auch
deshalb so gut, weil sie in den 1980er-Jahren in Hamburg Politikwissenschaft studiert hat. Damals waren politisch wache Menschen auch immer mit der RAF und ihren Texten konfrontiert. Sie mögen oft nicht schön zu lesen gewesen sein, für Barts literarische Verarbeitung gilt das erdikt nicht. Es zu hoffen, dass sich viele Menschen auf die gewiss nicht leichte, linke Zeitreise einlassen.
Peter Nowak