KRIEG IM NAHEN OSTEN: Isoliert und gedemütigt

Ausnahmezustand in Israel: Kollektivbestrafung auf Gefängnisse mit palästinensischen Insassen ausgedehnt
An der Mauer des Hochsicherheitsgefängnisses Gilboa im Norden Israels
Hintergrund: Austausch von Gefangenen?
Die Freilassung der palästinensischen Gefangenen war eines der Hauptziele des Angriffs vor zwei Wochen. Hamas zufolge sollen die von ihnen in Gaza festgehaltenen Geiseln gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht werden. Laut Mustafa Barghuthi, Generalsekretär der Palästinensischen Nationalen Initiative, einer der politischen Parteien im Palästinensischen Legislativrat, haben die Regierungen von Ägypten und Katar angeboten, zu vermitteln.


Der vom israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am 7. Oktober verkündete Ausnahmezustand wird auch genutzt, um die Gefängnisse, in denen palästinensische Gefangene festgehalten werden, hermetisch von der Außenwelt abzuschneiden. Drei Tage nach dem Angriff der Hamas und verbündeter Gruppen im Süden Israels wurden in mindestens vier israelischen Gefängnissen, darunter dem Ofer-Gefängnis im besetzten Westjordanland, die Zellen von Armeeeinheiten unter Einsatz von Schallbomben gestürmt, die Gefangenen voneinander isoliert, ihre Sachen durcheinandergebracht oder konfisziert. Der Stürmung des Gilboa-Gefängnisses im Norden Israels wohnte der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, persönlich bei. Einem Anwalt zufolge wurde den palästinensischen Gefangenen mitgeteilt, dass sie jetzt unter der direkten Kontrolle der Armee ständen, auch wenn die Gefängnisverwaltung IPS (Israel Prison Service) weiterhin für die Einhaltung der vom Minister angeordneten Maßnahmen zuständig bleibe.

Nachdem die Haftbedingungen der palästinensischen Gefangenen in den letzten Monaten schon drastisch verschärft worden waren, hat die Gefängnisverwaltung seit dem 11. Oktober die Stromzufuhr zu ihren Zellen komplett gekappt. In den Hochsicherheitstrakten war auch die Wasserversorgung abgeschnitten worden. Wie lange diese Maßnahmen aufrechterhalten wurden oder werden, konnte bis jetzt nicht festgestellt werden, weil kaum noch Nachrichten nach außen dringen. Es ist aber offensichtlich, dass es für Schikanen gegen die Gefangenen keine Grenzen mehr gibt. Auf Weisung der IPS-Chefin Katy Perry dürfen alle palästinensischen Gefangenen seit dem 14. Oktober ihre Zellen nicht mehr verlassen und sind »bis auf weiteres« von Familien- und Anwaltsbesuchen sowie jeder Kommunikation mit der Außenwelt ausgeschlossen.

Den Statistiken der Gefängnisverwaltung zufolge befanden sich Anfang Oktober in israelischen Gefängnissen etwa 5.200 Palästinenserinnen und Palästinenser, die von den Behörden als »Sicherheitsgefangene« eingestuft und deshalb von Menschenrechtsorganisationen als politische Gefangene angesehen werden. Von ihnen befinden sich 1.300 ohne Anklage in Verwaltungshaft (»Administrative detention«), 23 von ihnen sitzen schon seit mehr als 30 Jahren ein, wie Nael Al-Barghuthi, Muhammad Altus, Ibrahim Bajadasa und der todkranke Walid Dakka. Nach Informationen des Menschenrechtsrats der UNO belief sich die Zahl der gefangengehaltenen Minderjährigen Anfang Oktober auf 170, davon etwa die Hälfte schon seit Jahren – etwa weil sie Steine geworfen oder auch nur demonstriert hatten.

Kaum war das sechste Netanjahu-Kabinett Ende 2022 angetreten, machte Sicherheitsminister Ben-Gvir klar, dass er auf Eskalation in den Gefängnissen aus war. Eine erste Maßnahme war, die von Knessetabgeordneten geplanten Besuche bei palästinensischen Gefangenen zu verbieten, um die Öffentlichkeit über ihre Situation in Unkenntnis zu lassen.

Anfang Januar wurden 70 Gefangene vom Hadarim-Gefängnis im Norden Israels in die nach US-amerikanischem »Supermax«-Vorbild gebauten Hochsicherheitstrakte des Ramon-Gefängnisses in der südlichen Negevwüste überführt, wo sie drei Monate lang in Totalisolation gehalten wurden, bis sie mit der Drohung eines Hungerstreiks minimale Erleichterungen der Haftbedingungen erreichen konnten. Der Ramon/Nafha-Gefängniskomplex befindet sich mitten in der Wüste, Hunderte Kilometer von den Familien und Rechtsanwälten der Inhaftierten entfernt.

Anfang Februar kündigte Ben-Gvir eine Reihe von harten Maßnahmen gegen die politischen Gefangenen an, darunter die Beschränkung der Familienbesuche auf eine halbe Stunde im Monat, die Beschränkung der Zeit zum Duschen auf vier Minuten und die Reduzierung des fließenden Wassers in den Zellen auf eine Stunde am Tag.

Ende März wurden nach einem Hungerstreik von 2.000 Gefangenen einige Maßnahmen zurückgenommen, aber schon im Mai kamen neue Schikanen hinzu, und es wurde von der Gefängnisverwaltung angeordnet, dass die Gefangenen keine Bücher mehr von außen bekommen dürfen. Wenig später wurde palästinensischen Gefangenen untersagt, an Fernstudiengängen teilzunehmen.

Schon seit langem wird den Gefangenen auch medizinische Behandlung verweigert, werden Anwaltsbesuche sabotiert, bekommen von weit her angereiste Angehörige oft im letzten Moment zu hören, dass ihr Besuch abgesagt oder verschoben wurde, werden Kleider, Nahrung, Bücher und andere persönliche Sachen der Gefangenen konfisziert, werden ihnen der Hofgang und Zugang zu Freizeitveranstaltungen verwehrt usw. Die weiblichen Gefangenen werden besonders schlecht behandelt und oft demütigenden Verhören unterzogen, bei denen sie, angeschnallt und mit verbundenen Augen, geschlagen und psychologisch gefoltert werden. Die von Amnesty International zusammengetragenen Beispiele sind Legion. Laut »Defence for Children« sind vor allem die jugendlichen Gefangenen Erniedrigung, Wasser- und Nahrungsentzug und körperlichen, sexuellen und verbalen Attacken ausgesetzt. UNICEF zufolge sind diese »weit verbreitet, systematisch und eingefahren«.

Als Teil der »Justizreform« setzte Ben-Gvir Ende Juli in der Knesset durch, dass die Verwaltungshaft auch angewandt wird, wenn es nicht genügend Plätze in den Gefängnissen gibt. Diese Art der Inhaftierung ohne jede Form eines rechtsstaatlichen Prozesses war 2012 vom Obersten Gerichtshof neu ausgerichtet worden und muss bei jeder Verlängerung nach maximal sechs Monaten formal bestätigt werden – was die Behörden nicht davon abhält, sie so oft und so lange zu verlängern, wie es ihnen passt.

Der Status dieser Gefangenen als Geiseln des israelischen Staats wurde noch mal bestätigt, als vor zehn Tagen ihre Zellen – nach den Worten Ben-Gvirs – »dichtgemacht« wurden. Nicht einmal das Rote Kreuz hat heute die Möglichkeit, an sie heranzukommen.

Von Ron Augustin
junge Welt 23.10.23