Nasenhaare in Großformat

Nicht nur die EU finanziert mit INDECT die Forschung zur digitalen Rasterfahndung: Viele Mitgliedstaaten betreiben selbst Vorhaben der Verhaltenserkennung Unter dem Motto „Do more with less“ wird die polizeiliche Überwachung automatisiert. Der Widerstand dagegen richtet sich jedoch nicht gegen jene, die derartige Systeme bestellen: Betreiber großer Einkaufszentren, Verkehrsbetriebe, die Polizei oder Grenzwächter. Auch die großen Rüstungsfirmen geraten nicht ins Visier kritischer Kampagnen, obwohl die permanente Rasterfahndung ohne deren Produkte nicht denkbar wäre. Stattdessen fokussiert jetzt auch das Kollektiv Anonymous auf das EU-Projekt INDECT.

Seit zwei Jahren reiben sich Datenschützer und Bürgerrechtsgruppen am Sicherheitsforschungsprojekt INDECT – zu Recht. Das Ziel der fünfjährigen EU-finanzierten Forschung ist nicht weniger, als ein „Intelligentes Informationssystem“ zu entwickeln, das die Überwachung des städtischen Raums unter anderem durch Video- und Audiosensoren auswertet und verarbeitet. Bei dem Mustervergleich zum Aufspüren verdächtigen Verhaltens soll auch Bildmaterial von Drohnen genutzt werden (Fliegende Kameras für Europas Polizeien). Bis nächstes Jahr will das Projekt unter Beteiligung von Hochschulen, Firmen und Polizeien den Prototyp einer Überwachungsplattform entwickeln. INDECT wird angeführt von polnischen Wissenschaftlern.

Polnischer Ausstieg nur ein Fake

Nach zahlreichen Kampagnen, kritischen Artikeln und Fernsehbeiträgen geriet INDECT unter Druck. Netzpolitische Aktivisten fürchten die Bereitstellung eines regelrechten Bevölkerungsscanners, der auch Daten von Unbeteiligten verarbeitet. Im April meldete sogar das Innenministerium in Warschau, dass die polnische Polizei das Projekt wegen Datenschutzbedenken verlassen würde. Die Ankündigung kam auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen das Freihandelsabkommen ACTA.

Alles nur ein Fake, stellt sich nun heraus: Am Rande einer netzpolitischen Konferenz erklärte der Projektbeteiligte Jan Derkacz, polnische Polizisten seien nach wie vor am Projekt beteiligt. Die Ankündigung zum Rückzug diente offenbar nur der Beruhigung der Öffentlichkeit. Polizeibehörden aus Polen und Großbritannien hatten beispielsweise zu Beginn von INDECT Beispiele für unerwünschtes Betragen geliefert, das fortan digital ausgespäht werden soll (80.000 Euro für die Definition von „verdächtigem Verhalten“?).

Die Projektleitung an der AGH Universität in Krakow wird nicht müde zu betonen, dass INDECT keine echten Daten verarbeitet. Tatsächlich wurden solche Falschmeldungen zuvor lanciert: Angeblich wolle die Plattform Trojaner einbinden, könne auf Polizeidatenbanken zugreifen oder sei Europol angegliedert. Ein Europaabgeordneter wiederholte das von der EU-Kommission längst dementierte Gerücht, das System würde bei der EM 2012 getestet (Dementi von INDECT). Auch dies war von den Machern leicht zu kontern: Denn ein eigens eingesetzter Ethikrat soll sicherstellen, dass Datenschutzkriterien eingehalten werden – was eine Nutzung in „echten“ Großlagen zunächst erschweren dürfte. Trotzdem bläst die Anonymous-Community wieder zum Angriff auf INDECT. Am 20. Oktober wird zu einem weiteren europaweiten Aktionstag aufgerufen.

Warum INDECT?

Dabei verwundert, warum vielen Aktivisten ausgerechnet INDECT zum Symbol der zunehmend automatisierten Überwachung wird. Unter Beteiligung deutscher und italienischer Rüstungsfirmen sowie weiterer Militärzulieferer verspricht beispielsweise ein anderes EU-Forschungsprojekt Sicherheit gegen „Hooliganismus“ bei Fußballspielen und G8-Gipfeln und der Handhabung „herkömmlicher Gewalt“ (EU-Gipfel im unsichtbaren Hochsicherheitstrakt). Das „Integrated Mobile Security Kit“ (IMSK) ist dafür sogar mit einem höheren Budget als INDECT ausgestattet (Die Großen Brüder von INDECT). Federführend ist die schwedische Rüstungsschmiede Saab AB. In diesen Wochen soll ein Prototyp des sogenannten „System of Systems“ präsentiert werden.

Die EU hatte bereits ab 1996 ein Forschungsprojekt finanziert, das nicht weniger als die Vorhersage von verdächtigem Verhalten zum Ziel hatte. Unter dem Titel CROwd MAnagement with Telematic Imagine and Communication Assistance (CROMATICA) nahm eine Software Vergleiche bewegter Bilder vor und meldete Auffälligkeiten [http://news.bbc.co.uk/2/hi/science/nature/1953770.stm].

Federführend war damals die Kingston-Universität in London. Dessen Forschungsinstitut war derart erfolgreich, dass der leitende Wissenschaftler Sergio Velastin nach Ende des Programms begann, die entwickelte Plattform über eine eigene Firma zu vermarkten. Die ab 2005 unter dem Firmennamen IPSOTEK vertriebene Verhaltenserkennung wurde als „Intelligentes Fußgänger-Überwachungssystem“ bereits in den U-Bahnen vieler europäischer Großstädte getestet, darunter auch in London, Rom und Paris (Big Brother is tracking you).

Das von Firmengründer Sergio Velastin entwickelte System reichert die Daten aus der Videoüberwachung dabei wie INDECT um Audiosensoren an, um bei der Mustererkennung genauere Ergebnisse zu erzielen. So lassen sich laut IPSOTEK etwa die Ereignisse „Aggression“, „Angriff“ oder der „Gebrauch von Schusswaffen“ durch die zusätzliche akustische Detektion deutlich treffsicherer herausfiltern. Auch bei auffällig lautem Gruppenverhalten kann ein Alarm ausgegeben werden.

Sprechende Straßenlaternen

Etliche EU-Mitgliedstaaten betreiben eigene, ähnliche Forschungsprogramme – ohne dass dies in den jeweiligen Ländern überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Dabei geht es auch um einen anvisierten Einsatz zur Grenzsicherung, an Flughäfen, bei Sportereignissen oder in Einkaufszentren. Unter Leitung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) beforscht die Bundesregierung beispielsweise eine „Lageerfassung bei Großveranstaltungen“. „Sicherheitskräfte“ sollen mit umfangreichen Informationen beliefert werden, die über Satelliten, Motorsegler, Mikroflugzeuge und weitere „bodengestützte Sensoren“ angeliefert werden.

Die polnische „Plattform für Heimatschutz“ gab die Erforschung einer Plattform in Auftrag, die gleichsam „Terrorismus“ und „Gewalt an Schulen“ aufspüren soll. Auch spontane Menschenansammlungen, zerbrochene Scheiben und Hilfeschreie in verschiedenen Sprachen werden registriert. Angeschlossene Kameras schwenken dann automatisch in Richtung der errechneten Quelle des Geräuschs. In den US-Städten Detroit, Chicago und Pittsburgh werden solche Kameras und Mikrofone in Straßenlaternen verbaut. Besonderer Clou: Durch einen Lautsprecher können Polizisten Befehle erteilen, wenn sich jemand daneben benimmt.

Vom „Multimediasystem“ der polnischen Heimatschützer werden aber nicht nur Video- und Audioquellen genutzt: Auch Informationen von Bewegungsmeldern, RFID-Empfängern und „biometrischen Sensoren“ werden verarbeitet. Die beteiligten Polizisten wünschen sich eine spätere Anwendung auch zur Identifizierung Flüchtiger, deren Fahndungsfotos dann permanent mit Kamerabildern des öffentlichen Raums abgeglichen werden.

Als Verantwortlicher des polnischen Vorhabens wurde jener Forscher bestimmt, der auch das EU-Sicherheitsforschungsprojekt INDECT begleitet: Andrzej Czyzewski von der Technischen Universität in Gdansk (Bevölkerungsscanner liebäugelt mit Supercomputer). Wohl deshalb ist es kein Zufall, dass das beschriebene Szenario der videobasierten Rasterfahndung von den INDECT-Machern in einem Werbefilm aufgegriffen wird.

Doch INDECT will noch mehr: Die Überwachung des öffentlichen Raums wird angereichert durch ein sogenanntes „Text Mining“ im Internet, das dort nach bestimmten Auffälligkeiten in einer zuvor definierten Sprache sucht. Auch dies wird von der polnischen „Plattform für Heimatschutz“ beforscht. Es sind Wissenschaftler der AGH-Universität in Krakau, die derart aufgespürte Ereignismeldungen als SMS- oder Sprachachrichten an Polizisten auf der Straße verschicken wollen.

Zu den Koordinatoren des Projekts aus Krakau gehört mit Andrzej Dziech wieder ein Wissenschaftler, der auch bei INDECT forscht. In einer weiteren Projektbeschreibung wird von dem Vorhaben berichtet, das System bei der EURO 2012 einzusetzen – wohl deshalb kam es zur Falschmeldung, dass dort stattdessen INDECT erstmals im öffentlichen Raum getestet würde.

Jede Eintrittskarte einem Gesicht zugeordnet

Die polnische Überwachungsplattform bei der Europameisterschaft hatte es auch ohne finanzielle EU-Mittel in sich: Der Spiegel berichtet, die Einsatzzentralen der Polizei erinnerten an einen Kontrollraum der NASA: „Etliche Monitore zeigen Überwachungsbilder und Messkurven, mit Joysticks und Tastaturen werden Kameras gesteuert, die jeden Fleck der 58.500 Zuschauer fassenden Warschauer Arena und ihres direkten Umfelds erfassen“.

Derartige Lagezentren wurden in den Städten Breslau, Posen, Danzig und Warschau errichtet. Auch die Zahl der Kameras wurde beträchtlich erhöht. Ihre Auflösung sei nach Angaben der Verantwortlichen „so hoch, dass sie auf 220 Meter Entfernung Nasenhaare in einem Gesicht erkennbar machen können“. Die Plattform wäre „das derzeit beste Überwachungssystem weltweit“, wird ein „Sicherheitsexperte“ zitiert. Kein Wunder: Die Eintrittskarte wird bei der Kontrolle einem Gesicht zugeordnet, das dann über die Videoüberwachung jederzeit in der Masse gesucht werden kann.

Die dadurch erlangten Bilder können aber auch „rückwärts gerichtet“ ausgewertet werden. So kann nachvollzogen werden, wer sich mit wem getroffen hat oder welche Eingänge benutzt wurden. Auch nach bestimmten Merkmalen kann gesucht werden, etwa die Farbe oder der Typ der Kleidung. Wie weit derartige Soft- und Hardware entwickelt ist, hatten Behörden in Dubai vor zwei Jahren eindrucksvoll dokumentiert (Dubai: Mit Siemens die Datenflut aus Überwachungskameras verwalten). Nach der Erschießung des Palästinensers Mahmoud al Mabhouh hatte die Polizei nach wenigen Tagen eine riesige Menge von Videomaterial derart aufbereitet, dass der Weg der vermutlichen Mörder vom fraglichen Hotel bis zur Einreise am Flughafen zurück verfolgt werden konnte. Verarbeitet wurde auch Material aus dem öffentlichen Raum.

Vermutlich half ein System aus Deutschland: 2006 hatte Siemens ein „Police Command and Control Centre“ installiert, das die Firma als eines der „weltweit fortgeschrittensten“ bewarb. Mehr als 1.000 Video- und Thermokameras können im Raum von der Größe eines Theaters gesteuert und ausgewertet werden. Journalisten zeigen sich beeindruckt über Auflösung und Zoomfunktion der Kameras. Polizeifahrzeuge, auch Fahrräder, sind mit GPS-Trackern ausgerüstet. Die Positionsdaten werden mit Karten und Lagebildern auf einem 12 Meter großen Bildschirm georeferenziert abgebildet. Eingebunden werden auch Informationen aus der aus Satellitenüberwachung. Ähnliche Lagezentren hat Siemens unter anderem in China, Aserbaidschan und Litauen installiert.

EU-Projekt soll Urinieren und Stöbern im Müll aufspüren

Mit Automatic Detection of Abnormal Behaviour and Threats in crowded Spaces (ADABTS) finanziert die EU eine ähnliche Plattform. Als Endnutzer werden unter anderem Betreiber großer Einkaufszentren empfohlen. Später sollen Bushaltestellen, Bahnhöfe und Flughäfen mit bei ADABTS entwickelter Software überwacht werden. Zu den hierfür definierten, unerwünschten Verhaltensweisen gehört das Wegwerfen von Müll ebenso wie das Suchen nach Essensresten in Mülleimern.

ADABTS soll einerseits helfen, vergangene Ereignisse zu rekonstruieren, aber auch Prognosen über abweichendes Verhalten der Überwachten aufstellen. So sollen etwa Delikte in Fußballstadien, aber auch Sabotage oder das Urinieren im öffentlichen Raum verhindert werden. Beteiligt ist neben dem Innenministerium auch der britische Rüstungsmulti BAE. Der britische Konzern fusioniert möglicherweise mit dem europäischen EADS-Konzern. Nicht nur im militärischen Bereich dürfte dies für feuchte Augen sorgen: Auch bei der quasi-militärischen Aufklärung des öffentlichen Raums trifft BAE auf einen Partner, der Milliarden mit „Integrierten Lagezentren“ etwa zur Grenzsicherung verdient.

Auch bei ADABTS ist die EU der falsche Adressat von berechtigtem Unmut. Eher sollte sich der Protest gegen den BAE-Konzern richten, der dort sein System „Tag and Track“ einbringt. Bei der Entwicklung dieser permanenten Rasterfahndung arbeitet BAE mit IPSOTEC zusammen – jener britischen Firma, die ihre Software zur Verhaltenserkennung bereits in französischen, italienischen, belgischen und portugiesischen U-Bahnen testen durfte.