Hunderte Menschen und dutzende Boote versuchen im Rahmen der Global Sumud Flotilla die Gaza-Blockade zu durchbrechen. Wir haben mit Murat Okundu von Peoples Bridge über die Flotilla und die Verbindungen zwischen dem palästinensischen und kurdischen Befreiungskampf gesprochen.
Du warst in Tunesien bei den Vorbereitungen der Global Sumut Flotilla dabei. Wie hast du dies erlebt?
Die ersten Tage haben zu verschiedenen Impressionen geführt. Ich erinnere mich noch an die erste Solidaritätsdemonstration in Tunesien, an der wir teilnahmen. Es war unser zweiter Tag in Tunesien. Auf den ersten Blick erschien alles wie auf den Demos in Deutschland: kunterbunte Teilnahme und verschiedenste Parolen, die den Platz sehr lebendig werden ließen.
Bei genauerem Hinsehen aber nahm ich diverse Unterschiede wahr. Ich bin es gewohnt, dass, wenn wir für das Ende des Genozids in Palästina auf die Straßen gehen – also für etwas, das für jeden Menschen mit halbwegs (!) intaktem moralischem Kompass selbstverständlich sein sollte –, der deutsche Staat in Form der Polizei uns im Nacken sitzt, uns stets droht, attackiert und mit Repressionen überschüttet.
In Tunesien allerdings gab es diese Art der Zensur und Repression nicht. Wir konnten alle Parolen, die auch anderorts erlaubt sind – wie zum Beispiel die berühmteste: „From the river to the sea, Palestine will be free“ – rufen, ohne Bekanntschaft mit dem Schlagstock, Pfefferspray oder dem Gewahrsam der tunesischen Polizei zu machen.
Sehr viele Einheimische begrüßten uns auf den Straßen, in den Läden und auch in Restaurants, wenn wir mit unseren Kufiyas unterwegs waren – leider sind solche Beispiele in Deutschland (noch) undenkbar.
Schon zweimal gab es beim Zwischenstopp in Tunesien einen Drohnenangriff auf die Flotilla – vermutlich durch die israelische Armee. Wie hast du die Angriffe wahrgenommen und wie ordnest du sie politisch ein?
Diese Angriffe waren, betrachtet man die verbrecherische Historie Israels, für mich und meine Genoss:innen voraussehbar und somit kein großer Schock. Dass Israel nach Belieben Angriffe auf andere Länder startet, ist nicht neu. Allein seit dem 7. Oktober wurden Syrien, Katar, Iran, Jemen und der Libanon zur Zielscheibe. Die Tatsache, dass selbst die gewaltfreie Aktion der Global Sumud Flotilla Israel dazu bewegt, anzugreifen, reicht aus, um das verbrecherische Wesen dieses Staats aufzuzeigen.
Über 600 Menschen aus mehr als 40 Ländern – Aktivist:innen, Mütter, Väter, Junge wie auch Alte – kamen zusammen, um die nun seit knapp 20 Jahren verhängte illegale Blockade über Gaza zu durchbrechen und Wasser, Brot, Medikamente sowie Hygieneartikel nach Gaza zu bringen. Das ist alles, was die Flotilla bezweckt.
Israel griff an zwei aufeinanderfolgenden Tagen einzelne Schiffe an – per Drohne aus der Luft. Das Ziel dieser Angriffe ist klar: Man will die Menschen einschüchtern und davon abhalten, an Bord zu gehen. Am Folgetag organisierte die Global Sumud Flotilla eine Presseerklärung, in der sie geschlossen betonte, dass die beiden Angriffe die Menschen nicht davon abhalten würden, diese Mission fortzusetzen.
Beim Versuch des Schiffs Handallah, im Juli Gaza per Schiff zu erreichen, brach Israel einen Krieg vom Zaun und griff den Iran an. Dieser Krieg schmälerte folgerichtig die mediale Präsenz der Handallah-Mission. Und auch jetzt, wo sehr viele Menschen nach Gaza aufbrechen wollen, bombardiert Israel einen anderen Staat – diesmal Katar. Bei unseren Protesten gegen diese Angriffe müssen wir unbedingt darauf achten, dass die aktuell größte Solidaritätsaktion in Form der Global Sumud Flotilla nicht in den Hintergrund gerät.
Die bisherigen Versuche, die Seeblockade von Gaza zu durchbrechen, wurden vom israelischen Militär brutal gestoppt. Was erwartest du bei dem nächsten Versuch der Flotilla?
Natürlich ist das Bestreben, humanitäre Hilfe nach Gaza zu bringen, zweifelsohne wichtig. Jedoch muss man das Gesamtbild in Betracht ziehen. Wenn so viele Menschen in See stechen, bedeutet das, dass sie zur Hoffnung der Unterdrückten im Allgemeinen und der Palästinenser:innen im Besonderen werden. Dieser Aspekt ist ideologisch sehr wichtig.
Es ist durchaus möglich, dass Israel die Flotilla auch dieses Mal nicht durchlässt – doch es würde ein Zeichen gesetzt und dieser Solidaritätsbewegung eine neue Qualität hinzugefügt, sichtbar etwa an der Anzahl der Teilnehmer:innen. Beim nächsten Versuch zum Beispiel ernten wir dann die Früchte von diesem Samen der Hoffnung, der mit der Aktion gesät wird. Von außerordentlicher Bedeutung ist hierbei die Kontinuität: Irgendwann segeln nicht 50 Schiffe, sondern 200 Schiffe nach Gaza, weil die Menschen durch die aktuelle Global Sumud Flotilla ermutigt wurden.
Irgendwann wird diese inhumane Blockade durch die warme Solidarität der Massen durchbrochen werden. Und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um nicht zu spät zu sein – denn aktuell versucht Israel, Gaza-Stadt einzunehmen, und in seiner Ekstase mordet es alles und jeden. – Und die Staaten schauen nur zu.
Daher liegt es an den Menschen auf dem Meer und auch an den Protestierenden auf dem Land, ihre Kräfte zu bündeln und – im ersten Schritt – die Blockade aufzubrechen, ehe wir das Ende des Genozids in Angriff nehmen können.
Wir müssen den Menschen zeigen, dass es eine Mär ist zu denken, die kapitalistischen Staaten würden auch nur einen Finger krumm machen, um den Palästinenser:innen zu helfen. Diese Illusion zerbröckelt allmählich – und hier sind die fortschrittlichen, antikapitalistischen Kräfte gefragt, den Menschen eine ernsthafte Alternative aufzuzeigen und sie in Gang zu setzen. Denn der Kampf gegen den Kapitalismus verläuft stets durch den Kampf für ein freies Palästina und Kurdistan.
Als kurdischer Aktivist ziehst du Verbindungen zwischen dem kurdischen und palästinensischen Befreiungskampf. Wie sehen diese konkret aus?
Das Selbstbestimmungsrecht beider Völker wurde – angefangen beim Sykes-Picot-Abkommen von 1916 – durch die Imperialisten hintergangen. Sie verwandelten Palästina wie auch Kurdistan in Kolonien. Diesen Status unterstützen sie heute nach wie vor.
Die Imperialisten schließen sich angesichts der Frontenverschärfungen im Hinblick auf einen etwaigen 3. Weltkrieg zusammen und klären die Machtverhältnisse – zum Beispiel im Block der NATO oder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Diese Mächte tun dies, um unterdrücken zu können. Wie aber sieht es auf Seiten des Gegenpols, also der Unterdrückten, aus? Konkret im Fall der Kurd:innen und Palästinenser:innen sehen wir, wie sie sich seit dem Zerfall der UdSSR voneinander entfernt haben – und das ist sinnbildlich für die Seite der Unterdrückten.
Nach der internationalen 68er-Bewegung führte das geteilte Leid beider Völker sie in den libanesischen Bürgerkrieg, an dem sie Seite an Seite gegen die israelische Besatzungsmacht kämpften. 1982 fielen die ersten PKK-Guerilleros im Libanon im Widerstand gegen Israel – noch Jahre bevor sie gegen die Türkei in den bewaffneten Kampf zogen. Sie erhielten ihre militärische Ausbildung in den Camps der sozialistischen Demokratischen Front zur Befreiung Palästinas (DFLP).
Wieso entwickelten sich die palästinensische und kurdische Freiheitsbewegung auseinander?
Die Liquidation der UdSSR (1989–1991) und die daraus entstandenen politischen Dynamiken – wie etwa der zweite Golfkrieg (1990–1991), der den Bruch der USA mit Saddam Husseins Irak darstellte – hatten ebenfalls großen Einfluss auf die Entwicklungen im Mittleren Osten. Auch schon davor, aber speziell in der Folge, kam es vermehrt zur Zusammenarbeit zwischen Saddam Husseins Irak – einem der wenigen Gegner der USA und somit auch Israels in der Region – und der palästinensischen Widerstandsbewegung. Saddam nutze die palästinensische Sache für seine eigenen panarabischen Zwecke, Jassir Arafats Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) ließ sich darauf ein, um ihre Akkreditierung zu steigern.
Das Halabja-Massaker, das Saddam Hussein 1989 gegen die Kurd:innen durchführte, führte zu 5.000 toten Kurd:innen. Dies mündete auf kurdischer Seite in einem Groll auch gegen die Palästinenser:innen per se und gegenüber ihrem Leid, auch wenn das palästinensische Volk selbst hierfür nichts konnte und kann.
Nach den Osloer Gesprächen 1993–1995 zwischen der PLO und Israel, die in der quasi-Kapitulation Arafats und der PLO endeten, erstarkten zunehmend islamistische Kräfte in Palästina – ganz zur Freude Israels, das diesen Wandel ebenfalls mitgestaltete. Auf kurdischer Seite gab es Ende der 1990er-Jahre die Abkehr der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vom Marxismus-Leninismus, womit auch das Verständnis des Imperialismus als Weltsystem einen anderen Charakter annahm.
All diese verschiedenen Dynamiken im Lichte des Imperialismus führten schlussendlich dazu, dass sich beide Völker aus den Augen verloren. Die Imperialisten versuchen sie auch für ihre eigenen Interessen vor den Karren zu spannen. Das sehen wir aktuell, wenn Israel in Worten (ausschließlich in Worten) der Türkei damit droht, die demokratische Selbstverwaltung Nord- und Ost-Syrien zu unterstützen, während es parallel einen Genozid tätigt und auch sonst nie die kurdische Sache voran brachte. In der Wahrnehmung beider Völker hinterlassen diese diplomatische und auch praktische Zusammenarbeit ihre Spuren.
Diesen Umstand zu ändern, liegt auch an uns, etwa indem wir die tatsächlich notwendige Verbindung beider Kämpfe auf den Straßen herausstellen.