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POLITISCHE GEFANGENE IN CHILE

»Nur scheinbar eine Demokratie aufgebaut«
Folgen der Pinochet-Diktatur: Ehemalige politische Gefangene in Chile fordern Entschädigung vom Staat. Ein Gespräch mit Nelly Cárcamo Vargas
Interview: Martin Dolzer junge Welt 28.2.19

Nelly Cárcamo Vargas ist Vorsitzende der »Unexpp de Chile«

Sie waren am Dienstag in Hamburg, um über die heutige Situation der ehemaligen politischen Gefangenen in Chile zu berichten. Worum ging es dabei?

Wir von der »Unexpp de Chile« (Vereinigung der ehemaligen politischen Gefangenen in Chile, jW) wollten über die Situation in Chile fast 29 Jahre nach Ende der Diktatur von Augusto Pinochet informieren. Die meisten Menschen außerhalb des Landes wissen nicht, dass die dortige Regierung weder die ehemaligen politischen Gefangenen entschädigt noch sich an internationale Verträge über Menschenrechte hält.

Inwieweit hat sich Chile nach der Diktatur demokratisiert?

Praktisch gesehen gibt es auch heute keine richtige Demokratie. Zum Beispiel ist die Pressefreiheit nicht gewährleistet, weil die Medien in den Händen der fünf reichsten Familien Chiles konzentriert sind. Man kann von oligarchischen Strukturen sprechen. Und es sind nicht nur die Medien, sondern auch die Stromversorgung, das Wasser, die Straßen, die Lebensmittelketten, die Bekleidungsindustrie, letztlich die gesamte In­frastruktur sowie Daseinsvorsorge, die privatisiert wurden. Die Unternehmen, die davon profitieren, tragen zwar unterschiedliche Namen – sie sind jedoch in den Händen der gleichen Oligarchen konzentriert. Zudem ist die von Pinochet erlassene Verfassung bis heute gültig. Die darauffolgenden Regierungen haben sie zwar reformiert, jedoch nur an der Oberfläche. Letztlich ist nur scheinbar eine Demokratie aufgebaut worden, in der Realität werden Menschenrechte noch immer nicht eingehalten. Aktive Mapuche, Umweltaktivisten oder Gewerkschafter werden willkürlich kriminalisiert oder sogar ermordet.

Wie könnte eine wirkliche Demokratie entstehen?

jW am Kiosk 9.3.
Es müsste über eine neue Verfassung diskutiert werden, an deren Entwicklung und Abstimmung die gesamte Bevölkerung beteiligt wird. Darin sollten zum Beispiel auch Volksentscheide ermöglicht werden.

Sie haben die fehlenden Entschädigungen für ehemalige politische Gefangenen angesprochen. Was genau fordern Sie?

Wir fordern Gerechtigkeit anhand dreier Punkte. Erstens muss die Wahrheit über die damaligen Geschehnisse recherchiert und öffentlich gemacht werden; zweitens müssen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, darunter die Befehlshabenden und die Folterer; drittens braucht es Wiedergutmachung, orientiert an dem Schaden, der den Menschen zugefügt wurde. Bis heute wurden diese Komponenten nicht umgesetzt, die Täter bleiben weiterhin straflos. Betroffene, die etwa an der Kasse eines Supermarkts oder in der Schlange in einer Bank stehen, können tagtäglich ihre Folterer treffen. Manchmal wohnen diese auch direkt nebenan. Das ist eine unerträgliche Situation. In einigen Dörfern sind die ehemaligen Folterer zudem Grundbesitzer oder Firmenchefs und entscheiden so erneut über existentielle Bereiche des Lebens. Der Staat hat gemäß internationalen Verträgen die Pflicht, die Folterer zur Rechenschaft zu ziehen – doch er tut es nicht.

Was tun Sie dagegen?

Wir sehen uns in der Verpflichtung, unsere Forderungen selbst durchzusetzen. Dazu fehlt es allerdings an Mitteln – der Staat verhindert die Aufarbeitung eher, als dass er sie unterstützt. Am vergangenen Montag haben wir eine Sammelklage in der Stadt Punta Arenas im Namen von 61 Folteropfern aus der Region Magallanes übergeben. Die erste Sammelklage hatten wir im Juni 2018 im Namen von 168 Opfern eingereicht: gegen die Folterer, die in den ersten Monaten des Putsches 1973 im Nationalstadion in Santiago de Chile Tausende Menschen misshandelten, Unzählige verschwinden ließen und ermordeten.

Sehen Sie Parallelen zwischen dem Putsch Pinochets und dem Putschversuch durch Juan Guaidó in Venezuela?

Absolut. Es ist essentiell, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker geachtet wird. Wir protestieren gegen die Intervention in Venezuela, die von US-Präsident Donald Trump und seinen Marionetten inszeniert wird. Es ist besorgniserregend, dass sich als demokratisch bezeichnende Regierungen einen Menschen anerkennen, der sich selber ohne jegliche Legitimation zum Präsidenten eines Landes erklärt.