Politischer Steuerungsauftrag

BERLIN/SOBIBÓR/WESTERBORK
Wenige Wochen vor den internationalen Gedenk-Feierlichkeiten im ehemaligen deutschen NS-Vernichtungslager Sobibór sperrt die Bundesstiftung EVZ („Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“) öffentliche Mittel für die Ehrung der KZ-Opfer durch deutsche Jugendliche. Sie hatten des Gefangenenaufstandes vor 70 Jahren gedenken und mit dem „Zug der Erinnerung“ am 14. Oktober nach Sobibór fahren wollen. Die EVZ-Maßnahme ergänzt Versuche des Auswärtigen Amtes, sich finanzieller Verpflichtungen für die Erinnerung an frühere deutsche Verbrechensorte zu entziehen, dabei öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden und eventuelle Opferansprüche abzuwehren.

An den Kosten eines Museums in Sobibór, das an über 175.000 Ermordete erinnern soll, wollte sich die Bundesregierung jahrelang nicht beteiligen und wich erst im Januar internationalem Druck. Auch für die Erinnerung an weitere deutsche Verbrechensorte, die mit Sobibór in Verbindung stehen, hat die Bundesregierung kein Geld. Wegen der EVZ-Sperre öffentlicher Mittel für die Fahrt mit deutschen Jugendlichen nach Sobibór muss der „Zug der Erinnerung“ jetzt auf private Spenden ausweichen. Die Auseinandersetzung um die staatliche deutsche „Erinnerungskultur“ und die EVZ hat gerichtliche Folgen, die auch im Ausland Beachtung finden.

Die Bundesstiftung EVZ war nach starken US-Interventionen im Jahr 2000 gegründet worden.[1] Ihr Stiftungsvermögen betrug rund zehn Milliarden DM. Davon stammten sieben Milliarden aus Steuermitteln; den Rest sammelte die deutsche Industrie bei ihren Tätererben. Den Vorsitzenden des EVZ-Kuratoriums setzt das Bundeskanzleramt ein. Gegenwärtig nimmt der frühere Generalbevollmächtigte der Goldschmelze Degussa diese Funktion wahr. Die Degussa verarbeitete das in Auschwitz erbeutete Edelmetall der Ermordeten.

Verfallen
Mit Hinweis auf die EVZ und gegen das Versprechen, EVZ-Gelder an frühere Zwangsarbeiter und andere KZ-Opfer auszuzahlen, verlangt Berlin die weltweite Niederschlagung eventueller Klagen von Überlebenden. Insbesondere Sammelverfahren in den USA („class actions“) werden in Berlin gefürchtet und sollen aufgrund einer Absichtserklärung der US-Regierung möglichst verhindert werden. An diese Vorgabe („Rechtsfrieden“) sind US-Gerichte laut Verfassung nicht gebunden.[2] Hingegen werden Ansprüche von NS-Opfern gegen deutsche Industrieunternehmen in der Bundesrepublik durchgängig abgewiesen, da solche Forderungen binnen eines Jahres nach EVZ-Gründung (2001) für immer verfallen seien.

Schlussstrich
Damit scheint es gelungen, unter die Restitution hunderttausender NS-Opfer, die seit 1945 niemals bedacht wurden, einen „Schlussstrich“ [3] zu ziehen. Zu den ausgeschlossenen Überlebenden gehören Militärinternierte aus Italien oder Zwangsgermanisierte aus Polen, aus Tschechien oder der Slowakei. Das letzte bekannte Verfahren, das im Dezember 2012 von einem ukrainischen Kläger gegen die Deutsche Bahn AG und die Lufthansa AG [4] angestrengt wurde, scheiterte vor dem Landgericht Frankfurt am Main im Frühjahr 2013. Weitergehende Ansprüche wehrt die Bundesregierung mit bemerkenswerten Mitteln ab. Für Anschreiben von NS-Opfern in Israel sperrte die deutsche Botschaft ihren Briefkasten, um Unkenntnis vorzutäuschen. Trotzdem anhängige Klageverfahren landen teilweise bei der EVZ und werden von dort ihrer Erledigung zugeführt.

Einsicht
Weil internationale Forderungen nicht zu unterbindensind, kommt der EVZ eine wichtige Rolle zu – als Frühwarnsystem auch im Inland. Bürgerinitiativen und Projektgruppen, schulische Einrichtungen und Universitätsinstitute stehen bei der EVZ Schlange, um Fördergelder aus dem wohl größten deutschen Fonds für „Erinnerungsarbeit“ zu erhalten. Ein penibles Prüfsystem, mit dem sich die EVZ der Inhalte annimmt, ermöglicht Einsicht in Gedenkprojekte, die oft erst im Entwurfsstadium sind. Sofern darin von materiellen Ansprüchen der NS-Opfer die Rede ist, betreffen sie das Bundesfinanzministerium. Dass ein Vertreter dieses Hauses ebenso im EVZ-Kuratorium sitzt wie Ministerialbeamte des Wirtschaftsministeriums und des Auswärtigen Amtes, schützt vor Überraschungen. Eine indirekte Steuerung über Mittelvergabe ist möglich.

Bedingungen
Ein plastisches Beispiel für die staatliche deutsche „Erinnerungskultur“ mittels EVZ liefert der Umgang mit dem „Zug der Erinnerung“. Weil der private Verein die Rückzahlung der „Reichsbahn“-Einnahmen aus den NS-Massendeportationen fordert (ca. 445 Millionen Euro), ist er bei dem Nachfolgeunternehmen (Deutsche Bahn AG) und bei dessen Eigentümer (Bundesrepublik Deutschland) besonders unbeliebt.[5] DB AG und EVZ unterhalten eine enge Finanzkooperation: Zwangsgelder, die von der Deutschen Bahn AG für die Gedenkarbeit des Vereins eingezogen werden („Trassengebühren“), lässt sich die EVZ auszahlen – zuletzt 40.000,00 Euro. Angeblich sollen damit Projekte des Vereins gefördert werden. Wie jetzt bekannt wird, knüpft die EVZ an die Mittelvergabe Bedingungen, die der Verein „nötigend“ und „rechtswidrig“ nennt.[6] Sie bestätigen den politischen Steuerungsauftrag.

Kontaktverbot
So sollte der „Zug der Erinnerung“ im März unterschreiben, dass er die Verschiebung seiner „Trassengebühren“ an die EVZ gutheißt. Kontakte mit Vertretern der Opferstaaten im EVZ-Kuratorium (unter anderem aus Polen und Tschechien) habe die Bürgerinitiative im Konfliktfall ebenso zu unterlassen wie Beschwerden bei Abgeordneten des Deutschen Bundestags – ein Eingriff in Grundrechte. Vor öffentlichen Stellungnahmen habe die EVZ über „Sprachregelungen“ [7] zu befinden. Die vom Bundeskanzleramt kontrollierte Stiftung kündigte bei Zuwiderhandlung an, ihre Förderzusagen zurückzunehmen.

Annulliert
Weil sich der „Zug der Erinnerung“ weigerte zu unterschreiben und auf Prüfung des geplanten Sobibór-Gedenkens bestand, legte die EVZ im Juni nach: Sie schloss den Verein per Dekret von der Zuwendung öffentlicher Mittel aus – jetzt und für alle Zeiten. Nach einem Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin musste der EVZ-Vorstand seinen Repressionsversuch zwar Ende August annullieren. Aber bei der Sperrung von Projektgeldern für die Fahrt zu den internationalen Gedenk-Feierlichkeiten nach Sobibór bleibt es.

Gewiss
Die Sperrung hätte verhindern können, dass der Verin vor den internationalen Sobibór-Gästen [8] seine Restitutionsforderungen erneuert und auf die Weigerung der Bundesregierung aufmerksam macht, die früheren NS-Mordstätten als Mahnmale des deutschen Menschheitsverbrechens angemessen zu erhalten. Davon betroffen sind zahlreiche ehemalige Nazi-Lager auch in Westeuropa. Das Museum im SS-„Durchgangslager“ Westerbork, Ausgangspunkt der „Reichsbahn“-Deportationen von etwa 34.000 niederländischen Juden nach Sobibór, gehört dazu ebenso wie die niederländische Gedenkstätte im früheren KZ Herzogenbusch: Von staatlichen Zuwendungen der Bundesrepublik Deutschland weiß man dort nichts.

Ob es dem „Zug der Erinnerung“ gelingt, für die Fahrt nach Sobibór die nötigen Mittel aufzutreiben, ist gegenwärtig noch unklar. Der Verein wirbt um Spenden. Eins ist gewiss: Von der Bundesstiftung EVZ, dem Bundeskanzleramt und der staatlichen deutschen „Erinnerungskultur“ kommen diese Mittel nicht.

[1] Der frühere US-Sondergesandte Stuart E. Eizenstat schildert in seinem Bericht „Unvollkommene Gerechtigkeit“ (München 2003), welche Widerstände die verschiedenen Bundesregierungen und Industrieunternehmen dem US-Entschädigungsprojekt entgegenbrachten.
[2] Mit dem irreführenden Begriff „Rechtsfrieden“ bezeichnet die deutsche Industrie ihren Anspruch auf eine Art Ablasshandel: Durch Einzahlungen in die Stiftung EVZ, deren Höhe den Tätererben überlassen bleibt, erlösche der Klageanspruch der Opfer.
[3] Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der Gründung der Stiftung EVZ, 2000.
[4] Landgericht Frankfurt am Main, AZ 2-260 7/13
[5] Gutachten über die unter der NS-Diktatur erzielten Einnahmen der „Deutschen Reichsbahn“ aus Transportleistungen zur Verbringung von Personen aus dem Deutschen Reich und dem okkupierten Europa in Konzentrationslager und ähnliche Einrichtungen sowie zwischen diesen Einrichtungen einschließlich ihrer Nebenstellen. Ohne Berücksichtigung der von der „Deutschen Reichsbahn“ durchgeführten Transporte von Zwangsarbeitern. Berlin 2009. S. dazu Verlängerung des Verbrechens, Fünfundfünfzig Cent und Die Rechnung ist offen
[6] Sobibór-Gedenken trotz Boykott;www.zug-der-erinnerung.eu 03.09.2013
[7] Sobibór-Gedenken trotz Boykott, „Grundsatzvereinbarung EVZ-ZdE“; www.zug-der-erinnerung.eu 03.09.2013
[8] Ausrichter des Gedenkens ist die Republik Polen. Es werden Gäste aus zahlreichen Opferstaaten erwartet.