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Prognosen über zukünftiges Verhalten – eine Gefangenenperspektive!

Prognosen durchziehen viele Bereiche des Lebens, damit auch des Straf- und Polizeirechts. Im Strafvollzug, wie auch im sogenannten Maßregelvollzug sind kriminalprognostische Sachverständigengutachten an der Tagesordnung, wenn sich die Frage stellt, ob vollzugsöffnende Maßnahmen (z.B. Hafturlaub) oder eine Entlassung auf Bewährung gewährt werden soll. Im Zusammenhang mit dem Verbot von Demonstrationen, sogenannten Gefährder*innen-Ansprachen oder dem Unterbindungsgewahrsam wird ebenfalls auf Prognosen zurückgegriffen.

In dem folgenden Beitrag soll es um die prinzipielle Fraglichkeit der Prognoseerstellungen gehen und was diese über das Wahrheitsverständnis derjenigen zu sagen vermag, welche solche Prognosen nutzen.

Zu den Begrifflichkeiten

Die Begriffe der Anamnese, Diagnose und Therapie, und auch der Begriff der Prognose verweisen auf einen Ursprung in religiösem Kontext, was im 21. Jahrhundert ein wenig eigenartig anmutet. Ich deute sie nur kurz an: Die „Anamnese“ finden wir unter anderem bei Platon. Dort meinte sie die „Wiedererinnerung“ der Seele an Ideen, die sie in einem früheren Dasein vor ihrer mit dem Körper gekannt hatte.

Die „Diagnose“ verweist mit ihrem Wortbestandteil „gnose“ (griech.) auf die Gnosis, die Erkenntnis, insbesondere jene Gottes, des Göttlichen, der geistigen Welt.
„Therapie“ ihrerseits nimmt Bezug auf die „therapeutai“ (griech.), die Diener, nämlich Diener Gottes. In der Prognose begegnet uns erneut die Gnosis, eine Vorauserkenntnis, zum Beispiel des Göttlichen.

Auch wenn im Verlaufe der Jahrhunderte die Begrifflichkeiten und ihr Inhalt einem Wandel unterworfen waren, so gehört doch ihre Herkunft zum Begriffsumfeld und es mag sich dann auch erhellen, wie nah dem Irrationalen heutzutage immer noch der ganze Bereich der Prognoseerstellung zu verorten ist.

Prognoseerstellung

In der Praxis verläuft die Prognoseerstellung, je nach Kontext, unterschiedlich umfangreich. Im Straf- und Maßregelvollzug sind es in der Regel Psychiaterinnen und Psychologinnen welche die vorliegenden Akten auswerten, sowie mit den Betroffenen mehr oder weniger ausführlich sprechen. Die Spanne reicht von ein oder zwei Stunden bis zu mehreren Tagen, an welchen jeweils 4-6 Stunden miteinander gesprochen wird. Zudem wird sich statistischen Prognoseinstrumenten bedient, welche vielfach auf Erhebungen im angloamerikanischen Raum, insbesondere den USA beruhen. Bei Vorliegen dieser oder jener Kriterien (z.B. instabiles Elternhaus, frühere eigene Gewalterfahrungen, früheres eigenes gewalttätiges Verhalten, uvm.) senkt oder erhöht sich das statistische Risiko erneuten abweichenden Verhaltens.

Im Bereich des Polizeirechts wird z.B. bei Verboten von Demonstrationen aus vergangenen Verläufen von Demonstrationen auf künftige Verläufe geschlossen, d.h. die Prognosen sind nicht ganz so ausdifferenziert wie im Bereich des Justizvollzuges.

Die Kritik

Prognosen unterliegen immer auch der Wahrheitsprüfung, d.h. sind sie geeignet, zuverlässig künftiges Verhalten vorherzusagen? Es gibt so etwas wie eine intuitive Evidenz. Das meint gewissermaßen ein Bauchgefühl, wie wir alle es kennen. Im privaten Umfeld mag dies vielfach genügen, wenn es indessen um grundrechts- und freiheitsbeschränkende Maßnahmen des Staates geht, sind strengere Wahrheitskriterien erforderlich.

Meine These lautet, dass sich der Staat in der Regel des Kriteriums der Nützlichkeit bedient. Dieser dem sogenannten Pragmatismus entlehnte Punkt stellt das Handeln über das Denken. Eine Entscheidung über die Wahrheit einer Theorie oder eben einer Prognoseerstellung wird aus ihrer praktischen Auswirkung und Nützlichkeit für das Leben gewonnen. Man könnte auch noch überlegen, ob besagtes Kriterium eingebettet ist in eine Konsenstheorie. Das was Konsens zwischen Sachverständigen und Justizbehörden ist, gilt als „wahr“.

Diese Herangehensweise immunisiert die Beteiligten vor Kritik. Für den Bereich der Sicherungsverwahrung existieren nämlich einschlägige Forschungsergebnisse, welche belegen, dass die Quote derer die fälschlich als „gefährlich“ eingeschätzt werden, bei über 50% liegt (z.B. Bartsch, „Nachträgliche Sicherungsverwahrung – ein kriminalpolitisches und rechtspolitisches Debakel“ sowie Anna Mandera, „Führungsaufsicht bei ehemaligen Sicherungsverwahrten“, abrufbar unter https://www.krimz.de/). Mandera wies nach, dass die Gefährlichkeit von als hoch rückfallgefährdeten und dennoch auf freien Fuß gesetzten Sicherungsverwahrten vielfach überschätzt worden sei.

Entsprechend kommt der renommierte Münchner Professor Nedopil sogar zu der Zahl von „etwa 60 bis 70%“ fälschlich als „gefährlich“ diagnostizierten Inhaftierten (vgl. Markus Drechsler (Hrsg.), „Massnahmevollzug – Menschenrechte, Weggesperrt und Zwangsbehandelt“, S. 188).

Über die Motive welche dazu führen, dass trotz dieses sehr sandigen Fundaments, auf welches jahrzehntelanger Freiheitsentzug ebenso gestützt wird, wie das Verbot von Demonstrationen oder die Anordnungen von Unterbindungsgewahrsam könnte trefflich spekuliert werden. Die Oberpsychologierätin W. (JVA Freiburg) meinte einmal, man habe eben keine besseren Instrumentarien zur Verfügung als die hier kritisierten.

Mit „Wahrheit“ im herkömmlichen Sinne hat jedoch die Praxis wenig zu tun. Wenn wir nämlich unter Wahrheit die Grundannahme verstehen wollen, dass eine Vorstellung genau dann wahr ist, wenn sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt, also eine Korrespondenz zwischen Vorstellung und Welt besteht, muss für den Bereich der Prognosen im Justiz- und wohl auch dem polizeirechtlichen Kontext festgestellt werden, dass es an einer solchen „Korrespondenz“ mangelt. Aber genau dieser Wahrheitstheorie folgen weder die Sachverständigen, noch die Gerichte, prüfen also die jeweiligen Prognosen nur darauf ob sie schlüssig hergeleitet und in sich logisch, bzw. widerspruchsfrei sind. Betroffenen und ihre Anwält*innen mögen noch so nachdrücklich gegen Gutachten oder gerichtliche Entscheidungen vorgehen, sie dringen damit nicht durch (oder zumindest nur in den aller seltensten Fällen).

Die Feststellung, das Kriterium der Nützlichkeit sei ausschlaggebend, ist nicht trivial, denn es belegt eine weltanschauliche Perspektive und ein Menschenbild, welches die Stellung des einzelnen Menschen unterminiert. Wer „Nützlichkeit“ hört, mag vielleicht an den Utilitarismus denken. Dort gilt es, den Nutzen für die größtmögliche Zahl an Menschen zu mehren, unter Inkaufnahme von Leid des Einzelnen. Es werden mit hoher Sicherheit einige (wenige) Sicherungsverwahrte, ließe man sie alle frei, wieder schwere Straftaten begehen, es würde schwer geschädigte und traumatisierte Opfer geben. Indem man aber weit mehr Verwahrten die Freiheit entzieht, vermeidet man diese Opfer, unter Inkaufnahme des Umstandes, dass zahlreichen Betroffenen die Freiheit entzogen wird (unter Umständen bis zum Tod), obwohl sie, in Freiheit gesetzt, gerade nicht mehr straffällig geworden wären.

Thomas Meyer-Falk, z. Zt. JVA (SV)
Hermann-Herder-Str. 8, D-79104 Freiburg

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