»… im Falle X kaltgestellt«

Vor 60 Jahren flog in der BRD eine staatlich geförderte Untergrundarmee aus alten Nazis auf. Eine Geschichte von frappierender Aktualität.

Von deutschen und US-amerikanischen Stellen gesponserte Rechtsextremisten: Die führenden Funktionäre des Bundes Deutscher Jugend Paul Lüth, Gerhard Bischoff, Norbert Hammacher und Heinz Schipplack (v.l.n.r.)

Zur Verteidigung anstatt zur Aushöhlung der bürgerlichen Demokratie beizutragen, ist für einen Ministerpräsidenten hierzulande längst keine Selbstverständlichkeit. Insofern nötigt einem die Rede des Georg August Zinn (SPD) vom 8. Oktober 1952 vor dem hessischen Landtag Respekt ab. Es ging um die Enthüllung einer geheimen Armee aus ehemaligen Nazioffizieren, mitfinanziert aus den USA und gedeckt von westdeutschen Stellen. Die Aufdeckung der Strukturen, die erst später mit der NATO und der Geheimarmee Gladio in Verbindung gebracht werden sollten, war ein Affront. Zinn agierte »ohne Rücksicht auf den sehr starken amerikanischen Druck, der ihn davon abbringen sollte«, so der Historiker Daniele Ganser.1 Der Öffentlichkeit war er dies schuldig, stand doch das politische Klima in Hessen im Spannungsfeld zwischen Fortschritt und Restauration. Drei Indizien: 1. In einer Volksabstimmung votierten 1946 zum Mißfallen der US-Militärbehörde 72 Prozent für weitreichende Sozialisierungen. 2. Emil Carlebach, ehemaliger KZ-Häftling und für die KPD im Landtag, wurde auf Anweisung von Militärgouverneur Lucius D. Clay aus der Frankfurter Rundschau entfernt, wie bis 1947 alle kommunistischen Redakteure. 3. Im Landtag gab es eine Mehrheit links der Mitte. Viele Sozialdemokraten, teils aus der Emigration gekommen, strebten einen demokratischen Aufbau an – ohne antikommunistische Schranken.

»Technischer Dienst«

Ab 1946/47 verhärteten sich die Fronten im Kalten Krieg. Doch wie war mit der Existenz einer staatlich geförderten Geheimarmee zu rechnen? Ihr unscheinbarer Name: »Technischer Dienst des BDJ«. Der Bund Deutscher Jugend (BDJ) bezog dank des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen und des Innenministeriums Bundesmittel, bevor er 1952 verboten wurde. Mitfinanziert wurde die neofaschistische Organisation von Coca Cola, Bosch, Salamander und Reemtsma. Der einstige NPD-Vorsitzende Adolf von Thadden äußerte 1982, daß der BDJ »selbstverständlich eine rechtsradikale Organisation« war. Die Beziehungen zur Bundesregierung beeinträchtigte das nicht, namhafte Politiker wie Kurt Georg Kiesinger oder Wolfgang Mischnik traten als Redner beim BDJ auf, »Bundeskanzler Adenauer grüßte die Untergrundkämpfer gar per Telegramm auf einer BDJ-Kundgebung und posierte mit zehn Uniformierten zum Fototermin.«2

Zum klandestin organisierten Technischen Dienst (TD) gehörte Hans Otto, ehemaliger SS-Hauptsturmführer und Leiter der Abteilung Organisation im TD. Am 9. September 1952 stellte sich Otto der Frankfurter Kriminalpolizei. Dem späteren Untersuchungsbericht zufolge gab er an, einer »Widerstandsgruppe anzugehören, die es sich zur Aufgabe gestellt habe, im Falle eines russischen Vormarsches Brücken zu sprengen und Sabotageaktionen durchzuführen. (…) Die Mitglieder seien zum größten Teil ehemalige Offiziere der Luftwaffe, des Heeres und der Waffen-SS. (…) Die Mittel zur Finanzierung seien von einem amerikanischen Staatsangehörigen mit Namen Sterling Garwood zur Verfügung gestellt worden. Innenpolitisch seien die Ziele der Organisation gegen KPD und SPD gerichtet.«3

Zwischenfragen: Wer drohte eigentlich wem mit einem »Vormarsch«? Erwog der Westen im Zeichen der sogenannten Rollback-Strategie nicht gar einen bewaffneten Angriff? Und was tun, wenn linke Parteien im Westen »bedrohlich« an Stärke gewännen? Mußte dann nicht notfalls ein Militärputsch her, wie 1967 in Griechenland oder 1980 in der Türkei? Ein Schriftstück des National Security Council ( NSC) vom Januar 1951 belegt zuvor vereinbarte Geheimverträge u.a. mit Italien: »Im Falle, daß die Kommunisten auf legalem Weg zur Regierungsbeteiligung gelangen (…), müssen die USA Maßnahmen ergreifen (…) mit dem Ziel, (…) die Entschlossenheit Italiens, sich dem Kommunismus zu widersetzen, wiederherzustellen.«

Einzuordnen ist der TD in Subversionsstrategien, benannt in der NSC-Direktive 10/2 von Juni 1948. Ihr zufolge sollten »geheime paramilitärische Operationen sowie eine politische und ökonomische Kriegführung« realisiert werden. Dazu gehörten geheime »Propaganda, (…) Sabotage, Sabotageabwehr, Zerstörungen (…) sowie Unterstützung für alle antikommunistischen Kräfte innerhalb gefährdeter Länder der freien Welt«. Das Dokument »war Grundlage für eine Vielzahl späterer Sonderprojekte (special operations)«. Die so ausgebildeten Geheimarmeen »sollten später das Rückgrat der NATO-Organisation GLADIO sein«, heißt es bei Klaus Eichner und Gotthold Schramm.4

Altnazis unter sich

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Doch was passierte, nachdem der Gladio-Vorläufer TD aufgeflogen war? »Schlagartig wurden«, so Georg August Zinn vor dem Landtag, »mehrere der Hauptbeteiligten festgenommen und die Räume des BDJ in Frankfurt am Main durchsucht. (…) Gegen die Festgenommenen erging Haftbefehl. Die beiden Vorsitzenden des BDJ waren nicht aufzufinden. Die Sache wurde von der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main an den Herrn Oberbundesanwalt abgegeben, der am 1. Oktober 1952 die Entlassung aus der Untersuchungshaft anordnete, weil die Beschuldigten angaben, daß die Organisation auf Anordnung amerikanischer Dienststellen geschaffen worden sei.« Zinn weiter: »Die einzige juristische Erklärung für diese Haftentlassung kann sein, daß die Leute in Karlsruhe einer amerikanischen Anweisung folgten.«5 Dort rannte man offene Türen ein: Zu den Bundesanwälten zählte Helmut Schrübbers, vor 1945 bei der Generalstaatsanwaltschaft am Reichsgerichtshof tätig und ab 1955 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV).

Dort war er in bester Gesellschaft. Herren in leitenden Positionen der Landes- und Bundesämter waren zuvor u.a.: Mitarbeiter im Reichssicherheitshauptamt/Gestapo, Oberst im Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht, Mitglied der Leibstandarte Adolf Hitler oder der Waffen-SS – und: beteiligt an Kriegsverbrechen. Jemand wie Erich Ehrlinger vom Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Saarland wurde 1962 wegen Beihilfe zu Mord in 1045 Fällen zu zwölf Jahren Haft verurteilt – und 1965 entlassen.

Insofern erscheinen die Grenzen zum TD fließend. Zinn: »Da es (…) auch zu Fälschungen von Ausweispapieren gekommen war (…), sind weitere Ermittlungen (…) angestellt worden. Dabei hat sich ergeben, daß der Organisation eine wesentlich höhere Bedeutung zukommt als ursprünglich angenommen (…). An der Spitze der Organisation stand ein Stab. Innerhalb des Stabes bestand ein Referat If, dem ein (…) illegaler ›Abwehrdienst‹ unterstand. Nach dem Geständnis des Leiters des Abwehrdienstes war auch ein Sachbearbeiter für Liquidierung eingesetzt.«

Vom Fach war auch Dieter von Glahn, TD-Bereichsleiter Oldenburg/Bremen. In Norddeutschland baute er, so der Spiegel 48/1990, »Geheimdienststrukturen auf. (…) Die Amerikaner überprüften vorher Lebenslauf und Gesinnung; rechte Antikommunisten und Rechtsradikale galten als zuverlässig. Dieter von Glahn hatte darüber hinaus das Plus, nicht erst das Agentenhandwerk lernen zu müssen. Als ehemaliger Abwehroffizier der Wehrmacht kannte er sich im ›Geschäft der verdeckten Arbeit‹ bereits aus. Seiner politischen Linie ist von Glahn bis heute treu: Vom ganz rechten CDU-Rand wechselte er kurzfristig zu den Republikanern und ist außerdem Mitglied der deutschnationalen Konservativen Aktion.«

1000 bis 2000 Mitglieder

oktoberfest

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Einzeltäter oder Anschlag einer rechtsterroristischen Gruppe mit Verbindungen zur NATO-Geheimarmee Gladio: Das Bombenattentat auf das Münchner Oktoberfest 1980 gibt bis heute Rätsel auf

Wie eng man sich an faschistischen Geheimdiensten orientierte, zeigt auch die Personalie Paul Lüth. Dieser war, so Daniele Ganser, »ein ranghohes Mitglied des BDJ-TD und Kontaktmann der CIA, kontrollierte den Geldfluß, der aus den USA strömte. (…) Lüth traf sich regelmäßig mit Amerikanern (…). Als die (…) Geheimarmee entdeckt wurde, wurde Lüth von den Amerikanern versteckt (…) und verschwand spurlos.« Als ideologischer Kopf des TD war er (unter dem Pseudonym Peter Bor) Autor der Schrift »Gespräche mit Halder«. Franz Halder, Generalstabschef des Heeres von 1938 bis 1942, hatte 1942 Reinhard Gehlen mit der Leitung des Nachrichtendienstes Fremde Heere Ost beauftragt.

Nach 1945 machten sich die USA die »Feindaufklärung« der Nazis zunutze. Unter Mitarbeit von Kriegsverbrechern entstand in der BRD die Organisation Gehlen und daraus 1956 der BND, dessen Präsident Gehlen wurde. Aus Kriegsverbrechern rekrutierte sich auch der Militärische Abschirmdienst (MAD). Sein erster Amtschef, Josef Selmayr, zählte zum Generalstab von Fremde Heere Ost, bevor er in US-Gefangenschaft geriet und zu 15 Jahren Haft verurteilt, dann aber schon 1950 entlassen wurde.

In Lehrgängen wurden die TD-Mitglieder u.a. im Gebrauch diverser Waffen und Sabotagemittel geschult. Die »Mitgliederzahl der Organisation soll sich zwischen 1000 und 2000 bewegen, wobei allerdings angenommen werden kann, daß ein Teil der Mitglieder nicht wußte, welchen Charakter die Organisation hat«, so Zinn. Und: »Das Geld floß durch fingierte Aufträge einer angeblichen amerikanischen Stelle in die Firma. Neben den laufenden Zuwendungen in Höhe von monatlich etwa 50 000 DM flossen der Organisation auch die Mittel zur Gründung der Tarnfirma, für den Hauskauf in Waldmichelbach zu.«

Mehr noch: Der TD erstellte mit Hilfe seines Referats If Namenslisten: »Nach dem Geständnis des leitenden Mannes des Abwehrdienstes sollten diese Personen im Falle X ›kaltgestellt‹ werden.« Zinn weiter: »Unter dem beschlagnahmten Material des Abwehrdienstes befinden sich (…) nur 15 Karteiblätter über Kommunisten, dagegen rund 80 Karteiblätter über führende Sozialdemokraten«, unter ihnen Politiker bis hin zum Ministerpräsidenten von Niedersachsen, außerdem der Chefredakteur von dpa und ein Gewerkschaftsvorsitzender. Dabei falle auf, daß »zahlreiche in der Kartei erfaßte Mitglieder der SPD kommunistischer Verbindungen verdächtigt werden, z.B. der hessische Innenminister Heinrich Zinnkann«. Allerdings: »Ein großer Teil des Geheimmaterials ist nach den Geständnissen der Hauptbeteiligten vernichtet worden. Weiteres Material soll einem amerikanischen Verbindungsmann übergeben worden sein. Die Geldmittel und die Waffen wurden von einem Amerikaner zur Verfügung gestellt, der die Lehrgänge überwacht hat. Ihm sind auch Durchschläge der Karteiblätter des Abwehrdienstes zugeleitet worden.« Ein weiterer Verbindungsmann habe den »Leiter der Organisation, Peters, nach Bekanntwerden der Polizeimaßnahmen in einem (…) den deutschen Behörden nicht zugänglichen Haus untergebracht.«

1990 bestätigte ein ehemaliger CIA-Agent bei Stern-TV mit verstellter Stimme, daß Gladio aus Mitgliedern der ehemaligen SS, der Waffen-SS und dem BDJ rekrutiert wurde. Von Glahn sekundierte: »Unser Auftrag und unsere Organisation waren deckungsgleich mit dem, was man heute über ›Gladio‹ weiß.« (Der Spiegel, 48/1990) Zur Erinnerung: Die Geheimarmeen wurden in den 50er Jahren aufgebaut. Die Einheiten aus den einzelnen Ländern, die über geheime Waffenlager verfügten, waren über NATO-Gremien verbunden, ab 1964 unterstanden sie dem Allied Coordination Committee mit Sitz in Brüssel. Gladio werden – im Verbund mit eigens aufgebauten bzw. infiltrierten neofaschistischen Gruppen – zahlreiche Terroranschläge zugeschrieben. In Italien kam es zu Anschlägen wie in Mailand 1969 (17 Tote, v.a. Bauern) oder Bologna 1980 (85 Tote in der Wartehalle des Bahnhofs).

Strategie der Spannung

Das Motiv ist in der Strategie der Spannung zu suchen. Damit galt es, so der italienische Soziologe Dario Azzellini, »den Eindruck einer Instabilität sowie Angst zu erzeugen, um damit die Forderung nach einem ›starken Staat‹ plausibel zu machen. Sie wurde von einem Netz klandestiner Organisationen, bestehend aus Militärs, Geheimdienstlern und Zivilisten, umgesetzt. (…) Die Strategie (…) entspricht (…) den im Zusatzabkommen zur Schaffung von Gladio formulierten Aufgaben.«

In das Bild fügt sich die Oktoberfestbombe, die kurz vor der Bundestagswahl von 1980 13 Tote und über 200 Verletzte forderte. Mit ihrer Einzeltäterthese blamierte sich die Bundesanwaltschaft schnell. Zeugen hatten den Attentäter Gundolf Köhler kurz vor der Explosion mit anderen Personen am Tatort gesehen. Unter den Asservaten: nicht zuzuordnende Teile einer Hand, davon Fingerabdrücke auf Unterlagen von Köhler. 1997 wurde etliches Beweismaterial vernichtet – bald nachdem DNA-Verfahren möglich geworden waren. Von Köhler führte eine Spur zur »Wehrsportgruppe Hoffmann« und zu Heinz Lembke, der Rechtsextremisten »im Gebrauch von Sprengstoff und explosiven Geräten ausbilde«, so ein Mitglied der Wehrsportgruppe (WSG) kurz nach dem Attentat. Hinweisen auf Waffenverstecke wurde nicht nachgegangen. Ein Jahr später wurden infolge eines Zufallfundes in der Lüneburger Heide »auf einem Areal, groß wie 125 Fußballplätze« (Spiegel) 88 Kisten in 31 Erdverstecken gefunden. Der inhaftierte Lembke wurde einen Tag, bevor er aussagen wollte, wer die Waffen nutzen sollte, erhängt in seiner Zelle aufgefunden.

Die Bundesregierung leugnete jeglichen Zusammenhang mit Geheimarmeen der NATO, obwohl bekannt war, daß in »Norddeutschland (…) Brückenköpfe«6 geplant waren. Geographische Hinweise lieferte der Spiegel schon 1952. Laut einer militärischen Anweisung an die BDJ/TD-Mitglieder sollten diese »im Falle X handstreichartig und, wenn nötig, mit Gewalt« Kraftfahrzeuge in Besitz nehmen. Das Ziel: Abtransport von BDJ-Mitgliedern »zu einem Meldekopf des norddeutschen Raumes in der Lüneburger Heide« (Spiegel 42/1952). An den TD erinnern auch paramilitärische Übungen, die der Namensgeber der WSG, Karl-Heinz Hoffmann, auf seiner Residenz durchführte. Zu Gundolf Köhler räumte dieser nur eine »flüchtige Bekanntschaft« ein. Umso großspuriger äußerte er sich über Fallschirmjäger in der Gruppe: »Es gibt schon Leute, die uns geflogen haben. Die will ich Ihnen aber nicht nennen.«7 Müßig zu erwähnen: Die WSG Hoffmann war von V-Leuten durchsetzt.

Und der NSU?

Im Anschluß an die Geschichte des TD und der WSG Hoffmann, wenn nicht der von Gladio, fragt sich: Inwieweit sind derlei Strukturen heute noch wirksam? Oder: Ist das Verhältnis vom TD zum BDJ vergleichbar mit dem des NSU zum Thüringer Heimatschutz? Immerhin: Bei letzterem, dem Rekrutierungsbecken des NSU, waren den Untersuchungsausschüssen zufolge von etwa 140 Mitgliedern rund 40 V-Leute.

Langsam kommt auch die Verstrickung des Militärischen Abschirmdiensts (MAD) zum Vorschein. Dieser hatte bereits 1995 mit Uwe Mundlos Kontakt und führte von 1997 bis 2003 mit dem BfV und dem Thüringer LfV die Geheimoperation »Rennsteig« durch. 2011 meldete die Tagesschau: »Eine Verbindung könnte der Sprengstoff sein, den das Trio zum Bau von Rohrbomben eingesetzt hatte. Die Explosivstoffe könnten aus Bundeswehrbeständen stammen. Laut Focus wurde der MAD kurz nach dem Untertauchen des Trios 1998 über dessen Aufenthaltsort informiert.«8

Mutmaßlich war Thomas Starke, langjähriger V-Mann des Berliner LKA, nicht nur für eine Behörde tätig. Zeitweise mit Beate Zschäpe liiert, besorgte er der Terrorzelle schon in den 90ern Sprengstoff. Laut Spiegel online (13.9.2012) von September 2012 stieg er zudem »in die Spitze der sächsischen Sektion des militanten Neonazinetzes ›Blood&Honour‹ (B&H) auf.« Darin liegt Potential zur weiteren Ausweitung des Skandals. Denn B&H ist ein europaweites Netzwerk mit einem bewaffneten Arm namens Combat18. Andrea Röpke, Journalistin u.a. für Monitor, Panorama und Stern: »Als einer der eifrigsten Verfechter von C18 galt der 1995 wegen Anstiftung zum Mord an einem Angolaner (…) verurteilte Neonazi Carsten Szczepanski aus Berlin, der später als Informant des Verfassungsschutzes enttarnt wurde. Auch er bewegte sich im Umfeld des abgetauchten Trios.« Bezeichnend: »Bereits 1999, kurz bevor der NSU mit dem Morden begann, wurde auch Schweden von verschiedenen gewalttätigen Aktionen der militanten White-Power-Bewegung erschüttert.« Auch dort mit Todesfolgen. Röpke weiter: »Im Zwickauer Brandschutt fanden sich auch Videosequenzen von rechten Aufmärschen in Dänemark und Schweden.« Die Anhaltspunkte weisen auf eine neue Dimension: Wenn die B&H/C18-Netzwerke vergleichbar infiltriert sind wie die THS/NSU-Netzwerke, dann käme eine internationale Koordinierung von faschistischen Anschlägen in höherem Auftrag in Frage. Damit drohten Strukturen in der Traditionslinie von Gladio aufzufliegen. Erinnerungen an das Allied Coordination Committee der NATO würden wach, die Rolle des MAD erschiene in neuem Licht.

Zurück nach Hessen, wieder einmal ein Schlüsselland. Ein V-Mann des LfV, Andreas Temme alias »Klein Adolf«, war 2006 in einem Internetcafé während einer der Morde am Tatort. Laut Bild ergaben die Bewegungsprofile der Polizei, daß T. an insgesamt sechs Tatorten der NSU-Morde zugegen war. »Seine vorläufige Festnahme« markierte »das Ende der rassistischen Mordserie«, so der Journalist Markus Bernhardt. Der Stern im April 2012: »Andreas T. arbeitet damals als ›Quellenführer‹, betreut sechs Vertrauensmänner – und zwar sowohl in der islamistischen als auch in der rechtsextremen Szene. (…) Am Tag als Halit Yozgat ermordet wurde, telefonierte Andreas T. mit einem rechtsradikalen V-Mann. (…) Darüber hinaus soll (er) auch an exakt jenen Tagen mit seinem rechten V-Mann telefoniert haben, als in München Theodorus B. und in Nürnberg Ismail Y. ermordet wurden. Zufall?« Im Zusammenhang mit dem V-Mann wird Volker Bouffier (CDU), damaliger Innenminister und heute Ministerpräsident von Hessen, gezielte Vertuschung vorgehalten.

Durchsetzung von faschistischen Terrorbanden, Einstellungen von Verfahren, Verheimlichung und Vertuschung, eine dubiose Rolle der Bundeswehr: Historische Parallelen drängen sich auf. Ob beim TD/BDJ, bei der WSG Hoffmann oder beim NSU: Stets wurde Beweismaterial vernichtet. Und: Warum verschwanden Funktionäre des TD spurlos, nachdem dieser aufgeflogen war? Warum wurde Lembke tot in seiner Zelle aufgefunden? Warum kamen Mundlos und Böhnhardt ums Leben? Der Hamburger Innensenator Udo Nagel noch 2011: »Auch ich habe an der Selbstmordtheorie erhebliche Zweifel.« Und die Überlebende des vermeintlichen Trios? Laut Hinweisen aus dem Thüringer LKA stand Zschäpe, so die Leipziger Volkszeitung, im Dienst des Thüringer LfV. Derweil konnte »Mundlos über eine sächsische Meldebehörde an einen falschen Reisepaß herankommen« (Der Tagesspiegel vom 24.11.2011).

Klima der Angst

Mithin fragt sich: Wie lang war die Leine, an der ein TD, eine WSG Hoffmann, ein NSU liefen? Mehr noch: Wem nutzt eine Leine, ohne die wohl keine dieser Gruppen überhaupt hätte laufen können? Schließlich: Warum sollte heute eine Strategie der Spannung ausgedient haben? Zu einer Zeit eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbaus – Zerschlagung sozialer Sicherungen, Abbau von Demokratie, Kriegspolitik nach außen, Ausbau repressiver Strukturen im Innern?

Teil der Strategie ist es, ein »Klima der Angst« zu schaffen. Dazu zum Schauplatz Köln, ­Juli 2012: Auf einer Veranstaltung am Rheinufer schildern Mitat Özdemir, Vorsitzender der Interessengemeinschaft Keupstraße, und Kutlu Yurtseven, ehemaliger Bewohner der Straße, die Folgen der Anschläge auf die dortige Stimmung. Fazit: Durch die Ermittlungen im Umfeld der Opfer sei das grundsätzlich freundschaftliche Klima einer zunehmenden Verunsicherung gewichen. Aus dem Publikum erklärt ein Kollege: Die Art der Anschläge käme ihm bekannt vor. Vor rund 30 Jahren seien sie in der Türkei auch mit Nagelbombenanschlägen konfrontiert gewesen, eine Folge des Zusammenwirkens von Militär, Geheimdiensten und faschistischen Banden. Mit Sebastian Carlens (jW, 18.8.2012) läßt sich verallgemeinern: »Eine ›Strategie der Spannung‹, die Mißtrauen (…) sät, (…) Menschen ihre ökonomische Grundlage raubt, sie in Todesangst versetzt (…). Wie zermürbend solche Verdächtigungen sind, können die Angehörigen der Opfer des NSU bestätigen. (…) Das zu erwartende Verhalten der Ämter [ist] selbst schon integraler Bestandteil der Terrorstrategie (…). Mit dieser polizeilich verinnerlichten Vorverurteilung gerät die Spirale in Gang, die letztlich die Opfer zu Tätern macht – und den Taten der Neonazis damit nachträglich zum Erfolg verhilft.«

Mitat Özdemir sagte auch: Es gab als Antwort eine antifaschistische Demonstration mit mehreren zehntausend Teilnehmern. Er habe schon viel erlebt, aber nie sei er derartig beeindruckt gewesen wie von dieser Manifestation der Solidarität. Das hätten sie als großes Glück empfunden.

Sicher ist: Das macht noch keine handfeste Gegenstrategie, doch es birgt das Ziel in sich: Daß ihre Rechnung, auf kurz oder lang, nicht aufgehe.

Anmerkungen

1 Daniel Ganser: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, 2. Aufl., Zürich 2008, S. 307
2 Olaf Goebel: Gladio in der Bundesrepublik, in: Jens Mecklenburg: (Hg.): Gladio. Die geheime Terrororganisation der NATO, Berlin 1997, S. 48-89, hier: S. 66
3 Zit. nach: Leo A. Müller: Gladio – das Erbe des Kalten Krieges, Reinbeck bei Hamburg, S. 72
4 Klaus Eichner/Gotthold Schramm: Angriff und Abwehr. Die deutschen Geheimdienste nach 1945, Berlin 2007, S. 168f.
5 Zit. nach: Daniel Ganser: NATO-Geheimarmeen in Europa. Inszenierter Terror und verdeckte Kriegsführung, 2. Aufl., Zürich 2008, S. 307
6 Zit. nach: Olaf Goebel: Gladio in der Bundesrepublik, in: Jens Mecklenburg: (Hg.): Gladio. Die geheime Terrororganisation der NATO, Berlin 1997, S. 48-89, hier: S. 78
7 Zit. nach: Claudia Wangerin: Die Mär vom Einzeltäter, in: junge Welt, 24.09.2010, S. 10f
8 www.tagesschau.de/inland/rechtsterrorismus110.html