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»Dann fiel der Schuss« Was der türkische Staat in den linken Stadtteilen Istanbuls betreibt, kann man nur mit einem Wort beschreiben: Terror

Peter Schaber, junge Welt 14.1.16

Es ist eine Botschaft, die sie an uns senden: Wenn wir eine der Unschuldigsten von euch umbringen können, können wir euch alle umbringen«, sagt ein junges Mädchen, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt, als wir im Wohnzimmer der Familie Dogan im alevitischen Istanbuler Viertel Kücük Armutlu sitzen. Hier, wenige Schritte von uns entfernt, hatte am 18. Oktober 2015 der Polizist Yüksel M. ohne ersichtlichen Grund die 25jährige Dilek Dogan während einer Hausdurchsuchung erschossen.

Aysel Dogan, die Mutter der Ermordeten, erinnert sich an den Abend der Tat. Mehmet, Dileks Bruder, wollte aus Kayseri zu Besuch kommen und die Familie überraschen. Im Hause der Dogans aber wusste man Bescheid. Man entschied sich dennoch, nicht wach zu bleiben und auf Mehmet zu warten, weil die ganze Familie werktätig ist.

Als die Razzia begann, stürmte der aggressivste Beamte, Yüksel M., in die Wohnung, durchsuchte die Zimmer. »Sie haben dann gesagt, sie suchen nach einem potentiellen Selbstmordattentäter. Sie sagten einen Namen, den wir nicht kannten. Dann wurde ich wütend und habe gesagt: Ihr seht doch dieses Haus. Wir haben zwei Zimmer, es ist offensichtlich, wer hier wohnt. Hier sucht ihr nach Selbstmordattentätern? Und nach dem Attentat von Ankara habt ihr nichts getan. Geht eure Selbstmordattentäter woanders suchen, hier sind sie nicht. Das ist ein normales Haus.«

Wenig später entstand ein Streit zwischen Dilek Dogan und dem späteren Schützen. Die 25jährige forderte, die Beamten sollen sich Hausschuhe anziehen, um das Haus nicht zu beschmutzen. Yüksel M. ging kurz in den Garten, kam wieder. »Dann habe ich mitbekommen, wie er mit gezogener Waffe in Richtung von Dilek und ihrem Bruder anfing zu rufen: ›Was habe ich Dir gesagt? Was habe ich Dir gesagt?‹ Er ging auf sie zu, in den Raum nahe beim Eingang. Dann fiel der Schuss.«

Systematische Gewalt

In Kücük Armutlu, der Nachbarschaft, in der Familie Dogan lebt, sind Polizeirazzien keine Seltenheit. Es ist ein linkes Viertel und hier leben mehrheitlich Aleviten, eine in der Türkei und zuvor im Osmanischen Reich seit Jahrhunderten verfolgte Minderheit. Vermummte und schwer bewaffnete Einheiten, die Wohnungen stürmen, gehören hier zum Alltag. »Unsere Nachbarschaft wird oft zum Ziel der Polizei. Wir leben hier seit 20 Jahren, wir haben viele dieser Angriffe gesehen«, erzählt Aysel Dogan. »Und manchmal sind sie auch schon zuvor zu uns nach Hause gekommen. Aber ich konnte mich nie wirklich an diese Razzien gewöhnen. Ich habe Panikattacken deswegen.«

Nach Dilek Dogans Ermordung haben Jugendliche aus dem Kiez am Eingang zur Nachbarschaft ein Zelt errichtet. Es sollte an die junge Frau erinnern. Die Polizei kam mit Wasserwerfern, gepanzerten Fahrzeugen und zerstörte das Zelt. Die Aktivisten bauten es erneut auf. Wieder kamen Wasserwerfer, wieder wurde das Zelt zerstört, junge Menschen, die es verteidigten, verletzt. Auch das ist kein besonderer Vorgang, sondern Normalität. Der Staat trägt Sorge dafür, dass seine Gegner sich nicht äußern können. Und wenn sie keine Einsicht zeigen, dann hat jemand zu sterben, auf dass das Gefühl der Angst den Widerstandswillen breche. Wie aber nennt man eine Praxis, die darauf abzielt, Menschen mit systematischem Einsatz von Gewalt das Fürchten zu lehren, mit dem Ziel, sie zu unterwerfen? Terror. Und nichts anderes ist es, was der türkische Staat hier, in Kücük Armutlu, und an zahlreichen anderen Orten ausübt.

Selektive Empathie
»Vergessen wir nicht die Menschen in der Türkei, die immer wieder Opfer des Terrors werden. Wir fühlen uns den Menschen in der Türkei in Solidarität verbunden.« Keine 24 Stunden hatte es nach dem Bombenanschlag auf das touristische Herz Istanbuls am Dienstag, bei dem mindestens zwölf Menschen ums Leben kamen, darunter mindestens zehn Deutsche, gedauert, bis Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Mitgefühl und ihre Solidarität zum Ausdruck brachte. Dabei hatte sie über Wochen und Monate genau diese »Menschen in der Türkei«, die »immer wieder Opfer des Terrors« werden, geflissentlich ignoriert – und sie zeigt ihnen auch weiterhin die kalte Schulter.

Die Hunderten toten Kurden in jenem brutalen Krieg, den die türkische Regierung gegen Städte und Dörfer im Südosten des Landes führt, bleiben unerwähnt. Die von Polizei und Militär Drangsalierten und Geschundenen in den linken Stadtteilen der türkischen Metropolen, auch sie können nicht auf warme Worte, noch weniger auf Taten, aus Berlin hoffen. Dilek Dogan war nicht die erste, deren Tod auch durch dieses Schweigen ermöglicht wurde. Und sie wird leider nicht die letzte sein.

Mord auf Video
Am 21. Dezember 2015, also zwei Monate nach dem Mord an Dilek Dogan, gelangte ein Polizeivideo an die Öffentlichkeit, das die Tat dokumentierte (siehe jW vom 22. Dezember). Es widersprach den bis dahin zirkulierenden Versionen, dass Dilek Dogan Widerstand geleistet oder die Tat irgendwie provoziert hätte. Ganz klar dokumentierte der Film: Dilek Dogan wurde ohne jeden ersichtlichen Grund erschossen.

Unklar bleibt allerdings, wie das Video seinen Weg an die Öffentlichkeit fand. Eine Version, die jW im Umfeld der Ermordeten in Erfahrung bringen konnte, besagt, dass einer der Polizisten, der Kameramann, ein schlechtes Gewissen bekommen habe. Nachbarn hatten ihn beim Verlassen des Hauses gehört, wie er seine Kollegen anschrie: »Was macht ihr hier eigentlich? Was soll das?« Dieser Version zufolge ist der besagte Beamte, der das Video weitergegeben habe, bereits suspendiert, gegen ihn laufe ein Verfahren.

Eine andere Einschätzung kommt aus Anwaltskreisen. Eine mit dem Fall vertraute Juristin erklärte gegenüber jW, dass sie es für durchaus möglich halte, dass der Staat das Video selbst zur Veröffentlichung freigegeben habe. »Man zeigt den Menschen diese Tat, damit sie ihre Wirkung noch besser entfalten kann. Die Leute sehen das Video und denken: Es kann jeden treffen.« Tatsächlich gibt es viele Parallelen zu diesem Vorgehen. Die berüchtigten Spezialeinheiten der türkischen Polizei, die derzeit in Kurdistan wüten, veröffentlichen auf ihren eigenen Accounts in sozialen Medien immer wieder Bilder von durch Polizisten hingerichteten Kurdinnen und Kurden, zusammen mit wüsten Drohungen. Auch historisch ist dieses Vorgehen nicht unbekannt: Als 1993 ein aufgebrachter islamistischer Mob in einem Hotel in Sivas 37 Aleviten lynchte, lief der gesamte Vorgang live im Fernsehen – acht Stunden lang.