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»Es handelt sich um eine politische Entscheidung«

Zehn Menschen fast ein Jahr in Haft, obwohl Organisation, der sie zugerechnet werden, hier auf keiner »Terrorliste« steht. Gespräch mit Berthold Fresenius

Interview: Gitta Düperthal, junge Welt 18.3.16

Berthold Fresenius ist Rechtsanwalt in Frankfurt am Main

Am heutigen Freitag ist der »Tag der politischen Gefangenen«. Seit fast einem Jahr sind in Deutschland zehn Aktivisten inhaftiert, von denen einige in der ATIK, Konföderation der ArbeiterInnen aus der Türkei in Europa, organisiert sind. Vorgeworfen wird ihnen die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129b Strafgesetzbuch. Unter den Betroffenen Ihr Mandant Erhan Aktürk. Wie ist seine Situation?

Mein Mandant und die neun Mitangeklagten, alle seit dem 15. April 2015 inhaftiert, sollen Mitglieder der Kommunistischen Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch, TKP/ML, und für sie in Deutschland aktiv gewesen sein. Die TKP/ML steht weder in der Bundesrepublik noch in der EU auf einer sogenannten Terrorliste, sondern einzig in der Türkei. Aktivitäten ihrer Mitglieder sind in Deutschland nicht verboten. Strafverfolgung kann nur erfolgen, wenn das Bundesjustizministerium, BMJ, seine Ermächtigung erteilt. Mein Mandant befand sich auf dieser Grundlage zunächst in Isola­tionshaft: 23 Stunden in einer Zelle, in einem Trakt mit eigenem Zugang zum Hof. Verteidigerpost wird von einem Richter gelesen, Kontakte sind nur mit Trennscheibe möglich. Die Isolation ist nach mehreren Anträgen weitgehend aufgehoben, letztere Erschwernisse bestehen fort.

Wie lauten die Tatvorwürfe?

Es geht nicht um konkrete Delikte, die nach dem Strafgesetzbuch verfolgt werden. Unter Anklage steht ihre Mitgliedschaft; die Teilnahme an Treffen, das Organisieren von Demonstrationen. Die Angeklagten sind Mitte April 2015 in Deutschland, Griechenland, Frankreich beziehungsweise der Schweiz festgenommen worden. Vergleichbares hatte der Generalbundesanwalt seit Jahrzehnten nicht betrieben. Der zehnte Angeklagte wurde kürzlich aus der Schweiz nach Deutschland ausgeliefert.

Die Festnahmen seien mit Ermächtigung des BMJ, per Anweisung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan erfolgt, der generell politische Gegner, Wissenschaftler und Journalisten wegsperre, so die Kritik von ATIK.

Aktion 200000
Die Festnahmen sind zunächst nicht auf Erdogan zuzuspitzen. Sie basieren auf langer Tradition der Zusammenarbeit türkischer Dienststellen mit deutschen Verfolgungsbehörden. 1989 gab es das erste große Staatsschutzverfahren gegen etwa 20 Angeklagte der PKK, danach war Ruhe. Das jetzige Verfahren begann im Jahr 2006, lief also neun Jahre, ohne dass es zu Festnahmen kam. 2015 hat das BJM entschieden, dass ein Strafverfahren stattfindet; was nach Meinung der Gerichte rechtlich nicht überprüfbar ist, da es sich um eine rein politische Entscheidung handelt.

Linke Kritiker fordern, den Paragraphen 129 abzuschaffen, da er generell das Recht auf Organisierung gefährde.

Dem kann ich mich nur anschließen. Auf welcher Tatsachengrundlage das BMJ sich für Strafverfolgung entscheidet, ist nicht öffentlich. Akten werden Verteidigern nicht zur Verfügung gestellt, Anträge auf Einsicht abgelehnt. Auszugehen ist davon, dass die Entscheidung auf Wunsch der Türkei erfolgt. Ab 13. Mai wird das Oberlandesgericht München ein aufwendiges Verfahren mit zehn Angeklagten beginnen, in dem Saal, wo aktuell auch der NSU-Prozess verhandelt wird.

Das Verfahren wird regelrecht in Szene gesetzt …

Derzeit wird ein Hochsicherheitstrakt wie in Stuttgart-Stammheim errichtet, ab Sommer ist er bezugsfertig. Nach dem Beispiel beabsichtigt das Gericht, auf dem Gelände der JVA München-Stadelheim im Gefängnisbunker zu verhandeln. Der Grund dafür ist im Tatvorwurf gegen die zehn Angeklagten nicht zu erkennen. Zu vermuten ist, dass deutsche Behörden dem Wunsch der Türkei folgend ein spektakuläres Großverfahren aufziehen, um oppositionellen Kreisen dort zu verdeutlichen: Gegen sie wird vorgegangen. Beteiligt sind das Auswärtige Amt, das BMJ, das Innenministerium und das Bundeskanzleramt – zweimal SPD, zweimal CDU. Das NATO-Mitglied Türkei wird als Verhandlungspartner im Deal um die Flüchtlingsfrage umworben.

Weshalb gibt es wenig Solidarität?

Solange sie selbst nicht betroffen sind, begreifen viele Organisationen eine solche Kriminalisierung offenbar nicht als grundsätzliches Problem. Die Gefahr ist aber: Je nach politischer Konjunktur wird bislang völlig legales Verhalten zum Verbrechen, das unter Umständen mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden kann.