DEUTSCHE WAFFEN

»Experten« im Konsens

Ist das Grundgesetz »überholt«? Die BRD will künftig autonom entscheiden, gegen wen sie Krieg führt
Von Peer Heinelt, junge Welt 22.4.16

Hintergrund: Dokument mit Tradition
Die Herausgabe von »Weißbüchern« durch das Bundesverteidigungsministerium hat hierzulande Tradition – ebenso wie die Beschwörung der »Bedrohung aus dem Osten«, die zur Zeit eine Renaissance erlebt. Schon im ersten Dokument dieser Art aus dem Jahr 1969 wird behauptet, die damals noch existente Sowjetunion betreibe eine »expansive Weltmachtpolitik« und sei daher als »mögliche(r) Aggressor« einzustufen. Folgerichtig habe die NATO die Strategie der »Flexible Response« (»angemessene Antwort«) entwickelt, die von einem »begrenzten Krieg« in Europa unter »Einsatz nuklearer Waffen« ausgehe und das Ziel verfolge, die BRD »so weit vorn wie möglich« zu verteidigen.

In den Jahren danach erfuhr das Konzept der »Vorneverteidigung« eine stetige Radikalisierung. So heißt es im »Weißbuch« von 1985, die Bundeswehr dürfe sich nicht auf die »grenznahe Abwehr von Angriffen« beschränken, sondern müsse in der Lage sein, Operationen zur »Bekämpfung des gegnerischen Potentials in der Tiefe« durchzuführen.

Mit dem Anschluss der DDR an die BRD und der Auflösung der UdSSR kam es Anfang der 1990er Jahre zu einer Umorientierung der deutschen Militärpolitik. Im 1994 erschienenen Buch ist zwar noch von »Landes- und Bündnisverteidigung« die Rede, weit wichtiger erschien den Autoren nunmehr allerdings die gewaltsame »Krisenbewältigung im erweiterten geographischen Umfeld«.

Das bis dato gültige »Weißbuch« aus dem Jahr 2006 wird noch etwas deutlicher. Hier heißt es, die deutschen Streitkräfte sollten den ungehinderten »Zugang zu Rohstoffen, Waren und Ideen« weltweit ebenso sicherstellen wie die Abwehr von »Terroristen« und » illegaler Migration«. Diesen »umfassenden Ansatz« deutscher »Sicherheitspolitik« will die amtierende Bundesregierung nun offenbar um eine Neuauflage der nuklearen und konventionellen »Abschreckung« gegen Russland ergänzen. (ph)

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Als die Süddeutsche Zeitung Anfang vergangener Woche über den Entwurf eines neuen »Weißbuchs zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« aus dem Bundesverteidigungsministerium (BMVg) berichtete, war die Aufregung über die darin zu findenden Aussagen groß. Das lag insbesondere daran, dass in dem für Sommer dieses Jahres angekündigten Grundlagendokument offenbar eine Neujustierung der deutschen Militärpolitik vorgenommen werden soll, die sowohl der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als auch dem Grundgesetz widerspricht. So heißt es in dem Entwurf etwa, die bis dato für die Durchführung von Kriegsoperationen verbindliche »Einbindung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« wie der NATO entspreche nicht mehr in jedem Fall der »steigenden sicherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands«; mitunter könnten auch »Ad-hoc-Kooperationen« notwendig und sinnvoll sein. Mit anderen Worten: Die BRD will künftig autonom entscheiden, wann sie wo zu welchem Zweck mit wem zusammen Krieg führt.

Die Empörung über dieses unverhohlene nationalistische Bekenntnis weicht indes schnell der Ernüchterung, betrachtet man den Entstehungsprozess des neuen »Weißbuchs«. Im Januar vergangenen Jahres ließ das von Ursula von der Leyen (CDU) geleitete BMVg verlauten, es werde bei der Erarbeitung des Dokuments auf das »Expertenwissen« führender Vertreter aus Wissenschaft, Denkfabriken, Lobbyorganisationen der Rüstungsindustrie, Politik und Medien zurückgreifen. Die besagten Fachleute wiederum sprachen von Anfang an Klartext: Bereits im April 2015 äußerten sie nach einem »Weißbuch- Workshop« über die »Perspektiven der Partnerschaften und Bündnisse« in Brüssel, »Ad-hoc-Koalitionen« böten die »Möglichkeit, flexibel und schnell auf Herausforderungen zu reagieren«. Dies könne zwar zu Problemen mit den bisherigen Bündnispartnern führen, jedoch sei Deutschland gehalten, »vor dem Hintergrund seiner Interessen und Werte grundsätzlich und auf den Einzelfall bezogen Stellung (zu) beziehen«. Selbst der bekennende NATO-Freund Robin Fehrenbach, Mitarbeiter des deutsch-amerikanischen Lobbyvereins »Atlantik-Brücke«, schreibt auf der vom Verteidigungsministerium eingerichteten Website zum »Weißbuch«, die deutsche Militärpolitik müsse vor allem »flexibel und kurzfristig anpassungsfähig« sein: »Bestimmte Vorfestlegungen in bezug auf etwaige Missionen könnten sich für gesetzte Ziele als hinderlich erweisen, etwa wenn das Weißbuch ›weiße Flecken‹ beschreiben und definieren sollte – also No-go-Areas, in denen Deutschland von vornherein nicht agieren solle (sic!).«

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem laut Süddeutscher Zeitung im Entwurf des »Weißbuchs« enthaltenen Bekenntnis zum Einsatz der deutschen Streitkräfte im Inland. Demnach will das Verteidigungsressort »einen wirkungsvollen Beitrag der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr an der Grenze von innerer und äußerer Sicherheit« ermöglichen. Auch diese Aussage kommt keineswegs überraschend, spiegelt sie sich doch in den Statements mehrerer vom Ministerium bei der Erstellung des militärpolitischen Grundlagendokuments herangezogener »Experten« wider. Schon im November vergangenen Jahres ließ die CSU-Bundestagsabgeordnete Julia Obermeier auf der Website des Ministeriums wissen, die Truppe müsse angesichts der »erstarkten terroristischen Bedrohung« nunmehr endlich »gemeinsam mit allen anderen nationalen Sicherheitsbehörden auch im Innern (…) Bürgerinnen und Bürger schützen«. Drei Monate später veröffentlichte das BMVg dann an nämlicher Stelle ein Interview mit dem ehemaligen Verteidigungsminister Rupert Scholz (CDU), der als »renommierter Verfassungsrechtler« präsentiert wurde. Scholz erklärt hier das Grundgesetz für »überholt«, da es lediglich »klassische Landes- und Bündnisverteidigung« kenne. Heute hingegen liefen »kriegerische Auseinandersetzungen« insbesondere »im Innern eines Landes« ab und gingen »gewöhnlich mit Terroranschlägen einher«, was den Einsatz des Militärs erfordere. Er werde sich deshalb »unbedingt« für eine entsprechende Verfassungsänderung einsetzen, so der Politiker.

Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass auch die im Entwurf des »Weißbuchs« vorgesehene Aufwertung des Bundessicherheitsrats auf die Anregungen einschlägiger Berater zurückzuführen ist. Das unter Vorsitz der Bundeskanzlerin geheim tagende Gremium, in dem die Ministerien für Inneres, Äußeres, Verteidigung, Finanzen, Justiz, Wirtschaft und Entwicklung vertreten sind, soll den Medienberichten zufolge nicht mehr nur für die Genehmigung von Rüstungsexporten zuständig sein, sondern als »strategischer Impulsgeber« fungieren. Analog äußerte sich Mitte Dezember letzten Jahres der außen- und verteidigungspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Florian Hahn, in seinen vom Verteidigungsressort online veröffentlichten »Thesen zum neuen Weißbuch«. Wie der Politiker erklärt, sei die wirksame »Kombination diplomatischer, entwicklungspolitischer, ziviler und militärischer Mittel« im Rahmen der Kriegsführung am besten durch einen »nationale(n) Sicherheitsberater mit einem interdisziplinären Mitarbeiterstab« zu gewährleisten. Hahns Aussage findet sich nahezu wortgleich in einem Text der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), die ebenfalls an der Erarbeitung des Grundlagenwerkes beteiligt ist.

Die medial inszenierte Aufregung über den »Weißbuch«-Entwurf verschleiert somit eine zentrale Tatsache:
Das Dokument ist nicht – wie suggeriert wurde – Ausdruck eines Alleingangs des Hauses von der Leyen, sondern entspringt dem militärpolitischen Konsens der hiesigen Eliten, die im Innern auf Repression und nach außen auf Aggression setzen.