ulrike69

»Ich hatte ein vertrautes Verhältnis zu meiner Schwester«

Gespräch. Mit Wienke Zitzlaff. Über Ulrike Meinhofs politischen Werdegang, ihre Haft und die Umstände ihres Todes
junge Welt 7.5.2016

Als Ulrike Meinhof vor vierzig Jahren starb, war sie 41, ihre Schwester Wienke 44. Die beiden hatten jede ihre eigene politische Geschichte, über die sie sich intensiv austauschten. Nach der Verhaftung ihrer Schwester 1972 hat Wienke sich jahrzehntelang für die Gefangenen aus der RAF eingesetzt, gegen die Isolationshaft und für ihre Freilassung.

Ron Augustin war ab 1971 in der RAF und war von 1973 bis 1980 wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in verschiedenen Gefängnissen fast ununterbrochen in Einzelhaft

Es gibt einen Dokumentarfilm, der die Umstände des Mordes an dem ersten Ministerpräsidenten des unabhängigen Kongo, Patrice Lumumba, erst nach vierzig Jahren genauer bekannt machte. Als du den Film gesehen hast, der von Thomas Giefer, einem Kommilitonen des 1974 nach einem Hungerstreik gestorbenen RAF- Mitglieds Holger Meins, gedreht wurde1, hast du gesagt: Vielleicht dauert es vierzig Jahre, bis wir wissen, was am 9. Mai 1976 in Stammheim war. Gibt es neue Fakten?

Nein, die Erkenntnisse der Internationalen Untersuchungskommission, die 1979 in Paris bekanntgemacht wurden2, haben so viele Ungereimtheiten in dem von staatlicher Seite veranlassten Todesermittlungsverfahren offengelegt, dass es bis jetzt fast nur Bemühungen gegeben hat, diese unter den Teppich zu kehren. Ich will sie nicht noch mal alle aufzählen, aber Ulrike soll sich an einem Fenstergitter aufgehängt haben, das von einer Platte aus feinmaschigem Fliegengitter bedeckt war. Polizeifotos in den Ermittlungsakten zeigen, dass der linke Fuß noch auf einem Stuhl abgestützt war, als sie gefunden wurde. Die Schlaufe, in der sie hing, war so lang und so zerbrechlich, dass bei einem Sprung der Kopf hätte rausrutschen oder der Strick hätte reißen müssen. Das Fehlen von Blutungen in den Augenbindehäuten und ähnliche Merkmale deuteten eher auf Fremdeinwirkung, und die Untersuchungskommission kam dann auch zu dem Schluss, dass meine Schwester tot gewesen sein muss, als sie aufgehängt wurde.

Wen hast du im Verdacht?

Darüber kann ich nur spekulieren. Es gab aber eine Feuertreppe, ein vom Knastverkehr total unabhängiges Treppenhaus, das von außen bis genau neben ihre Zelle im siebten Stock führte. So konnte man sich dort ungesehen Zugang verschaffen.

Wie hast du von ihrem Tod erfahren, und hast du sie vor der Beisetzung noch einmal sehen können?

Also am 9. Mai morgens um neun Uhr kam in den Nachrichten, dass Ulrike sich umgebracht hätte, und dann bin ich sofort mit ihrem Rechtsanwalt, Axel Azzola, nach Stammheim gefahren. Als wir ankamen, war die Leiche schon abtransportiert worden. Gudrun Ensslin (Mitglied der RAF; sie starb am 18.10.1977 unter bis heute ungeklärten Umständen in Einzelhaft in Stuttgart-Stammheim, jW) hatte sie sehen wollen, aber die Bundesanwaltschaft hat es verboten. Ich musste sie vor der Obduktion identifizieren, ansonsten durfte ich sie nicht noch einmal sehen. Azzola hat durchgesetzt, dass wir mit Gudrun sprechen können, die habe ich dann zum ersten Mal gesehen. Da war sie so mitgenommen, dass sie kaum sprechen konnte. Was wir genau gesprochen haben, weiß ich nicht mehr, aber sie hat von ihrem letzten Gespräch mit Ulrike erzählt, am Abend davor am Fenster, wo sie beide noch gelacht haben. Am selben Tag gab es eine Pressekonferenz der Anwälte in Stuttgart. Da bin ich aufgestanden und habe erzählt, dass Ulrike mir klipp und klar gesagt hat, schon als sie noch in Köln-Ossendorf war, wenn ich im Knast umkomme, dann bin ich umgebracht worden, ich tu mir selber nichts an. Da war sie noch in einem toten Trakt, total isoliert.

Bundesanwalt Felix Kaul hat dann in den Medien verbreiten lassen, dass es Spannungen zwischen den Gefangenen gegeben hätte, die »die Chefideologin der RAF in den Tod getrieben« hätten. Den Medien wurden Sätze aus Briefen zugespielt, die das belegen sollten.

Tatsache ist, dass Sätze verbreitet wurden, die fast ein Jahr alt waren, aus einer Auseinandersetzung, die schwierig verlief, aber nachweislich längst vorbei war. Gudrun sprach von einem »Konsolidierungsprozess«, der zwischen ihnen gelaufen war. Weil die Briefauszüge aus dem Zusammenhang gerissen und teilweise gefälscht veröffentlicht wurden, haben die Gefangenen diese ganze Korrespondenz über ihre Anwälte freigegeben. Von den Medien ist sie dann natürlich völlig unterschlagen worden.

Zuletzt hat Ulrike zusammen mit den anderen in Stammheim an Texten für den Prozess gearbeitet. Als sie dort am 4. Mai 1976 die Rolle der BRD im imperialistischen Staatensystem thematisiert haben, war Ulrike nicht im Saal, sondern in einem Besucherraum unten im Prozessgebäude, wo sie mit Rechtsanwalt Hans Heinz Heldmann den nächsten Beweisantrag vorbereitet hat. Dieser Antrag zur Rolle Willy Brandts und der SPD im Vietnamkrieg ist dann von Andreas Baader im Prozess eingebracht worden. Am 6. Mai hatte sie mit Rechtsanwalt Michael Oberwinder, wie er sagte, »eine scharfe Diskussion, wo Frau Meinhof den Standpunkt der Gruppe dargelegt hat« und am 7. Mai, zwei Tage vor ihrem Tod, diskutierte sie mit dem italienischen Anwalt Giovanni Capelli die Möglichkeit, etwas aufzubauen für die politische Verteidigung von Gefangenen in Westeuropa.

Schon 1971, als die Fahndung nach Ulrike und den anderen noch lief, wurden »Spannungen« in der Gruppe behauptet, um sie zu denunzieren. Sie verkörperte ja »die Stimme der RAF«, und es gibt bis heute nicht wenige, die sie gerne als »Verführte« darstellen, um sie »zurück ins Bürgertum zu retten«, wie die Süddeutsche Zeitung unlängst schrieb. Dabei wird geflissentlich vergessen, dass sie eine Kommunistin war, mit einer langen politischen Geschichte, die bis in die fünfziger Jahre zurückreichte. Ich denke, dass ich relativ wenig anfällig war für die offiziellen Versionen, weil ich ein vertrautes Verhältnis zu meiner Schwester hatte.

Wann hast du sie zuletzt lebend gesehen?

Der letzte Besuch war im März 1976. Danach, also nach ihrem Tod, habe ich Jan Raspe, Gudrun und Andreas besuchen können, da hat sich im Arbeitszusammenhang, zur Bildung einer internationalen Untersuchungskommission, ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Ich hatte immer anderthalb Stunden Besuch, jeweils mit einem von ihnen, das waren meistens vormittags, nachmittags und am nächsten Tag noch mal anderthalb Stunden. Das bedeutete, dass die Gefangenen untereinander reden konnten, was sie mit mir geredet hatten, so dass nicht alles wiederholt werden musste (die Gefangenen in Stammheim hatten seit Anfang des Prozesses gegen sie täglich gemeinsam Hofgang und stundenweise »Umschluss«, jW). Und meistens war Gudrun die letzte, mit der ich sprach. Das ging dann oft so, dass wir sagten, ihr habt schon alles geredet, sag doch mal, wie es dir geht, und lauter solche Sachen. Wir haben uns gut verstanden. Das war auch das Beeindruckende bei all diesen Begegnungen. Deshalb bin ich so empfindlich gegen die lächerlichen Verzerrungen in den Medien. Du hast einfach mit Menschen zu tun gehabt, die in der konkreten Situation sich konkret verhalten. Das ist ungeheuer hilfreich.

Kommen wir zu den Haftbedingungen. Dein erster Knastbesuch war eine Woche nach Ulrikes Verhaftung im Juni 1972. Hat sie dir erzählt, was alles mit ihr angestellt worden war, bevor ihr Anwalt zu ihr gelassen wurde?

Die Besuche waren immer im Beisein von Staatsschutzbeamten. Meistens war da der Alfred Klaus vom BKA dabei, der »Familienbulle«, der die ersten »Psychogramme« von RAF-Mitgliedern erstellt hat. Über vieles konnte nicht gesprochen werden, weil mit Abbruch des Besuchs gedroht wurde. Vom Anwalt wusste ich aber, dass er erst vier Tage nach ihrer Verhaftung zu ihr gelassen wurde, nachdem an ihr unter Androhung einer Äthernarkose eine ganze Latte von entwürdigenden körperlichen Untersuchungen vorgenommen worden war. Auch muss sie geschlagen worden sein, sie hatte überall blaue Flecken. Jutta Ditfurth hat das in ihrem Buch noch mal alles beschrieben.3

Ulrike war in Köln-Ossendorf in einem toten Trakt, das heißt in einer auch akustisch isolierten Abteilung, ohne andere Gefangene. Isolationshaft kannten wir schon aus der Zeit des KPD-Verbots. Von den Kommunisten, die in den fünfziger Jahren eingesperrt waren, wussten wir, dass sie Klopfzeichen benutzten, um miteinander von Zelle zu Zelle zu kommunizieren. Ulrike war aber alleine im Trakt, da gab es nichts zu klopfen. Ich habe ihr von meiner Erfahrung mit Schwerstbehinderten erzählt, deren Isolation in dieser Gesellschaft, und dem Kampf dagegen, weil Isolation einen Menschen so fürchterlich reduziert. Sie hat dann, nachdem sie erst acht Monate und dann noch mal wochenweise im toten Trakt gewesen war, diesen Text geschrieben, der mit dem Satz anfängt, »das Gefühl, es explodiert einem der Kopf …«4, wo sie beschreibt, was da abläuft.

Die Bundesanwaltschaft hat dann versucht, sie für ein Gutachten über ihren Geisteszustand in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen. Als das nicht lief, wurde eine Gehirn-Szintigrafie unter Zwangsnarkose angeordnet, unter dem Vorwand, dass Ulrike einen Gehirntumor hätte, der ihre Unzurechnungsfähigkeit beweisen könnte oder einen chirurgischen Eingriff rechtfertigen würde. Was von den Medien immer wieder in einen Gehirntumor uminterpretiert wird, ist ein harmloser Blutschwamm, der während ihrer Schwangerschaft 1962 festgestellt und behandelt wurde. Obwohl die Bundesanwaltschaft das genau wusste, hat sie es benutzt, um Ulrikes Zurechnungsfähigkeit in Frage zu stellen. Die Psychiatrisierungsversuche konnten nur durch die Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit im In- und Ausland verhindert werden.

Ulrike wird immer wieder so dargestellt, als ob sie sich von anderen, insbesondere Andreas, hat verführen und ausnutzen lassen. Dabei war sie diejenige, die die längste politische Erfahrung hatte, eine der beredtesten Wortführerinnen der Studentenbewegung, konsequenter als viele aus der Zeit. Und sie hatte einen verflucht starken Charakter. In der Illegalität und im Knast war sie identisch mit sich selbst, hat geschrieben, gekämpft, zusammen mit den anderen. Die Klischees in den Medien sind immer dieselben, von ihrem früheren Ehemann Klaus Rainer Röhl und dessen Freund Stefan Aust schon vor 45 Jahren vorgestanzt, um »die Stimme«, also die politische Identität der Gruppe, in ihr auszulöschen.

Du warst Rektorin einer Sonderschule in Hessen, hast du an deinem Arbeitsplatz oder sonst wo nie Probleme gehabt wegen der Geschichte mit deiner Schwester?

Doch. Die ganze Zeit von 1970 bis ’72, als Ulrike noch gesucht wurde, bin ich permanent von der Polizei observiert worden. Wo immer ich hinfuhr, wurde ich von der Polizei überwacht, meistens ganz offen. Zweimal ist der Alfred Klaus vom BKA zu mir gekommen und hat verlangt, dass ich meine Schwester treffen und sie dazu überreden sollte, dass sie sich stellt, weil sie sonst mit Sicherheit erschossen werden würde.

Dann hatte die CDU ihren Wahlkampf in Hessen 1974 damit eröffnet, dass sie die SPD wegen deren Schulreform angegriffen hat, wobei das schlimmste Beispiel die Schwester von Ulrike Meinhof sei. Nun war ich nicht in der SPD, von daher war es egal. Aber es war klar, sie wollten der Landesregierung anhängen, dass ich mich in meiner Schule halten kann, und das hat sich die ganzen Jahre so durchgezogen. Es ging natürlich auch um meine politischen Stellungnahmen. Ich war eine Linke, habe in bezug auf die Behindertenpädagogik eine fundamentale Gesellschaftskritik formuliert, auch bundesweit, aber ich war auch solidarisch mit meiner Schwester, habe mich nicht von ihr distanziert.

Ich bin während des Hungerstreiks der Gefangenen 1974 einmal verhaftet worden im Rahmen der Komiteearbeit. Das kam nachher durchs Fernsehen, und da war der Elternratsvorsitzende, ein Gleisbauarbeiter, eine halbe Stunde später bei mir zu Hause, um nachzusehen, wie es mir geht, und hat eine Elternversammlung einberufen, wo die Eltern gesagt haben, so geht man nicht mit unserer Rektorin um. Also da war was, ein Stück Solidarität, das war den Schulbehörden natürlich ebenfalls ein Dorn im Auge. Ich habe mich schließlich vorzeitig pensionieren lassen, das ist dann auch akzeptiert worden. Die waren froh, mich loszuwerden.

Nach der Pressekonferenz der Internationalen Untersuchungskommission in Paris 1979 durfte ich bis 1992 auch keine Besuche bei Gefangenen mehr machen, weil ich die »Sicherheit und Ordnung der Anstalt« gefährde.

Wie hast du mit Ulrike über die jeweiligen politischen Entwicklungen diskutiert? Hast du die Entscheidungsmomente zur RAF irgendwie mitbekommen?

Ulrike und ich haben jede eine eigene linke Geschichte, wobei wir sehr viel Austausch auch miteinander gehabt haben. Also sie hat zum Beispiel zu Hilfsschulkindern gearbeitet, und ist dafür in der Schule gewesen, in der ich gearbeitet habe. Sie hat viel dazu beigetragen, dass ich die ganzen Bücher der Pädagogen der zwanziger Jahre bekam, weil es die damals nur als Raubdrucke gab und sie die besorgen konnte. Wir haben uns beide in der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung (landesweite Proteste gegen die Wiedereinführung militärischer Strukturen in der BRD in den 1950er Jahren, jW) politisiert, waren an der Gründung der Deutschen Friedens­union beteiligt, als Versuch, ein breites linkes Bündnis zu bilden. Ulrike ist dann noch fünf Jahre Mitglied der illegalen KPD gewesen. Danach radikalisierte sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund, SDS, und bildete sich die APO, die außerparlamentarische Opposition der sechziger Jahre.

Ulrike hatte ihr Studium abgebrochen, um sich ganz der journalistischen Arbeit zu widmen, also hauptsächlich in der Redaktion von Konkret, aber daneben für andere Blätter, Rundfunk und Fernsehen. Sie war eine der wichtigsten Stimmen im Aufbruch der Studentenbewegung. Um ihre gründlich recherchierten Hintergrundartikel rissen sich alle. Wenn wir Schwestern uns sahen, sprachen wir über unsere Kinder, aber auch über die innenpolitische Lage, die Befreiungsbewegungen, Vietnam. Im Februar 1968 fand der Internationale Vietnamkongress statt. Ulrike war vier Tage zuvor nach Berlin umgezogen. Im Oktober lief dann der Prozess wegen der Frankfurter Kaufhausbrände, wo sie Andreas und Gudrun kennenlernte. Sie hat mir erzählt, wie sehr sie von ihren politischen Vorstellungen beeindruckt war. Mit Konkret hatte sie schon nicht mehr viel am Hut, wie sie auch in einem ihrer letzten Artikel unter dem Titel »Kolumnismus«5 zum Ausdruck gebracht hat. Sie hat noch an dem Film »Bambule« gearbeitet, hat in einer Stadtteilgruppe im Berliner Märkischen Viertel mitgemacht, hat vor allem international wichtige Diskussionen geführt.

Ich wusste nicht, dass Ulrike an dem Versuch beteiligt war, Andreas Baader zu befreien. Sie hatte mir aber erzählt, dass er festgenommen war, dass er irgendwie wieder aus dem Knast raus musste. Sie ist vier Wochen bevor sie untergetaucht ist, bei mir gewesen, um sich zu vergewissern, dass ich mich um ihre Kinder kümmere, falls etwas passiert. Als dann durch die Nachrichten kam, dass Andreas befreit war, war für mich klar, dass sie etwas damit zu tun hatte. Da war sie noch gar nicht in den Nachrichten, aber ich bin sofort nach Hause gefahren, damit ich die Kinder nehmen kann. Das mit den Kindern ist letztlich anders gelaufen. Aber ihre Entscheidung stand dann jedenfalls fest. Selbst hat sie den Schritt später damit begründet, dass für sie »politische Opposition und Illegalität identisch geworden sind«.

Anmerkungen

1 Thomas Giefer: Mord im Kolonialstil. Reihe Assassinats Politiques, L’Harmattan, Paris 2008

2 »Der Tod Ulrike Meinhofs« Bericht der Internationalen Untersuchungskommission, www.socialhistoryportal.org/raf/5520

3 Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof. Die Biographie. Ullstein Verlag, Berlin 2007

4 Ulrike Meinhof, »Zu den Wirkungen des toten Trakts«, www.socialhistoryportal.org/raf/text/307155

5 In: Ulrike Marie Meinhof: Die Würde des Menschen ist antastbar. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1980