»Ihr seid Mörder!«

Die Proteste in der Türkei flammen wieder auf – und der Staat reagiert wie gewohnt: mit brutaler Gewalt.

Am Freitag, den 6. September, rückten Polizeieinheiten auf dem Campus der Technischen Universität des Nahen Ostens (ODTÜ) in Ankara ein und eröffneten den »Heißen Herbst«, dem die Türkei nun entgegensieht. Einige hundert Menschen hatten dort zuvor ein Camp errichtet und so gegen ein Straßenbauprojekt protestiert. Ein Teil einer Schnellstraße soll durch den zu der renommierten Hochschule gehörenden Wald, der als grüne Lunge der Hauptstadt gilt, führen. Nach der Räumungen solidarisierten sich Tausende, es kam zu Straßenschlachten, schnell flammten auch in anderen türkischen Großstädten wieder Proteste auf.

Die Ähnlichkeiten zu den Massenprotesten anläßlich der Umstrukturierung des Istanbuler Gezi-Parks im Mai und Juni dieses Jahres sind offensichtlich: Wieder geht es um Bäume. Und wieder geht es um viel mehr. Die politischen Ziele der Bewegung blieben dieselben, denn am Vorgehen der AKP-Regierung änderte sich nichts. Sie ist nach wie vor neoliberal und autoritär, sie forciert eine gegen die Mehrheit der Bevölkerung gerichtete Stadtpolitik mit ausschließlich an Kapitalinteressen orientierten Bauprojekten. Und sie versucht, auch jenen ihr islamisches Weltbild aufzuzwängen, die ein säkulares, modernes Leben führen wollen. Nach wie vor mißachtet die von Recep Tayyip Erdogan geführte Regierung die Rechte von ethnischen und religiösen Gruppen wie den Kurden und Aleviten.

Als im Mai und Juni der Volksaufstand tatsächlich das politische Milieu der Türkei nachhaltig zu verändern begann, reagierte Ankara mit unverschleierter Gewalt. Hunderttausende Tränengaskartuschen ließ die Regierung auf ihre eigene Bevölkerung schießen. Die Tausenden politischen Gefangenen wurden um einige hundert mehr; mindestens 8000 Menschen wurden verletzt, viele von ihnen schwer. Sechs starben an den Folgen der Polizeigewalt. Nun, da es erneut zu Großdemonstrationen in Istanbul, Ankara und anderen Städten kommt, zeichnet sich ab, daß sich – trotz aller geheuchelten Empörung von Erdogans Freunden in Berlin und Washington – genau dieses Szenario wiederholt.

Allerdings scheint es diesmal weniger internationale Aufmerksamkeit zu geben. Keine Distanzierung etwa der Bundesregierung oder des NATO-Bündnispartners USA von der Gewalt der türkischen Polizei war dieses Mal zu hören, als am vergangenen Dienstag Ahmet Atakan in Antakya starb. Während die Behörden behaupten, der 22jährige sei »aus einem Fenster gefallen«, berichten Augenzeugen davon, daß er von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen worden sei. Zudem zitiert die Tageszeitung Radikal aus dem Autopsiebericht, daß der Schädel des jungen Mannes eine sechs mal fünf Zentimeter große Wunde aufweisen soll. Der letzte Eintrag des Aktivisten auf Facebook: »In diesen späten Abendstunden muß ich an Ali, Abdullah« – zwei bereits im Juni getötete Demonstranten – »und ihre Familien denken.« »Mein Herz blutet. Ich kann nicht anders. Ich stelle mich gegen diese erbärmlichen Feiglinge. Mein Gewissen ist voller Ehre, mein Herz voller Kühnheit. Sich schämen müssen jene, die nicht den Mut haben, hinter uns zu stehen.«

Jeder Tote dreht weiter an der Spirale der Gewalt. In den folgenden Tagen kam es zu zahlreichen Demonstrationen für Ahmet Atakan. Die Polizei griff erneut an, setzte Tränengas, Schockgranaten und Plastikmunition ein und verletzte zahlreiche Menschen.

Ein anderer Ort, an dem sich die fortdauernde Gewalt des Erdogan-Regimes nahezu täglich zeigt, ist der Istanbuler Stadtteil Okmeydani. Zeitgleich mit den Protesten in Ankara und Antakya kam es in dem Arbeiterviertel zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Am vergangenen Montag versammelten sich hier einige hundert Menschen, um an einen der Polizeiübergriffe der ersten Protestwelle des Jahres zu erinnern. Im Juni war in Okmeydani Berkin Elvan, ein 14jähriger Junge von einer Gaskartusche am Kopf getroffen worden. Er erlitt schwerste Verletzungen, liegt bis heute im Koma (siehe Interview). »Wir haben von ihnen keine Gerechtigkeit zu erwarten, es gibt keine Gerechtigkeit hier«, so Evrim Deniz Karatana vom linken Anwaltsbüro Halkin Hukuk Börosu, eine der Rednerinnen auf der Demonstration. »Die Polizisten, die Berkin angeschossen haben, laufen immer noch frei herum. Aber wir werden ihnen keine Ruhe lassen.«

So denken hier viele, vom türkischen Staat erhoffen sie sich nichts mehr. Und als wollte die Polizei ein weiteres Mal den Beweis antreten, daß von ihr nichts anderes als rohe Brutalität zu erwarten ist, wird kurz darauf die friedliche Kundgebung von schwer ausgerüsteten uniformierten und zivilen Beamten angegriffen.

Wieder werden Dutzende Menschen verletzt, wieder agiert die Polizei mit einer Gleichgültigkeit gegen Wohl und Leben der Bevölkerung, die den Vergleich mit anderen Diktaturen der Region nicht zu scheuen braucht. Während der Proteste zeigt sich Kemal Avci, ein ehemaliger politischer Gefangener, der schwer krebskrank ist, auf seinem Balkon. Polizisten beschießen ihn mit Gummigeschossen, treffen ihn im Gesicht. »Ihr seid Mörder. Ihr seid die Mörder von Ethem; Ali Ismail habt ihr erschossen, wollt ihr jetzt auch mich erschießen«, ruft er ihnen zu.