»Wo bitte waren Schmauchspuren an den Händen?«

Todesnacht von Stammheim: War es wirklich Selbstmord? Neue Untersuchung wird beantragt. Gespräch mit Helge Lehmann
Interview: Peter Wolter, junge Welt 15.10.12
Helge Lehmann ist IT-Spezialist und Verfasser des Buches »Die Todesnacht von Stammheim«

Sie wollen gemeinsam mit Gottfried Ensslin beantragen, die Umstände des Todes von dessen Schwester Gudrun, von Andreas Baader und von Jan Carl Raspe in der JVA Stammheim gerichtlich neu zu untersuchen. Warum – gibt es neue Beweise, die die offizielle Selbstmord-Version in Frage stellen?
Wir wollen diesen Antrag am 18. Oktober einreichen, das ist der 35. Jahrestag der Todesnacht – wahrscheinlich bei der Justiz in Stuttgart. Mit den Todesumständen haben sich bekanntlicherweise schon viele Autoren befaßt, so mancher von ihnen hat schon kurz nach den Ereignissen erhebliche Zweifel an der von Polizei und Justiz verbreiteten Selbstmordversion geäußert. Darauf aufbauend habe ich selbst recherchiert, diverse Versuche unternommen und das mittlerweile in zweiter Auflage erschienene Buch »Die Todesnacht von Stammheim« geschrieben.

Die Fakten lassen nur einen Schluß zu: Die Todesumstände müssen neu untersucht werden. Auch aufgrund der Fakten, die in den vergangenen Wochen und Monaten neu aufgetaucht sind,

Können wir einige Beispiele haben?
Eines meiner Versuchsergebnisse war, daß die Kommunikationsanlage, die sich die voneinander isolierten Stammheim-Häftlinge selbst gebaut haben sollen, gar nicht funktioniert haben kann – sie konnten sich also gar nicht auf diesem Wege verständigt haben, gemeinsam Selbstmord zu begehen. Oder um die Behauptung, Baader habe sich aus einer Entfernung von 40 Zentimeter selbst erschossen – und wo bitte waren die Schmauchspuren an seinen Händen? Die sind auch bei Raspe nicht gefunden worden, obwohl auch er sich selbst erschossen haben soll.

Das Schußentfernungsgutachten als solches unterstützt den Antrag, wie auch die fehlenden Schmauchspuren. Die Ermittlung des Todeszeitpunktes von Andreas Baader und Gudrun Ensslin wurde vom Gutachter ungenau auf irgendwann in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 gelegt. Das hätte bereits vor 35 Jahren exakter erfolgen müssen. Weitere Stichworte: die Autos im Hof, die Feuertreppe, die Briefe aus der Zelle von Gudrun Ensslin, die fehlende Röntgenaufnahme vom Brustkorb Irmgard Möllers, die als einzige diese Nacht überlebt hat …

Aber sind Sie nach so langer Zeit nicht eher auf das Aktenstudium angewiesen?
Vor ein paar Wochen fand ich in meinem Briefkasten eine Akte, die ein Unbekannter eingeworfen hatte. Dieser Mensch wußte also erstens, daß ich zu diesem Thema recherchiere und zweitens, wo ich wohne. Und drittens muß er wohl persönlich gekommen sein – der Umschlag trug weder Absender noch meine Adresse. In der Akte geht es konkret um die Todesnacht, es werden darin u. a. die Namen der diensthabenden Vollzugsbeamten Springer und Frede genannt. Diese Akte, die laut Verteiler auf der Titelseite wohl auch dem Krisenstab in Bonn vorgelegen haben muß, wirft ein völlig neues Licht auf die Abläufe. Die Details werde ich in dieser Woche in einer Pressekonferenz in Berlin vorstellen.

Und vor einigen Wochen hatte ich auch Gelegenheit, die offiziellen Tatort-Fotos der Polizei vom Morgen des 18. Oktober einzusehen. Es fiel mir auf, daß die Position zum Beispiel von Baader auf den ersten Tatortfotos zwar »nur« geringfügig anders war, als auf den Fotos ab Nr. 11. Dies allerdings offenbart, daß Tatortveränderungen nicht gänzlich ausgeschlossen werden können.

Insgesamt haben wir 30 Zweifelsfälle aufgelistet, die so gravierend sind, daß sich die amtliche Selbstmordversion so nicht aufrechterhalten läßt. Das soll jetzt nicht heißen, daß wir im Umkehrschluß behaupten, es sei Mord gewesen – uns kommt es darauf an, daß der Hergang noch einmal gründlich untersucht werden muß.

Wenn ich Journalist einer bürgerlichen Zeitung wäre, würde ich sagen: Der Lehmann ist ein übler Verschwörungstheoretiker.
Wer mein Buch gründlich gelesen hat, wird diesen Vorwurf gar nicht erst erheben. Es geht mir doch nicht um Theorien, sondern ich habe praktische Versuche unternommen: Tests der Schußlautstärke oder der Nachbau der Kommunikationsanlage. Wer meint, mich als Verschwörungstheoretiker abtun zu müssen, soll mir bitte nachweisen, daß meine Versuche völlig falsch waren. Also bitte, her mit dem Gegenbeweis!