Schlusswort von Ihsan Cibelik

Übersetzung des Schlusswortes von Ihsan Cibelik im Düsseldorfer DHKP/C, welches er im November 2024 vor dem Staatsschutzsenat des OLG Düsseldorf gehalten hat.

Herr Vorsitzender und verehrte Mitglieder des Gerichts,

da ich keine Gelegenheit haben werde, noch einmal das Wort zu ergreifen, möchte ich ein paar Grußworte sprechen und meinen Dank aussprechen.

Zunächst möchte ich unseren geschätzten Anwält*innen, die versucht haben, sich mit großem Einsatz für das Recht einzusetzen, dafür danken, dass sie sich vom ersten Tag an mit uns solidarisiert und uns in diesem Verfahren verteidigt haben.

Ich möchte auch unseren Dolmetscher*innen danken, die unsere Sprachprobleme mit Geduld, Engagement und Herzlichkeit während des Verfahrens hier im Gericht und im Gefängnis gelöst haben.

Vor allem aber grüße ich mit Liebe, Begeisterung, Würde und Stolz all jene, die erneut die Abschaffung der Paragraphen 129 a und b gefordert haben, weil sie gegen die Grundrechte und -freiheiten verstoßen, die unsere Freiheit gefordert haben, die monatelang gekämpft und dabei ihr eigenes Leben hintenan gestellt haben, die sich für uns eingesetzt haben.

Und ich möchte all unseren demokratischen, freiheitlichen und sozialistischen Freund*innen aus mindestens zwanzig Städten in Deutschland und mindestens acht Ländern in Europa danken, die diesen Saal nie leer gelassen und uns durch ihre Besuche und Briefe stets unterstützt haben.

Ich grüße sie alle mit Liebe, Hoffnung für die Zukunft und Begeisterung.

Dieses Verfahren ist kein Terrorismusverfahren

Seit Beginn dieses Verfahrens haben sowohl unsere Anwält*innen als auch wir detailliert darauf hingewiesen, dass allein schon die Anwendung des Paragraph 129 a und b sowie auch dessen Anwendung auf uns rechtswidrig ist. Aus diesem Grund werde ich mich nicht länger wieder über den Inhalt dieses Gesetzes auslassen.

Aber ich wiederhole auch jetzt, wie wir es von Beginn des Verfahrens an abgelehnt haben, uns als „Terrorist*innen“ bezeichnen zu lassen.

In meinen früheren Erklärungen hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass ich in keiner Akte, die Gegenstand dieses Verfahrens ist, in keiner Quelle oder Anklageschrift, auf die Bezug genommen wird, auf eine Definition des Terrorismusbegriffes gestoßen bin. Obgleich ich mit Nachdruck darauf hingewiesen habe, haben weder der Senat noch die Bundesanwaltschaft eine solche Definition dargelegt. Wie können Sie darauf beharren, dass ein Verfahren, das sich auf einen nicht definierten Schuldtatbestand stützt, rechtmäßig sei?

Sie liefern keine Definition, aber in der Literatur gibt es eine allgemein anerkannte Definition des Terrorismusbegriffs. Dieser Begriff ist in seinem Ursprung gleichbedeutend mit Gewalt. Wenn auf politischer Ebene der eingeschlagene Weg und die eingesetzten Mittel zur Erreichung politischer Ziele Gewalt beinhalten, so wird dies insbesondere in den letzten zwanzig Jahren als „Terrorismus“ angesehen. Organisationen, die gemäß ihrem politischen Programm diese Ausrichtung verfolgen und umsetzen, sowie auch deren Anhängerinnen werden als Terroristeninnen betrachtet.

Wenn Sie dieser Verallgemeinerung beipflichten, dann schauen Sie einmal ohne Vorbehalt auf die mit Gewalt, Krieg und Blut erfüllten vergangenen letzten zwanzig Jahre dieser Welt.

Lassen Sie es mich anders ausdrücken: Den Hintergrund der Actionfilme, mit denen die globale Filmindustrie die größten Gewinne erzielte, bildeten einst die brutale Besetzung Vietnams und der Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes.

Seit 15-20 Jahren dienten hierzu stets Afghanistan und der Nahe Osten.

Weshalb wohl? In den meisten englischen „Krimis“, die in der Gefängnisbibliothek erhältlich sind, führen die als Heldinnen agierenden Geheimdienstagentinnen ihre schmutzigen Aufträge im Nahen Osten durch.

Was will ich damit sagen?

Keine*r der in diesem Verfahren angeklagten gehört zu jenen, die unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“ zwanzig Jahre lang Afghanistan in einer auf der Welt nie zuvor erlebten terroristischen Art und Weise in Blut getränkt und später den von ihnen selbst erschaffenen Bestien überlassen haben.

Keine*r der hier Angeklagten gehört zu jenen, die behaupten, die bewusste Lüge über die „Existenz von Massenvernichtungswaffen“ laste schwer auf ihrem Gewissen, aber trotzdem seien die Besetzung des Irak, die Tötung von mehr als 500.000 Kindern, die Aufrechterhaltung des Foltergefängnisses Abu Ghraib und das unfassbare Ausmaß von Grausamkeiten notwendig und gerechtfertigt gewesen.

Die Angeklagten waren in keiner Weise am Tod von Millionen Menschen beteiligt, die den arabischen, kurdischen, turkmenischen, armenischen, ezidischen u.a. Völkern angehören, welche in ihrer Vielfältigkeit jahrtausendelang miteinander gelebt hatten, bis dann Feindschaft zwischen ihnen gesät und sie aufeinandergehetzt wurden.

Wir haben niemals mit dem Bombenhagel auf Libyen und dem immer noch fortwährenden blutigen Prozess dort zu tun gehabt. Wir haben keinen Anteil an den Machtwechselspielchen in Nordafrika gehabt.

Bereits im Jahr 2016 wies der berühmte Regisseur Oliver Stone in seinem Dokumentarfilm „Ukraine on Fire“ in aller Deutlichkeit darauf hin, dass die NATO, zuvorderst durch den US- und den europäischen Imperialismus, Schritt für Schritt zu einem nach Blut und Krieg dürstenden Instrument gemacht wurde und damit die blutige Bilanz von heute zuvor schon ankündigte.

Schauen Sie sich doch bitte einmal die Welt an:

Es kann nicht sein, dass sie jene nicht sehen, die für ihre „politischen Ziele“ die Gewalt zu ihrem vorrangigen Instrument gewählt haben; die Zerstörung, die sie jeden Tag, jede Minute erzeugen; das Blutvergießen, das sie verursachen. Bedenken Sie noch einmal, wen und welche Aktivitäten sie als „Terrorismus“ anklagen.

Keiner der Gött*innen, an die die Menschheit im Laufe ihrer 30.000-jährigen Geschichte geglaubt hat, hat jemals die Tötung von Kindern befohlen oder als legitim angesehen. Es gibt keinen Glauben, keine Religion, die dies als etwas Gutes betrachtet hätte. Aber so wie der reaktionäre Flügel des Imperialismus Dutzende Menschenfeinde wie Mussolini, Hitler, Mengele und Salazar erschaffen hat, erschafft er sie auch heute noch.

Der Internationale Gerichtshof hat Benjamin Netanyahu wegen der „Ermordung von mehr als 2000 Kindern“ und wegen des allumfassenden grausamen Blutbads, das er angerichtet hat, für schuldig erklärt, ohne Rücksicht auf Moscheen, Kirchen, Synagogen, Schulen, Krankenhäuser oder Kindergärten. Einige Tage später erklärte er, dass unter den getöteten keine einziger Zivilistin gewesen sei. Er hat also 2000 Kinder als feindliche Soldatinnen betrachtet. Jetzt schauen Sie sich die Menge an, die ihm voller Begeisterung Applaus zollen. Hier haben Sie Ihre eindeutigen Terroristinnen, den Terrorismus und ihre Unterstützerinnen; so unzweifelhaft, dass sich jede weitere Diskussion erübrigt.

Die Wörterbücher definieren den Begriff des „Terrors“ im Zusammenhang mit dem Begriff der „Gewalt“. Allerdings gibt es zahlreiche unterschiedliche Formen der Gewalt, wie etwa die ökonomische Gewalt, die soziale Gewalt, die pädagogische Gewalt, die psychische Gewalt u.ä. Und selbst wenn die Gewalt in ihrer groben Form, etwa in Gestalt der Vernichtung, der Verletzung zum Gegenstand gemacht wird, kann sich niemand auf eine unsinnige, verlogene Aussage wie „gegen jede Art von Gewalt sein“ stützen. Im Verlauf der Geschichte sind stets in allen Gesellschaftsstrukturen, den Gesetzen der Klassengesellschaft zufolge, manche Formen der Gewalt als legitim betrachtet worden.

Aber auf der politischen Ebene wird die Gewalt immer nur dann als ein Verbrechen behandelt, wenn sie sich gegen die Herrschenden richtet. Dabei sind es eigentlich die Herrschenden, die gegen das eigene Volk sowohl die gröbste Form der Gewalt anwenden als auch auf den unterschiedlichen Ebenen im gesellschaftlichen Leben. Wenn ich mich nicht irre, wird die „Staat“ genannte Organisation auch durch das „Gewaltmonopol“ definiert.

Ich fasse mich kurz:

Es war nicht so, dass die in diesem Verfahren als „Terroristinnen“ beschuldigten Revolutionärinnen, oder im Allgemeinen die antifaschistischen-antiimperialistischen Personen und Organisationen, vor der Wahl zwischen vielen verschiedenen Wegen und Mitteln gestanden, jedoch auf andere gewaltlose verzichtet und sich stattdessen für die Gewalt entschieden hätten.

Was ich gesagt habe, mag Sie überrascht haben. Aber lassen Sie es mich erläutern.

In den Akten, in denen der Generalbundesanwalt uns der Mitgliedschaft in der DHKP-C beschuldigt, gibt es eine Erklärung, in der es heißt: „Der bewaffnete Kampf ist keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit!“ Ganz sicher werden Sie diese gelesen haben. Der Versuch, Revolutionärinnen als blutrünstige psychopathische Mörderinnen darzustellen, die Waffen und der Gewalt huldigen, ist nichts anderes, als die Realität zu verzerren. Wenn es solche Menschen gibt, dann haben sie nichts mit den Angeklagten in diesem Verfahren zu tun.

Schauen Sie, wir haben gehört, welches Bild Professor Dr. Ç. gezeichnet hat, im Rahmen der akademischen sowie psychischen Grenzen, die ihm gesetzt sind, durch das, was ihm wegen seiner Worte vor Gericht widerfahren könnte. Insbesondere die Beschreibung der Gewalt, die der Staat gegen die Vertreter*innen des Volkes ausübt und weiterhin ausüben wird; und der „Politik der Straflosigkeit“ hinsichtlich dieser Taten war nur ein kleiner Ausschnitt der Realität, eine kurze Zusammenfassung. Wir könnten es viel umfassender, viel detaillierter beschreiben. In manchen meiner Erklärungen habe ich hierzu Quellen angegeben.

In der Literatur wird das hier beschriebene Bild als Faschismus bezeichnet.

Ganz gleich, was wir dazu auch erklären, mit dieser Anklage pressen Sie die Revolutionärinnen, Antifaschistinnen sowie die Antiimperialisten*innen in eine Schablone hinein, indem Sie ihre Aktivitäten, die nichts damit zu tun haben, als Terror bezeichnen.

In einem Teil jeder großen Akte scheint unbedingt das Bedürfnis zu bestehen, auf bewaffnete Gewaltaktionen hinzuweisen, die mit uns, mit mir, die hier angeklagt sind, nichts zu tun haben. Aber in diesem Verfahren werden wir nicht wegen der Durchführung oder Vorbereitung irgendwelcher Gewaltaktionen angeklagt. Dass die Anklage und das Verfahren Mängel behaftet und inkohärent sind, tritt hier offen zutage. Abschließend wiederhole ich: dieses Verfahren ist kein Terrorismusverfahren. Sowohl wir als auch ich selbst werden diese Bezeichnung niemals akzeptieren.

Wie aus der Anklageschrift hervorgeht, wurde ich von 2009 bis heute von deutschen Behörden überwacht. In den dreizehn Jahren vor meiner Verhaftung wurden alle meine Aktivitäten, alle Telefone, die ich benutzt habe, die Konzerte, Demonstrationen, Fernsehsendungen, Informations- und Gedenkveranstaltungen und sogar unsere Hochzeit im Detail untersucht. 2015 wurde anhand einiger Textdateien auf externen Datenträgern entdeckt, was für ein gefährlicher Terrorist ich sei, und ich wurde verhaftet. Erst nach elf Monaten Untersuchungshaft hat man mir die Anklageschrift ausgehändigt und ich durfte endlich erfahren, was mir vorgeworfen wird.

In diesem Verfahren wurden und werden Grundrechte verletzt

İn diesem Verfahren wurden und werden meine Freund*innen und ich nicht aus rechtlichen sondern aus politischen Gründen inhaftiert und mit der Fortsetzung unserer Haft wurden und werden unsere Grundrechte verletzt. Seit zwei Jahren sind wir extremer Isolation ausgesetzt. Wir sind Haftbedingungen ausgesetzt, in denen für die Justizvollzugsanstalten ein Menschenleben nichts zählt, sich nicht darum beschert wird, und jede Maßnahme zu einer willkürlichen Repression werden kann.

Ich in diesem Verfahren wurde ein grundlegendes Menschenrecht, das Recht auf medizinische Behandlung, ja sogar das Recht auf Leben, verletzt. Angesichts des Befundes einer wachsenden Prostata wurde unsere Forderung nach einer angemessenen Behandlung unter fadenscheinigen Erklärungen abgewiesen. Mit der Begründung, dies liege außerhalb der Zuständigkeit des Gerichts, wurde der Angeklagte als Mensch und sein Recht auf Leben ignoriert.

Der Verfassungsschutz und andere Behörden, die in jeder Hinsicht Einfluss auf dieses Verfahren und dessen Verlauf haben, wurden hierfür aktiviert. Ein Vollzugsbeamter überbrachte mir einen Brief der Stadt Köln in die Vollzugsanstalt. In dem Brief hieß es kurz „Verzieh’ dich aus Deutschland und komme auf keinen Fall innerhalb der nächsten 20 Jahre wieder!“ Also hat die Stadt, die das Gericht, das dieses Verfahren leitet, ignoriert, längst ihre Befugnisse benutzt und ihre eigene Strafe verhängt. Diejenigen, die gar nicht erst auf Ihr Urteil warten, haben mich als „Terroristen” abgestempelt und fordern mich auf, spätestens innerhalb eines Monats Köln und Deutschland zu verlassen.

Sie möchten es mir bitte nachsehen, aber ich habe dem nicht nachkommen können. Zum einen war ich mit meiner Gesundheit beschäftigt, zum anderen konnte ich ihrer Forderung nicht nachkommen, weil das Verfahren noch fortgesetzt wird.

Indem meine Gesundheit aufs Spiel setzte, hatte ich, um Widerstand zu leisten und zu einer Lösung zu finden, einen Hungerstreik begonnen. Ich wollte, dass meine Stimme gehört wurde. Meine Freundinnen, meine Genossinnen, meine Lieben haben sich Tag und Nacht dafür eingesetzt, meiner Stimme Gehör zu verschaffen. Draußen haben sie meine Forderung nach einer medizinischen Behandlung sowie das bestehende Unrecht und die entstandenen Unsinnigkeiten öffentlich zur Sprache gebracht.

Im Gefängnis wurde dann endlich dank der Bemühungen der dortigen Verantwortlichen, insbesondere desder Ärztin, eine Lösung gefunden. Daraufhin habe ich schnell meinen Hungerstreik beendet und mich auf die Operation vorbereitet. Ich werde nun ausführlich berichten, was zwischenzeitlich geschehen war. Ich werde natürlich den Nazi mit Professorentitel, dem sein hippokratischer Eid nichts bedeutete, und diejenigen nicht vergessen, die einen Menschen, der eine schwere Operation hinter sich hatte, an das Bett fesseln ließen und dazu zwangen, sogar die im Krankenzimmer befindliche Toilette mit Fußfesseln aufzusuchen, obwohl zwei bewaffnete Sicherheitskräfte vor Ort anwesend waren. Aber auch diejenigen nicht, die gegen all das ihre Stimme erhoben haben.

Was einem Menschen angetan wurde, den sowohl der Senat als auch die Bundesanwaltschaft sowohl aus der Verfahrensakte als auch aus den Verhandlungen mittlerweile sehr gut kennen gelernt hatten, stellen ein Beispiel dafür dar, dass man in Bezug auf die Verletzung der grundlegenden Menschenrechte keine Grenzen kennt. Die Person, um die es hier geht, ist meine geliebte Ehefrau Yasemin Pilaf.

Die Behörden, deren Eigenschaften ich zuvor schon dargelegt habe, haben auch sie ins Visier genommen. Sie haben auf die Mitarbeiterinnen der Stadt Bochum dahingehend Druck ausgeübt, dass der Aufenthaltstitel von Yasemin Pilaf annulliert und sie des Landes verwiesen wird. Diese Behörden haben ein solches Schreiben an die Stadt Bochum gerichtet. Die Mitarbeiterinnen der Stadt Bochum haben diese Forderung weder richtig noch legitim gefunden. Es fiel ihnen schwer, aber sie standen unter beharrlichem Druck, so dass sie schließlich in einem 18-seitigen Schreiben zu begründen versucht haben, weshalb ihren Aufenthaltstitel aufgehoben und beschlossen haben, sie des Landes zu verweisen.

Ich habe dieses Schreiben gelesen. Sie sollten es auch tun.

Ich habe diese achtzehn Seiten sehr genau gelesen und habe genau zwei Gründe finden können:

1) Sie habe den mit dem Ziel einer medizinischen Behandlung begonnenen Hungerstreik ihres wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation angeklagten Ehemannes unterstützt und an entsprechenden Veranstaltungen teilgenommen.

Es wird hier davon gesprochen, dass sie versucht habe, das Leben ihres Mannes zu schützen. Es spielt keine Rolle, ob die Veranstaltungen genehmigt und legitim waren.

Wie, du beteiligt sich an Aktionen für das Recht eines Terroristen auf medizinische Behandlung? Natürlich wird das bestraft! Diese Person soll ihr Ehemann sein – das spielt keine Rolle!

2) Auch diese Begründung scheinen sie noch nicht für ausreichend befunden zu haben. Sie haben alles durchkämmt, was sie in den zwanzig Jahren ihres Aufenthaltes in Deutschland getan haben soll. “Heureka – ich habe es gefunden!“, welche Freude: Sie hat also auch enge Verbindungen zur Grup Yorum gehabt. Sie hat an zwei Auftritten von Grup Yorum in Moskau und in Griechenland teilgenommen, indem sie dort gesungen hat. Ja, sie soll sogar zwei Lieder gesungen haben!

Auf diese Weise wurde ein Vorwand gefunden, ihren zwanzigjährigen Lebensabschnitt, in dem sie ihren Lebensunterhalt verdingte, soweit ihre Gesundheit es zuließ, ihr Familienleben, ihr soziales Umfeld, ihre Aktivitäten und ihre Beziehungen, alles, was sie sich geschaffen hatte, in einem Augenblick wegzuwischen.

Können Sie sehen, für welche schwer zu glaubende Tyrannei, für welche Rechtsverletzungen, für welche rechtswidrigen Strafen dieses Verfahren instrumentalisiert wird?

Sie haben in diesem Verfahren vor sich keinen Terroristen gefunden, sie werden ihn auch nicht finden können. Die Menschen in diesem Verfahren sind solche, die in Würde und Mitgefühl leben und dafür eintreten, dass das Recht der Gerechtigkeit dienen soll, die die für die Schaffung eines Lebens in Gerechtigkeit kämpfen.

Aus diesem Grund ist dieses Verfahren kein Terrorverfahren!

Weshalb haben Sie uns festgenommen und was ist geschehen?

Ich möchte unsere Lage in diesem Verfahren, das in Wirklichkeit nichts mit Terror zu tun hat, darlegen und fragen: Ist die Welt, seit dem Tag, an dem Sie uns festgenommen haben, gerechter geworden? Wenn Sie aber diese Haftdauer nicht für ausreichend halten und eine höhere Strafe verhängen, wird dann in dieser Zeit die Welt gerechter werden? Wird man dann die Forderung der Menschen nach Gerechtigkeit, deren Rechte wir durch unsere Aktionen und Aktivitäten verletzt haben sollen, erfüllt haben? Gibt es einen einzigen Menschen oder eine Gruppe oder eine demokratische Massenorganisation, die durch unsere Veranstaltungen draußen Schaden genommen und Anzeige erstattet haben, damit diesen Aktivitäten ein Riegel vorgeschoben wird? Nein, gibt es nicht!

Wer könnte sich davon gestört fühlen? Lediglich jene, die vom Fortbestehen des politischen Regimes in der Türkei, von dessen vom Imperialismus abhängigen, neokolonialen und faschistischen Eigenschaften profitieren; nur die Gruppe der wahren Verbrecher*innen, die in allen Lebensbereichen das Volk ausbeuten und unterdrücken, kann sich davon gestört fühlen.

Und bedauerlicherweise haben Sie, obwohl wir von Beginn an darauf hingewiesen haben, dass dieses Verfahren rechtswidrig ist und deshalb eingestellt werden muss, unseren Antrag abgewiesen, damit das politische System Deutschlands zu einer Partei dieses Verfahren erklärt und dies beharrlich bestätigt.

Ich wiederhole die Frage: Wenn wir inhaftiert werden oder dieser Strafsenat uns verurteilt, welche Forderung nach Gerechtigkeit wird man dann erfüllt haben? Welche Straftaten wird man hierdurch verhindern? Welche sozialen Fragen wird man auf welche Weise gelöst haben? Zur Lösung welches Problems in Deutschland oder der Türkei wird man welchen Beitrag geleistet haben?

Vor unserer Festnahme, dies nur als Beispiel, hat im Bergwerk Soma eines der größten Minenmassaker in der Türkei und auch weltweit stattgefunden. Die Bosse haben bewusst und gewollt die gar nicht mal so kostenintensiven grundlegendsten, im Gesetz und in den Verwaltungsvorschriften vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen vorgenommen und für noch mehr Profit zu weniger Kosten 301 Minenarbeiterinnen geopfert. Sie haben die Anwältinnen, die die Rechte dieser Arbeiterinnen verteidigten, gefoltert. Sie haben sie des Terrorismus bezichtigt. Der Bürokrat, der den Minenarbeiter, welcher während Erdoğans Besuch diesem seine Lage erklären wollte, mit Fußtritten traktierte, hat zur Belohnung jetzt einen Diplomatenposten im Frankfurter Konsulat. Kein Mensch, der für den Tod von 301 Menschen verantwortlich ist, befindet sich heute in Haft. Eine Zeitung schrieb: Für jeden getöteten Minenarbeiterin haben sie eineinhalb Tage in Haft gesessen und wurden anschließend freigelassen.

Nachdem wir festgenommen wurden, hat es weitere zehn Minenmassaker gegeben. Bei dem Massaker in Amasra wurden 42 Menschen ermordet.

1999 gab es ein Erdbeben in der Türkei. Unabhängige Beobachterinnen hatten immer wieder darauf hingewiesen, dass die vom Staat veröffentlichte Opferzahl sehr gering ausgefallen sei. Nach diesem Erdbeben, bei dem nach veröffentlichten Zahlen 18.000 Menschen ihr Leben verloren, gingen aus aller Welt sehr hohe Hilfszahlungen ein. Es wurde eine Erdbebensteuer erhoben. Es hieß, diese sei einmalig, seit 25 Jahren gibt es sie immer noch. Der damalige Ministerpräsident Ecevit wurde gefragt, weshalb trotz so hoher Hilfszahlungen die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht erfüllt wurden. Der Ministerpräsident verplapperte sich, er sagte: „Die haben wir für die Beamtinnengehälter ausgegeben.“

Seit jenen Tagen wurde zur Vorbereitung auf große Erdbeben viel niedergeschrieben, wurden viele Gesetze und Vorschriften erlassen, Einrichtungen und Behörden geschaffen. Aber bei dem viel größeren Erdbeben am 6. Februar 2023 hat das Volk drei Tage lang keine Behörde an seiner Seite gesehen. Die Regierungspartei und die Diebesbande in ihrem Umfeld waren in Sorge um ihre eigenen Gewinne in Panik geraten. Zunächst haben sie acht Stunden lang die Internetverbindungen gekappt. Die unter den Trümmern verschütteten Menschen und ihre Angehörigen draußen haben keine Verbindungen zu den freiwilligen Helferinnenteams herstellen können. Die Regierung war derart verkommen. dass sie die Sachspenden der Bevölkerung für die Erdbebenopfer gegen Geld veräußert haben. Nach den von ihnen veröffentlichten offiziellen Zahlen waren 53.000 unserer Mitmenschen ums Leben gekommen. Unabhängige Beobachterinnen sind sich sicher, dass die Zahl der Todesopfer drei bis viermal höher war. Neuartige Steuern, Spenden in Milliardenhöhe aus der ganzen Welt und aus allen Städten des Landes wurden einkassiert. Jenen, die ihre Wohnungen und Häuser verloren haben, konnte zwei Jahre lang keine Unterkunft gegeben werden, und es war auch nicht gewollt. Noch einmal hatte sich bewiesen, dass diese Leute dermaßen volksfeindlich sind, dass sie noch aus der größten Not des Volkes Profit erzielen wollen. Zwei Winter haben die mittellosen Menschen in Containern, Zelten oder in halbeingestürzten Gebäuden verbracht. Es wurde nicht berichtet von jenen, die in der Kälte, durch Brände oder durch ansteckende Krankheiten gestorben sind.

Wir waren inhaftiert.

Ein Goldminenareal im Landkreis Erzincan – İliç, das von einem imperialistischen Unternehmen aus Kanada in Zusammenarbeit mit einem Unternehmen aus dem näheren Umfeld Erdoğans betrieben wird, wurde zum Grab von neun Arbeiterinnen. Millionen Kubikmeter Cyanid verseuchter Schlammmassen strömten auf Felder und Wege hinab. Es ist dokumentiert, dass dort die gesetzliche Obergrenze an Cyanid haltiger Erde dreifach übertroffen wurde. Und dies zu dem Zweck, noch mehr Profit zu erwirtschaften. In der Region kann man von Landwirtschaft nicht mehr leben, die Gewässer sind verseucht. Keiner der wahren Verantwortlichen wurde hierfür bestraft.

Während wir in Haft waren, sind in unserem Land zehntausende Hektar der schönsten und fruchtbarsten Regionen in den Sommern 2022 und 2023 durch Waldbrände und Brandstiftungen zerstört worden. Der Forstminister war dermaßen kompetent, dass er nicht mal wusste, ob er über Löschflugzeuge verfügte!

Und wieder fielen an 52 Orten gleichzeitig unsere Wälder Bränden zum Opfer. Die Ministerinnen und Bürokratinnen hatten zwar gewechselt, aber die Ausbeutungs- und Plünderungsmaschinerie läuft weiter. Wie auch in den vergangenen Jahren werden diese Gebiete, die nicht mehr als Waldgebiete geführt werden, von den regierungsnahen Bauunternehmen zu Profitzwecken weiter ausgebeutet werden.

Während wir in Haft waren, wurden der Chefredakteur von Tele +, Merdan Yanardağ, der Journalist Barış Pehlivan und mehr als zehn kurdische Journalist*innen festgenommen.

Wir sind in Haft, aber noch im August haben die die Anwendung der Folter befürwortenden Abgeordneten der AKP das Rednerpult im Blut getränkt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Fall von Can Atalay, der als Abgeordneter des Landkreises Hatay ins Parlament gewählt wurde und wegen „Aufwiegelung des Volkes gegen den Staat” während der Gezi-Ereignisse zum Terroristen erklärt und zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde, seine „sofortige Freilassung” entschieden. Das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil entschieden, dass er als gewählter Abgeordneter aus der Haft zu entlassen sei und seine Arbeit im Parlament aufzunehmen habe. Wiederholt wurde die Umsetzung dieser Urteile verweigert. Bei der letzten Parlamentsdebatte wurde der für Can Atalay sprechende Abgeordnete angegriffen und misshandelt. Die Reinigungskräfte haben versucht, die Blutspuren von den Stufen des Rednerpults zu beseitigen.

Die von Professor Çopur beschriebene Realität ist wie folgt: Der Faschismus in der Türkei ist strukturell. Seit 20 Jahren tritt er in islamistisch-sunnitisch-religiös-fundamentalistischer Gestalt auf, tyrannisiert weiterhin das Volk, indem er Rechte und Freiheiten beseitigt.

Das bedeutet also, dass mit unserer Festnahme das Regime in der Türkei, das Sie als „legitime Regierung“ bezeichnen, keineswegs rechtstaatlicher geworden ist. Es hat weder aus Sicht der Völker noch vor der Geschichte an Legitimität gewonnen.

Als wichtigen Beleg werde ich exemplarisch über die Realität in den Gefängnissen berichten. Obgleich ich unter Haftbedingungen keinerlei Zugang zu Informationen habe, kann ich von den Informationen über das Jahr 2024 berichten, die ich der Presse und den Veröffentlichungen des Justizministeriums entnommen habe.

In der Türkei soll es 403 Gefängnisse mit einer Gesamtkapazität von 295.000-328.000 Personen geben. Die Zahl der aktuell inhaftierten Menschen beträgt 347.000. Demnach wurden mehr als 50.000 Menschen über der Kapazitätsgrenze in die Gefängnisse gepfercht.

Der prozentuale Anteil der Gefängnisinsass*innen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl eines Landes stellt zugleich einen Indikator für die gesellschaftlichen Probleme und Konflikte dar. Wenn diese Quote 0,2 % übersteigt, dann bedeutet das, dass in dem Land die soziale Sicherheit stark dezimiert ist.

Die Zahl der in der Türkei inhaftierten Menschen beträgt 4/1000 der Gesamtbevölkerung.

Die Verteilung der von so vielen Inhaftierten begangenen Delikte ergibt differenzierte Auskünfte. Gemäß der Veröffentlichungen des Innenministeriums sind 36 % von insgesamt 347.000 Insassen wegen Drogendelikten inhaftiert, 25 % wegen Diebstahl, 15 % wegen Mord, 8 % wegen Sexualstraftaten und 7,6 % wegen Terrordelikten.

Wegen Terrordelikten sind insgesamt 27.000 Menschen inhaftiert. Wenn 27.000 Menschen, welche den gesellschaftlich sensibelsten, am besten organisierten und gut ausgebildeten Bevölkerungsgruppen angehören, der Stempel des Terrorismus aufgedrückt wird, dann gibt es in diesem Land keine rechtsstaatliche Ordnung. Oder ist dieses Land in diverse Kriegsgebiete aufgeteilt? Wenn aufgrund des gegen das Volk ausgeübten Staatsterrors durch ein korruptes und verkommenes Regime die Straftaten explodieren, dann ist die Legitimität des Staates bzw. der bestehenden Ordnung zu hinterfragen.

Auf Grundlage dieser Anklageschrift, die den Standpunkt verteidigt, dass das faschistische Regime in der Türkei legitim sei, und aus diesem Grund jeglichen Widerstand, jeglichen organisierten Kampf gegen dieses Regime, genauso wie das faschistische Regime selbst, als „Terror“ bezeichnet, haben sie uns inhaftiert und angeklagt. Aber das faschistische Regime ist, nachdem sie uns festgenommen haben, weder gerechter oder legitimer noch rechtsstaatlicher geworden. Selbst wenn Sie mit einer Lupe in der Türkei nach den grundlegenden Rechtsnormen suchen würden, fänden sie nichts.

Beispielsweise ist das Verfahren wegen des Massakers im Bayrampaşa-Gefängnis, im Zuge des staatlichen Massakers in zwanzig Haftanstalten im Zeitraum 19. bis 22. Dezember 2000, bis heute nicht abgeschlossen. Die Einzelheiten über die Gasbomben mit nicht bekannten Substanzen, die chemischen hautverätzenden Stoffe, deren Inhalt ebenfalls bis heute nicht bekannt ist, mit denen zwölf Revolutionär*innen getötet wurden, einschließlich sechs Frauen, die bei lebendigem Leibe verbrannt wurden, sind nicht aufgeklärt worden. Es ist belegt, dass diese Operation bereits ein Jahr zuvor detailliert geplant wurde. Aber wie immer sind diejenigen, die „im Namen des Staates” Massaker planen und durchführen, nicht bestraft worden. Das ist jetzt genau 24 Jahre her.

Dienen jene, die in der Türkei jenes Verfahren nicht zum Abschluss bringen, und jene, die in diesem Verfahren uns inhaftieren und anklagen, nicht ein und derselben Sache, also der Widerrechtlichkeit?

Ich habe meine Genossin Birsen Kars, die sich unter jenen befand, die während des Bayrampaşa-Massakers verbrannt wurden, persönlich kennengelernt, als sie 1996 in das Gefängnis von Bayrampaşa eingeliefert wurde. Nachdem sie den den ihr während des Massakers zugefügten schweren Verletzungen erlegen war, wurde gemäß Ihrem letzten Willen eine Bestattungszeremonie durchgeführt. Haben Sie nicht unsere oben dargelegte Feststellung bestätigt, indem Sie diesen Akt der Anklageschrift als Beweismittel hinzugefügt haben?

Beispielsweise hat man im Jahr 2013 auf die Gezi-Proteste in Istanbul durch brutale Angriffe des AKP-Faschismus geantwortet, wogegen dann der berechtigte Widerstand des Volkes sich auf das ganze Land ausbreitete und sich daraus tagelange Protestkundgebungen auf öffentlichen Plätzen vieler Städte entwickelten. Unter den auf Befehl des AKP-Faschismus von der Polizei ermordeten Jugendlichen befand sich auch ein 14-jähriges Kind, Berkin Elvan. Nachdem man absichtlich auf Berkin gezielt hatte, wurde ihm mit einem Gewehr ein Gasgeschoss in den Kopf geschossen. Berkin hat zwei Jahre lang im Koma um sein Leben gekämpft. Seiner Bestattung in Istanbul wohnten drei Millionen Menschen bei. Es wurde lange darum gekämpft, dass die für seinen Tod verantwortlichen Polizeischützen und die ihnen vorgesetzten staatlichen Beamtinnen angeklagt werden. Erdoğan erklärte herausfordernd: „Den Schussbefehl habe ich gegeben“. Weder Erdoğan noch die Schützen, die von den Anwältinnen unter großen Mühen ermittelt wurden, wurden jemals festgenommen. Lediglich einer der Schützen wurde in den letzten Monaten zu 16 Jahren Haft verurteilt. Aber auch der Polizeibeamte, der zehn Jahre nach Berkins Tod zu 16 Jahren Haft verurteilt wurde, wurde nicht festgenommen und auch nicht vom Dienst suspendiert. Der Mörder setzt bis heute seinen Dienst fort – mit allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, weiterhin Morde ausüben zu können.

Seitdem wir inhaftiert wurden, hat die autokratisch-faschistische Regierung unter Erdoğans gegenüber dem internationalen Recht nichts an Respekt gewonnen. Ganz im Gegenteil, sie hat ganz offen erklärt, die Urteile des Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht anzuerkennen, insbesondere die Kritik, dass die türkischen Gerichte politisiert werden. Während das an sich verfassungswidrig ist, hat das Regime die Urteile des Verfassungsgerichts, soweit sie ihm nicht genehm sind, beharrlich nicht umsetzt und ignoriert.

Ich könnte Ihnen hunderte weitere Beispiele nennen. Mit unserer Inhaftierung sind weder die Welt noch Deutschland, noch die Türkei gerechter, rechtsstaatlicher oder lebenswerter geworden.

Indem Sie uns inhaftiert haben, haben sie keinerlei Taten oder Handlungen verhindern können, die wirklich als Terror zu werten sind. Sie haben nicht die Spur eines Beitrags zur Lösung irgend eines gesellschaftlichen Problems leisten können.

Folgendes möchte ich betonen: Unsere revolutionäre Arbeit ist weder die Ursache noch die Quelle dieser gesellschaftlichen Probleme. Im Gegenteil, es hat sich in der Geschichte mehrfach gezeigt, dass die einzige Lösung für all diese Probleme Revolution und Sozialismus ist.

Sie haben keinerlei Handlungen verhindern können, die als Verletzung des Grundgesetzes anzusehen sind. Ganz im Gegenteil, sie haben die nach dem Grundgesetz allen zustehenden Rechte auf Ausübung natürlicher und gesellschaftlicher Handlung als „Straftaten“ behandelt, hunderttausende Akten mit aus früheren Verfahren kopierten, wahrheitswidrigen polizeilichen Schriften und Berichten gefüllt und daraus eine Anklage konstruiert.

Diese Tatsache, die unsere Verteidiger*innen und wir vielmals zur Sprache gebracht haben, ist bislang kein einziges Mal diskutiert worden, deren Diskussion wurde auch nicht zugelassen.

In diesem Verfahren wird versucht, anhand von „terroristischen Organisation“, „Propaganda“, „elektronischen, digitalen Dokumenten“ und ähnlichem mit Analysen und persönlichen Interpretationen Täter*innen zu konstruieren.

Beispiel: Dreizehn Jahre lang wurden all meine Aktivitäten beobachtet. Es wurde darauf hingewiesen, dass weder in der Anklageschrift noch in den Beweisakten irgendeine Straftat festgehalten werden konnte. Aber trotzdem mussten offenbar manche Schlussfolgerungen gezogen werden, die nach den deutschen Strafgesetzen als Straftat gewertet werden könnten; so etwa das „Einsammeln von Geld“, „Beihilfe zur illegalen Einreise nach Deutschland“, „gelegentliches Organisieren der Überweisung von Geldbeträgen, auch wenn es sehr geringe sind, für revolutionäre politische Gefangene in der Türkei“. Es ist sehr einfach zu erklären und zu beweisen, dass all diese Handlungen keine Straftaten sein können.

Das übrige, was in den Akten und in der Anklageschrift als vermeintliche Straftaten zurückbleibt, sind natürliche und soziale Aktivitäten Im Rahmen der Ausübung von Grundrechten und -freiheiten, die keine Juristin ernsthaft als Gegenstand einer Anklage sehen würde. Ein Gericht, in dem diese zum Gegenstand eines Verfahrens gemacht werden, verliert seine rechtliche Legitimität.

Wie konnten beispielsweise in diesem Verfahren Informationen aus einer offen zugänglichen Quelle über ein Sommercamp für Familien und Jugendliche Eingang in die Verfahrensakte bzw. Anklageschrift finden? „Eine Veranstaltung zum Zwecke der Anwerbung von Mitgliedern und Sympathisant*innen!“ Die dortigen Gesprächsrunden und -themen wurden jedoch als Schulungs- und Propagandaaktivitäten der Terrororganisation präsentiert. Es wird ein als „Propaganda“ bezeichneter Straftatbestand konstruiert: Grundlegende menschliche Aktivitäten, das gemeinsame Essen, Trinken, Betreuung und Fürsorge für Kinder, was auch einem immer in den Sinn kommt, kann zu einer Straftat namens „Propaganda“ erklärt werden. In diesem Verfahren greift der Senat nicht ein, indem es sagt „Entfernt diesen Unsinn aus den Akten“.

In der Türkei herrscht neben der ökonomischen, sozialen und politischen Gewalt gegen das Volk ein auf Repression basierender Faschismus. und dieser ist strukturell, wie wir dargelegt haben. Aber dies hat man nicht zur Kenntnis genommen.

Es wurde beschlossen, einen Sachverständigen anzuhören. Professor Çopur hat sowohl in seiner Präsentation als auch in der Fragerunde mit sehr allgemein gefassten Informationen unsere Darstellung bestätigt. Auch wenn er sich auf die Regierungszeit der AKP beschränkte, lieferte er ein Bild der Lebensrealität unseres Landes und Volkes.

Ein Beispiel: Er berichtete, dass anhand der Dekrete mit Gesetzeskraft das Wort einer einzigen Person Gesetz sei und diese Methode zur grundlegenden Regierungsform des Landes geworden sei. Er hat von hunderttausenden Werktätigen berichtet, die mit dieser Methode ihrer sämtlichen Rechte beraubt wurden. Die Gerichte und die Justiz als Ganzes seien nunmehr vollständig unter der Kontrolle der Exekutive. Und dies ist eines der wesentlichen Merkmale des Faschismus. Hierzu möchte ich kurz etwas hinzufügen: Es wäre sinnvoll, würden sie den Folterbericht 2023 der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei lesen. Die Zahl der Menschen, die davon berichten, gefoltert worden zu sein, ist keineswegs geringer als zu der Zeit, als ich mich noch in der Türkei befand.

Was sollen wir nun dazu sagen? Angenommen, die Berichterstattung von Professor Çopur wäre auf denselben Internetseiten veröffentlicht worden, die hier als Beweismittel herangezogen werden, würde dann die Bundesanwaltschaft auch ihn wegen Propaganda für eine terroristische Organisation anklagen? Entweder müssten Sie so denken oder anerkennen, dass dieses Verfahren jeglicher Grundlage entbehrt.

Es gibt noch ein weiteres Thema, das wesentlichen Einfluss auf die Eröffnung und Durchführung dieses Verfahrens hat: die Art und Weise, wie Murat Aşık durch den Verfassungsschutz benutzt wurde. Bei diesem Thema wurde versucht, die nachdrücklichen Fragen und Anträge unserer Verteidiger*innen abzuweisen und es zu schließen.

In der kürzlich vorgetragenen Erklärung meiner Mitangeklagten Özgül Emre wurde offengelegt, dass die Aktivitäten des Verfassungsschutzes und der mit ihm verbundenen anderen Nachrichtendienste unkontrollierbar und nicht verhinderbar geworden sind. Dies möchte ich unterstreichen. Ein Schriftsatz der Verfassungsschutzbeamt*innen wird, wie ein Gottesurteil, als absolute Wahrheit behandelt. Auch in diesem Verfahren ist es so. Auch in den bürokratischen Einrichtungen draußen ist es so. Gleich werde ich hierfür ein Beispiel nennen.

Ich könnte noch viele Beispiele für die Verletzung von Grundsätzen des Rechts nennen. Aber ich denke, es ist ausreichend verstanden worden.

Ein kurzer Überblick über den Faschismus in der Türkei

Ich bin im Juli dieses Jahres 60 Jahre alt geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so lange leben würde, denn ich war ein sensibler Mensch in einem Land, in dem viele wunderbare Menschen ermordet wurden, die einen viel bedeutenderen Beitrag zur Zukunft der Türkei, der Völker der Türkei und der Welt geleistet haben und die es viel mehr verdient haben zu leben als ich.

Natürlich liegt die Länge oder eben die Kürze des Lebens nicht in unserer Hand. Aber es ist wichtig, dass dieses Leben ehrenhaft und prinzipientreu gelebt wird, indem man positive Werte für die Menschheit und die Völker, für die eigene Gesellschaft, die Heimat, die geliebten Menschen, die Kinder und die eigene Familie entwickelt und bewahrt.

Zehn Jahre und fünf Monate dieses langen Lebens vor meiner Ankunft in Europa habe ich in türkischen Gefängnissen verbracht.

Damit Sie das Konzept der „Mitgliedschaft in einer Organisation“ richtig verstehen, werde ich später auf die Realität des Gefängnisses, seine Gestaltung in der Türkei und die Operationen und die Widerstände in den Gefängnissen eingehen.

Ich kann kurz das Ritual beschreiben, wie man in der Türkei Mitglied einer Organisation wird, wie man ohne zu wissen zum Mitglied einer illegalen Organisation gemacht wird.

Das System in der Türkei hat ein faschistisches Wesen. Und aufgrund dieses Wesens sind die demokratischen Rechte und Freiheiten je nach den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen der jeweiligen Periode sehr wenig flexibel, sehr oberflächlich und gelten nur für diejenigen, die mit den jeweiligen Interessen und Grenzen der offiziellen Ideologie übereinstimmen. Angesichts von Gedanken und Aktivitäten, die über diese sehr engen Grenzen hinausgehen, werden die Schutzreflexe des Systems stets dynamisch und stark gehalten. Zu diesem Zweck werden die vorhandenen aktiviert und die als unzureichend erachteten durch neue Schutzeinrichtungen verstärkt. Der Wirkungsbereich, die Befugnisse und die Ausrüstung der Anti-Terror-Einheiten werden erweitert. Der Anwendungsbereich des Antiterrorismusgesetzes wird ständig erweitert. Während beispielsweise die Mitgliedschaft in einer Organisation und die Beihilfe zu einer Organisation getrennt behandelt werden, wird hinzugefügt, dass die Beihilfe, ohne Mitglied zu sein, der Mitgliedschaft gleichgestellt sei. Die Dauer des Polizeigewahrsams wird auf dem Papier für die Europäische Union verkürzt, in der Praxis wird sie jedoch durch vielerlei Methoden verlängert. Wenn all dies nicht ausreicht, wird der Gewahrsam aus den Akten gelöscht oder gar nicht erst erfasst. So auch im Fall von Ayten Öztürk, die sechs Monate lang gefoltert, dann auf einem Feld abgeladen und der offiziellen Polizei übergeben wurde. Mit 898 Narben auf ihrem Körper…

Wenn Sie von den sehr eng gefassten, oberflächlichen demokratischen Rechten und Freiheiten Gebrauch machen, um außerhalb der offiziellen Ideologie zu denken und zu handeln, wenn Sie eine Dissidentin sind, sind Sie eine potenzieller Terrorist*in. Wenn Sie an einem Protest oder einer Forderung nach Rechten teilgenommen oder diese unterstützt haben, ist es fast unvermeidlich, dass Sie in den Gewahrsam der Anti-Terror-Abteilung der Polizei kommen.

Wenn Sie aus irgendeinem Grund in die Antiterrorabteilung eingeliefert werden, vor allem, wenn Sie zum zweiten oder dritten Mal eingeliefert werden, sind Sie mit Sicherheit eine Anhängerin-Mitglied-Leiter*in einer illegalen, kommunistischen-landesverräterischen-türkeifeindlichen Terrororganisation.

Und die Folter ist unerlässlich, um diese Feststellung durch die eigene Bestätigung der ingewahrsamgenommenen Person nachzuweisen.

Die Phase der polizeilichen Vernehmung endet nicht, wenn Sie zur Staatsanwaltschaft gebracht werden. Wenn Sie der Staatsanwaltschaft sagen, dass Sie gefoltert wurden, und wenn Sie bei der Polizei ein Geständnis abgelegt haben und sagen, dass dies nicht der Wahrheit entspricht, besteht die Gefahr, dass Sie wieder in die Folterkammer gebracht werden. Wenn Sie sich der Folter widersetzt haben, besteht die gleiche Gefahr, so dass Sie nochmals Widerstand leisten müssen.

Und derdie Staatsanwaltin schickt Sie auf Anweisung der Polizei zum Gericht, um Sie zu verhaften, ins Gefängnis zu werfen und in Untersuchungshaft zu nehmen. Manchmal kommt es auch vor, dass Menschen freigelassen werden, bevor sie dem Gericht vorgeführt werden.

Das Gericht erlässt höchstwahrscheinlich einen Haftbefehl auf der Grundlage des von der Staatsanwaltschaft und der Polizei erstellten Berichts.

Sie werden in ein Polizeifahrzeug gesetzt, und bis Sie das Gefängnis betreten, sind Sie endlosen Misshandlungen durch die Anti-Terror-Polizist*innen ausgesetzt, die Sie gefoltert haben.

Wenn Sie ins Gefängnis kommen, sind zwei Praktiken unvermeidlich. Die eine ist die Auferlegung einer entwürdigenden Folter unter dem Namen der Leibesvisitation. Wenn Sie unmittelbar von der Folter kommen, hatten Sie mit niemand anderem als mit der Polizei zu tun. Aber Ihre Kleidung wird Ihnen trotzdem abgenommen. Sie sagen okay, Sie ziehen sich aus, aber Sie werden auch gezwungen, Ihre Unterwäsche auszuziehen. Das mag Ihnen ganz normal erscheinen. Der Zwang, sich ganz nackt auszuziehen, der auch schon in der Folterkammer angewandt wurde und der zur sexuellen Belästigung und Demütigung eingesetzt wird, um Ihre Würde und Persönlichkeit zu zerstören, ist jedoch unzumutbar. Deshalb leistet man dagegen Widerstand. Und viele Gefängnismitarbeiter*innen, die sich darauf spezialisiert haben, stürzen sich plötzlich auf Sie und die Folter einer entwürdigenden Durchsuchung wird angewandt. Dann kommt die zweite Praxis. Es handelt sich dabei um die Folter durch Zwangshaarschnitt.

Diese dient einem ähnlichen Zweck und wird in ähnlicher Weise durchgeführt. Das sind die „Willkommen im Gefängnis”-Praktiken.

Was habe ich erlebt? Faschismus, Folter und Recht!

Ich bildete mir ein, vergessen zu haben, was ich erlebt hatte, aber in meiner Verfahrensakte steht, dass ich in der Türkei mit der Begründung inhaftiert wurde, ich sei Mitglied einer terroristischen Organisation. Als ich sah, dass dies ganz bewusst in die Akte aufgenommen wurde, um die Behauptung, ich sei Mitglied einer terroristischen Organisation, zu untermauern, erinnerte ich mich Tag für Tag wieder daran.

Das Erinnern selbst und die Einzelheiten, an die ich mich erinnere, sind überhaupt nicht schön. Es wurde für mich unumgänglich, gegen das, woran ich wieder erinnert wurde, meine Erinnerungen zu erzählen.

Auch zum besseren Verständnis der Realität des Faschismus in der Türkei und der Art und Weise, wie der Kampf und die Widerstände für demokratische Rechte und Freiheiten terrorisiert werden, muss ich es erklären.

Ich erinnerte mich an meine erste Begegnung mit der Polizei in der Türkei. Am 1. Mai 1986 war ich mit einigen Freundinnen im Stadtzentrum von Ankara unterwegs. Nach dem faschistischen Militärputsch von 1980 war 1982 eine neue Verfassung ausgearbeitet worden, und die durch den Putsch geschaffenen grundlegenden Repressionsorgane wurden in dieser Verfassung verankert. Der Nationale Sicherheitsrat, der sich aus den fünf Putschistengenerälen, den Ministerinnen der Putschregierung und den Sicherheitsbehörden zusammensetzt, fungiert noch immer als ein den Regierungen übergeordnetes politisches Entscheidungsgremium. Der Hochschulrat (YÖK), der eingerichtet wurde, um die Autonomie der Universitäten zu zerstören und dafür zu sorgen, dass sie von einem einzigen Zentrum aus im Rahmen einer Befehlskette verwaltet werden, funktioniert nach wie vor auf dieselbe Weise. Ich möchte es an dieser Stelle bei diesen beiden Beispielen belassen…

1986 waren die Gewerkschaften und Vereine, also die Massenorganisationen, die durch den Putsch aufgelöst worden waren, immer noch verboten. Natürlich waren auch Gedenkveranstaltungen und Feiern zum 1. Mai wegen ihrer symbolischen Bedeutung verboten. Im Stadtzentrum von Ankara, in einer Ecke des Platzes, hatten Arbeiterinnen einen Informations- und Unterstützungsstand für ihre Rechte eingerichtet. Wir fanden ein paar Nelken und brachten sie zu diesem Stand. Drei Stunden später kam ich zur Bushaltestelle, um zu dem Wohnheim auf dem Campus zu fahren, in dem ich wohnte. Zwei Zivilpolizistinnen fielen mir von hinten in die Arme und brachten mich zu einer nahegelegenen Telefonzelle. Sie nahmen meinen Ausweis und fragten am Telefon irgendwo nach. Dann fragten sie mich, warum ich den Arbeiter*innen Nelken geschenkt hätte. Nach einer Stunde des Verhörs ließen sie mich mit einer eindeutigen Drohung gehen: Sie würden mich immer verfolgen, und wenn sie noch einmal auf solche Dinge stießen, würden sie mich bereuen lassen, überhaupt geboren zu sein, und sie würden mir das Leben zur Hölle machen!

1987 war eine Gruppe von Menschen, darunter ein Freund, den ich sehr mochte und mit dem ich Saz spielte und Volkstänze einübte, in den Studentenwohnheimen auf dem Universitätsgelände zur Gendarmeriestation gebracht worden und man hatte seit zwei Tagen nichts mehr von ihnen gehört. Ein paar Freundinnen und ich gingen zur Gendarmeriestation, um uns nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Der Kommandant der Station nahm unsere Ausweise und ließ uns im Warteraum zurück. Von dem anderen Raum aus riefen sie irgendwo an, gaben unsere Personalien an und sprachen. Dann forderte er die anderen auf, hinauszugehen, mich ließ er nicht gehen. Eine Zivilpolizistin der politischen Abteilung des Polizeipräsidiums (das war der frühere Name der Anti-Terror-Abteilung) kam. Sie brachten mich in einen anderen Raum. Dort ging das Verhör los. Eine seinerihrer Fragen lautete: „Du bist doch Kommunist, nicht wahr?“ Seineihre letzten Worte waren: „Wir werden uns wiedersehen“. Ich kann nicht vergessen, dass ich fragte: „Warum werden wir uns wiedersehen?“, und ersie mit dem Kopf nickte und sagte: „Wir werden uns wiedersehen, wir werden uns wiedersehen“.

Natürlich hatte ich Angst, aber ich war mir sicher, dass es gerechtfertigt war, nach meinem Freund zu fragen.

Ich hatte Angst, denn die Worte desder Polizistin waren eine eindeutige Drohung. Der Garagentrakt mit dem Eingang auf der Rückseite des Polizeipräsidiums von Ankara hatte einen ganz besonderen und berühmten Namen: „Tiefes Forschungslabor“ (DAL). Hier wurden alle bekannten und unbekannten Formen der körperlichen Folter durchgeführt. Es hatte den schrecklichen Ruf, dass eine Person, die in das DAL geriet, niemals Widerstand leisten konnte, auf jeden Fall ein Geständnis ablegen und alles akzeptieren würde, was man ihr aufzwingen würde.

Mein Freund kam vierzehn Tage später zurück. Einen Monat lang konnte er sehr langsam mit gespreizten Beinen gehen. Denn er war aus dem DAL gekommen. Er war nur eine Woche lang gefoltert worden und musste dann eine Woche lang warten, bis die Folterspuren verheilt waren. Mein Freund beschrieb die Folter, bei der er mit einem Feuerwehrschlauch mit kaltem Hochdruckwasser besprüht wurde, seine Genitalien unter Strom gesetzt wurden, dass man ihn getreten, geohrfeigt, mit Fäusten geschlagen und einem Schlagstock auf sein Gesicht, seine Nieren und seine Waden gehauen hat und dass seine Hoden gequetscht wurden. Er war am meisten erschöpft von der Folter, bei der seine Hoden gequetscht wurden.

Einer der Brüder seiner Freundin war in Istanbul zu Tode gefoltert worden, und der andere Bruder war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Um ihm dabei zu helfen, sich an die Welt draußen zu gewöhnen, waren sie ausgegangen und hatten sich in ein Café gesetzt. Das Café wurde von der politischen Polizei gestürmt und alle wurden in Gewahrsam genommen.

Sie hatten den Mann, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, als Terrorist mit Verbindungen zu seiner alten Organisation verhört. Sie wurden gefoltert, Männer und Frauen, bis die politische Polizei überzeugt war, dass keiner von ihnen, auch nicht der gerade aus dem Gefängnis Entlassene, in irgendwelche Aktivitäten verwickelt war. Wahrscheinlich legten sie auch besonderen Wert auf die abschreckende Wirkung der Folter. Nach der Folter würde sich eine Person von allem Politischen fernhalten. Obwohl keine Informationen über ihre Verbindungen zu irgendwelchen Organisationen eingeholt werden konnten, erinnerten sich alle an die Schreie und die Flüche und Beleidigungen der Folterer.

Im Dezember 1988 sah ich auch das DAL – „Labor für Tiefenforschung“ – von innen. Nach dem Saz-Spielen, auf dem Rückweg zum Wohnheim, ist mir derselbe Freund auf der Straße entgegengekommen und wir haben uns irgendwo hingesetzt. Die Gendarmerie hatte mein Zimmer durchsucht, die Schränke durchwühlt, aber nichts mitgenommen, und bei meiner Ankunft sollte ich zur Gendarmeriestation gehen. Auf dem Campus wurden 30-40 Exemplare eines maschinengeschriebenen Flugblattes verteilt. Die Gendarmerie hat es entdeckt und die Verdächtigen eingesammelt. Sie wollten auch mich als Verdächtigen. Wir sprachen darüber, dass ein Gang zur Gendarmerie dazu führen könnte, dass ich ins DAL – „Labor für Tiefenforschung“ – gebracht würde. Wir sprachen aber auch darüber, dass ich, wenn ich nicht hinginge, die Hochschule abbrechen müsste und überall im Land wie ein „gesuchter Verbrecher“ behandelt würde. Ich konnte nirgendwo Zuflucht nehmen. Ich dachte: „Ich gehe zur Gendarmerie; sie wissen, dass ich nichts damit zu tun habe, vielleicht lassen sie sich überzeugen.“

Mein Freund konnte nur sagen: „Zieh dich warm an.“

Die Gendarmen haben mir sofort gesagt, dass die politische Polizei mich haben wollte. Die Gendarmen riefen dort an. Bald kamen sie in zivilen Polizeifahrzeugen. Sie holten mich ab. Während sie noch zivilisiert mit mir sprachen, bis wir das Campusgelände verließen, begannen sie, sobald wir es verlassen haben, meinen Kopf nach unten zu drücken, mich zu schlagen und mich zu beschimpfen.

Sie verbanden mir die Augen. Sie zwangen mich, aus dem Fahrzeug auszusteigen. Nein, ich werde diese vierzehn Tage und die Folter, die ich erlebt habe, nicht im Detail beschreiben. Ich möchte nur ein paar Dinge sagen: Ankara ist berühmt für seine trockene Kälte. An den Stellen, die nicht verhüllt sind, tut es so weh, als würde man mit einer Rasierklinge geschnitten oder ausgepeitscht. Es ist Mitte Dezember, und ein nasser und nackter Mensch, der mit Hochdruckwasser und Strom gefoltert wurde, wird in seiner Zelle auf den nassen Betonboden geworfen. Die Garagentore sind für eben diese Kälte weit geöffnet. Sie zittern stundenlang heftig.

Dazu kommen die Schreie einer siebzehnjährigen jungen Frau, die gerade ihr Studium begonnen hatte – tagelang…

Ihr Foto war zwischen den Büchern eines jungen Mannes gefunden, der ebenfalls in Gewahrsam genommen war. Es dauerte fünf Tage, bis diese junge Frau die Folterer*innen davon überzeugen konnte, dass sie und ihre Familie keine oppositionelle Vergangenheit hatten, dass der junge Mann, der ihr Foto hatte, sich für sie interessierte, dass sie aber keine Gefühle für ihn hatte. Sie haben uns fünf Tage lang ihre gequälten Schreie und Bitten hören lassen, begleitet von abscheulichen sexuellen Übergriffen und Flüchen.

Warum haben sie mich später in Gewahrsam genommen? Jener junge Mann hatte erfahren, dass er gesucht wurde und war in sein Dorf gegangen. Aber die Gendarmen kamen in sein Dorf und nahmen ihn in Gewahrsam. Sie schickten ihn nach Ankara. Sie durchsuchten sein Haus. Beim Hinausgehen fragte sein älterer Bruder den jungen Mann: „Wie kann ich dich finden, von wem kann ich Nachrichten erhalten?“ Ich wohnte im selben Wohnheim wie der junge Mann, und von Zeit zu Zeit kam er und hörte mir zu, wie ich Saz spielte und Volkslieder sang. Wir unterhielten uns gelegentlich, und so hat er an mich gedacht. Er sagte, wenn du im Wohnheim anrufst und nach İhsan fragst, werden sie dich mit ihm verbinden und er wird sich darum kümmern. Die Gendarmerie hat diesen Dialog notiert. Und deshalb wollte die politische Polizei İhsan. Sie sagten, dass İhsan zwei drei Jahre älter war als der junge Mann, also müsse er sein Verantwortlicher sein. Es sind vielleicht 12-15 Personen in Gewahrsam. Ich kenne keinen von ihnen, und keiner von ihnen kennt mich, aber es reicht schon, wenn eine*r von ihnen mich irgendwie kennt. Aber er kennt mich so wenig, dass er nicht einmal meinen Nachnamen weiß.

Im Alter von 24 Jahren begegnete ich so zum ersten Mal der Folter des türkischen Faschismus an einem Ort, der für seine intensive und systematische Gewalt und Folter bekannt war.

Ja, ich bin in diesem Jahr sechzig Jahre alt geworden. Vor dreizehn Jahren wurde bei mir infolge eines medizinischen Eingriffs nach langem Hungern das Wernicke-Korsakow-Syndrom diagnostiziert. Ich leide dauerhaft unter den mentalen Komplikationen dieser Krankheit – Gedächtnisverlust, Aufzeichnungsschwierigkeiten und Vergesslichkeit. Dennoch habe ich die Details dieser alten Zeit nicht vergessen.

Denn in diesem Folterzentrum namens DAL folterte die Truppe eines Folterers, der ironischerweise „Kleiner“ genannt wurde, Birtan Altunbaş zu Tode. Dieser Folterer wurde in einem Prozess, der sechzehn Jahre dauerte, für schuldig befunden und verurteilt und ging in Berufung. Er wurde nie verhaftet, musste nie ins Gefängnis. Birtan war ein Informatikstudent an der Hacettepe-Universität, bekannt und beliebt bei jungen Demokrat*innen.

Ich konnte es nicht vergessen, weil ich im April 1993, im Januar 1994, im Juni 1995, im Februar 1996 und während und nach der Gefängnisoperation vom 19. bis 22. Dezember 2000 immer wieder dieselben Dinge erleben musste.

Ich konnte es nicht vergessen, weil wir zum Beispiel 1992 mit zwei Kisten Kassetten, die wir in Ankara gesammelt hatten, darunter Kassetten von Grup Ekin und Grup Yorum, ein Musikkassettengeschäft in Elazığ unterstützten, das von JİTEM, der illegalen Mörder-Folter-Organisation des Staates, niedergebrannt worden war. Zwei patriotische und demokratische Menschen, die wir dort trafen, die im Vorstand des Menschenrechtsvereins in Elazığ waren, Metin Çetin und Rechtsanwalt Hakan Kaya, wurden ein Jahr später von JİTEM ermordet. Nachdem sie gefoltert worden waren, wurden ihre Leichen am Straßenrand abgelegt, um ein Exempel zu statuieren.

Ich konnte es nicht vergessen, denn 1992 hatte eine Volkstanzgruppe, der auch meine Schülerinnen aus dem Pir Sultan Abdal Verein in Ankara angehörten, an dem Kultur- und Kunstfestival in Sivas teilgenommen. Diesmal hatte der faschistische Staat dschihadistische Fundamentalistinnen eingesetzt, um einen Lynchmord gegen dieses Festival zu organisieren, an dem hauptsächlich Alevitinnen und demokratische Antifaschistinnen teilnahmen. Neben zahlreichen Dichterinnen, Bardeninnen, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, die ich gut kannte, waren auch meine jungen Schüler*innen dabei. Dreiunddreißig Menschen wurden bei lebendigem Leib verbrannt. Der stellvertretende Ministerpräsident konnte den Kommandeur der dortigen Militäreinheit irgendwie nicht erreichen, um zu intervenieren!

Ich wurde 1994 verhaftet und dreimal im DAL – „Labor für Tiefenforschung“ – gefoltert, bis ich verhaftet und eingesperrt wurde. Woher hat mich die Polizei geholt? Und mit welchen Informationen und Beweisen? Vom ersten Mal habe ich bereits berichtet. Beim zweiten Mal, 1993, gab es eine Razzia im Kultur- und Kunstzentrum Ekin, unserem eigenen Zentrum, wo wir mit der Grup Ekin, der Theatergruppe, dem Chor, Kultur- und Kunstaktivitäten durchführten. Sie beschlagnahmten alle unsere Archive, aber sie haben nichts davon in der Verfahrensakte verwendet. Sie haben viele Leute verhaftet. Viele davon waren unsere Gäste. Mich haben sie laufen lassen.

Das dritte Mal, 1994, wieder in demselben Kulturzentrum, wieder mit einer Razzia, wieder mit Plünderungen und Beschlagnahmungen… Und dieses Mal haben sie mich auch verhaftet. Dann haben sie mich nach der fünften Verhandlung freigelassen. Das Gerichtsverfahren dauerte jahrelang. Sie verurteilten alle Angeklagten, die sie auf fünfundvierzig aufgestockt hatten, einschließlich mich wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation. Sie verurteilten auch diejenigen, deren Namen in die Akte aufgenommen worden waren, die aber nie verhaftet wurden.

Ich möchte hier auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Die Bundesanwaltschaft hat im Rahmen der internationalen justiziellen Zusammenarbeit von der Türkei Informationen über mich angefordert. Die Informationen wurden von der zuständigen Abteilung des Justizministeriums vorbereitet und übermittelt. Die zuständige Abteilung des Justizministeriums hat die Informationen von den Polizeibeamt*innen der Anti-Terror-Abteilung der Generaldirektion der Polizei erhalten, d.h. es handelte sich bei den erhaltenen Informationen nicht einmal um Gerichtsakten und Beweise, sondern unmittelbar um einen Polizeibericht.

Ich lege es hier Ihnen konkret dar. Wissen Sie, was die Beweise in dem Fall waren, in dem ich 1994 verhaftet und Jahre später zu fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde? Dass ich der Ankara-Vertreter der Zeitschrift „Kültür Sanatta Tavır“ war. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine legale Zeitschrift, deren Eigentümer und Chefredakteur noch immer draußen und tätig waren, und die Zeitschrift wurde weiterhin legal veröffentlicht. Und die Logik wurde wie folgt aufgebaut: „legales Publikationsorgan einer illegalen terroristischen Organisation“… Eine solche Begriffsbildung wurde von Jurist*innen lange Zeit nicht akzeptiert. Denn wenn ein Phänomen „legal“ ist, kann sein legaler Charakter nicht mit dem Argument untergraben werden, dass es „zu einer Sache gehört, die illegal ist“. Wenn die Publikation selbst illegal ist, kann sie dann mit einer Straftat in Verbindung gebracht werden. Damals war ein Straftatbestand wie „Propaganda“ noch nicht anerkannt. Mit anderen Worten: Das Urteil war völlig lächerlich. Doch Jahre später, während der Verhandlung vor dem Kassationsgericht, hatten sich die Gesetze und die Rechtsauffassung in Bezug auf den Terrorismus erheblich geändert!

Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen. Im Zuge des Militärputsches von 1980 wurden Zehntausende von Menschen wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation vor Gericht gestellt. Die Dauer der Vollstreckung der Strafe betrug etwa vier Jahre. Wenn eine Person, die diese Strafe verbüßt hatte, wegen einer Handlung oder Tätigkeit erneut verurteilt wurde, erhielt sie, wenn diese Handlung oder Tätigkeit eine Straftat darstellte, die entsprechende Strafe, aber sie konnte nicht erneut wegen der Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation verurteilt werden. Denn man kann nur einmal Mitglied einer Organisation sein. Und aus diesem Grund war die Strafe ja bereits verhängt und vollstreckt worden. Das konnte nicht wiederholt werden. Dies wurde 1991 geändert. Nach den Worten einesr Richterin wurde es möglich, für jeden Tag des Zeitraums, in dem man der Mitgliedschaft beschuldigt wurde, eine separate Strafe zu verhängen.

Genau aus diesem Grund haben sie den Zeitraum zwischen 1994 und Februar 1996 in drei Teile aufgeteilt und mich dreimal wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation verurteilt.

Die Informationen, die die Staatsanwaltschaft erhalten und in die Verfahrensakte aufgenommen hat, sind sowohl falsch als auch unvollständig. Trotzdem wird in der Anklageschrift versucht, dadurch, dass ich in der Türkei bereits wegen Terrorismus verurteilt wurde, ein entsprechendes Bild von mir zu zeichnen.

Lassen Sie mich es richtigstellen.

Zehneinhalb Monate nach meiner Verhaftung 1994, also nach mehreren Gerichtsverhandlungen, wurde ich freigelassen. Unser Kultur- und Kunstzentrum Ekin in Ankara war geplündert und geschlossen. Ich ging nach Istanbul, um mit Grup Yorum zu arbeiten.

Im Jahr 1995 erhielt das Kulturzentrum einen Anruf von einer Zeitung. Die Polizei belagerte Nurtepe und die Menschen zeigten eine Reaktion. Aus dieser Gegend gingen viele Menschen im Kulturzentrum ein und aus. Ein paar Freund*innen und ich machten uns mit unseren Kameras auf den Weg, um herauszufinden, was da los war. Aber auf dem Weg dorthin gab es eine Straßensperre der Polizei. Als sie uns sahen, schauten sie auf unsere Ausweise und fragten irgendwo nach. Und sie nahmen uns in Gewahrsam. Später in der Nacht wurden wir von der Polizeistation im Viertel in die Anti-Terror-Abteilung gebracht. Nach vierzehn Tagen und ähnlichen Prozeduren wurden wir von der Staatsanwaltschaft zum Gericht gebracht, um verhaftet zu werden. Das Gericht setzte sich ausnahmsweise über den Antrag des Staatsanwalts hinweg und ließ uns frei.

Ich habe mich zwei Tage lang zu Hause ausgeruht. Dann beschloss ich, ins Kulturzentrum zu gehen. Als ich dort ankam, sah mich eine Freundin und verwies mich an die Rückseite, bevor ich hineinging. Es stellte sich heraus, dass die Polizei der Entscheidung des Gerichts, mich freizulassen, widersprochen und der Staatsanwalt Druck gemacht hatte. Der Staatsanwalt bzw. die Staatsanwältin hatte danach ein anderes Gericht veranlasst, einen Haftbefehl zu erlassen. Beamt*innen der Anti-Terror-Polizei waren mit diesem Beschluss gekommen, hatten im Kulturzentrum nach mir gesucht und es kurz vor meiner Ankunft verlassen.

Was hätte ich Ihrer Meinung nach tun sollen? Hätte ich jene vierzehn Tage noch einmal durchleben sollen? Und dann von dort ins Gefängnis gebracht werden? So einfach war es also, mit Menschenleben zu spielen.

Etwa sechs Monate später, als die Anti-Terror-Polizei die Gegend, in der ich mich aufhielt, durch mehrere aufeinanderfolgende Razzien durchsuchte, wurde ich zusammen mit anderen Personen, mit denen ich nichts zu tun hatte, in Gewahrsam genommen. Ja, wieder vierzehn Tage und ja, wieder Folter. Diesmal wurde ich sogar noch schwerer gefoltert, weil ich mich nicht in den barmherzigen Schoß des Staates begeben hatte.

Und zusammen mit Dutzenden von Menschen, die ich nicht kannte, wurde ich verhaftet und in das Istanbuler Bayrampaşa-Gefängnis gebracht.

Um Fehlinformationen richtigzustellen, sollte ich noch eine weitere Information geben:

Akte 1: Die Akte, aufgrund derer ich 1994 verhaftet und wieder freigelassen wurde.

Akte 3: Die Akte, aufgrund derer ich 1996 in Istanbul verhaftet und in das Bayrampaşa-Gefängnis gebracht wurde.

Akte 2: Die Akte über die Gazi-Ereignisse von 1995, die einige Jahre nach den beiden oben genannten Akten angelegt wurde.

Im Rahmen dieser drei getrennten Akten wurde ich dreimal wegen Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation verurteilt.

Diese letzte Akte stand im Zusammenhang mit den Unruhen und dem Polizeiterror, die 1995 ausbrachen, nachdem JİTEM im Gazi-Viertel eine Provokation durchgeführt hatte, indem sie auf ein Kaffeehaus das Feuer eröffnet hatte. Bei diesen Ereignisse sind viele Menschen gestorben. Im Jahr 1998, als ich im Gefängnis saß, erfuhr ich, dass ein solches Verfahren eingeleitet worden war. Als Beweis wurden in der Akte die Aussagen von einer Gruppe von Personen, die später in Gewahrsam genommen und über die Ereignisse in Gazi befragt worden waren. Diese hatten ausgesagt, dass viele Künstlerinnen und Intellektuelle zur Unterstützung in das Viertel gekommen waren. In dieser Aussage war behauptet worden, dass ich als Vertreter von Grup Yorum zu der Gruppe von Künstlerinnen gehörte, die nach den Ereignissen in das Viertel gekommen waren, um die Menschen zu unterstützen und sie moralisch zu bestärken und die Angriffe und das Massaker zu verurteilen. Und diese Tatsache wurde unter Folter in die absurde und bizarre Behauptung umgewandelt, dass ich, İhsan Cibelik, der Propaganda-Verantwortliche gewesen sei. Obwohl die Person, von der diese Aussage stammte, vor der Staatsanwaltschaft und dem Gericht erklärte, dass sie unter Folter gemacht worden sei und nicht der Wahrheit entspreche, ließ das Gericht diesen Einwand unberücksichtigt.

Erst Jahre später erfuhr ich, dass ich in diesem Fall verurteilt worden war, ohne dass ich überhaupt eine Aussage gemacht hatte. Ich war erneut als Mitglied einer illegalen Organisation eingestuft worden. Ich war dieses Mal für ein paar Tage im Jahr 1995 zum Mitglied einer illegalen Organisation erklärt worden.

Das Urteil war gefällt worden, aber die Berufungsakte verzögerte sich vor dem Kassationsgericht. Aufgrund der Ereignisse in den Gefängnissen und einiger Zufälle wurde das Urteil erst dann bestätigt, nachdem ich aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen worden war. Nachdem das Urteil 2005 bestätigt wurde, kam ich nach Europa.

Stellen Sie sich vor, im Jahr 2008 war ich mit der Gefahr konfrontiert, wegen eines dreitägigen Besuchs im Gazi-Viertel im Jahr 1995, also vor dreizehn Jahren, erneut für Jahre ins Gefängnis zu kommen.

Lassen Sie mich mit einer kurzen Chronologie einen Überblick geben.

Von Oktober 1994 bis Februar 1996 1 Jahr und vier Monate, von Februar 2002 bis Januar 2005 1 Jahr und 10 Monate, und von August 2004 bis Juli 2008 11 Monate, also insgesamt 4 Jahre und 1 Monat konnte ich draußen bleiben und das letzte Jahr dieser Zeit verbrachte ich zwischen den vier Wänden einer Wohnung, während ich auf das Urteil des Kassationsgerichts gewartet habe.

Dies ist also der Terrorist, den die Staatsanwaltschaft nach dreizehn Jahren – „Heureka!“ – entdeckt hat, unter Bedingungen, bei denen die Staatsanwaltschaft in der Lage war, jeden Moment meines Lebens während der dreizehn Jahre, die ich in Europa war, zu überwachen und zu untersuchen, und bei denen jede unserer Aktivitäten offen, legal und legitim war. Ich habe erklärt, wie man in der Türkei einen Terroristen aus einem macht, aber leider wollte man mich Jahre später auch in Deutschland zu einem Terroristen machen…

All dies ist in den Archiven der staatlichen Behörden in der Türkei dokumentiert und eindeutig belegbar. Hätte sich die Staatsanwaltschaft wenigstens den Inhalt der Akten angesehen und nicht die falschen Informationen der Anti-Terror-Polizei, hätte sie richtigere Worte verfasst.

Ich habe auch einiges über die Realität in Europa zu sagen.

Der AKP-Faschismus – die deutsche Demokratie – Grup Yorum

Als ich im Sommer 2008 nach Frankreich kam, wurde mein Ersuchen um politisches Asyl innerhalb kurzer Zeit positiv entschieden. Die Aufenthaltsgenehmigung wurde erteilt, ein Ausweis und ein Reisepass ausgehändigt.

Für mein Asylersuchen habe ich zwei Arten von Dokumenten vorgelegt.

Zum einen die Gerichtsurteile in den gegen mich eingeleiteten Strafverfahren wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen terroristischen Organisationen”, nach denen gegen mich für drei verschiedene Tatzeiträume drei Haftstrafen verhängt wurden. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass außer einigen wenigen unter Folter erzwungenen Aussagen anderer Personen keinerlei Tatnachweise oder konkret nachgewiesene Aktivitäten und Handlungen vorlagen, und daher die verhängten Strafen sowie die Verfahren selbst rechtswidrig waren.

Die anderen Dokumente bezogen sich auf meinen eigentlich ausgeübten Beruf, meine Tätigkeit und meinen Kampf als Künstler. Ich habe die Dokumente vorgelegt, die die Geschichte eines revolutionären Künstlers zusammenfassten, die mit Grup Ekin begann und mit Grup Yorum weiterging, in armen Vierteln, Betrieben, Schulen, Gefängnissen, überall mit Hilfe der Menschen, die Grup Yorum lieben, geschaffen wurde. Ich habe belegt, wie wir unsere bis dahin mit Genehmigung des Kulturministeriums veröffentlichten Alben produziert haben. Ich habe aber auch die Dokumente vorgelegt, die die vom Faschismus gegen Grup Yorum ausgeübte Repression und die verhängten Verbote belegten.

All die Dokumente, die ich im Jahr 2008 zur Anerkennung meines Asylbegehrens vorgelegt habe, sollen nun in diesem Verfahren als Beweise für meine Verurteilung dienen.

Diese Behauptung möchte ich näher erläutern:

Der Putschversuch im Jahr 2015 in der Türkei wurde als Vorwand genommen, um den Ausnahmezustand zu verhängen. Im Zuge dessen wurden schwere Angriffe auf allen Ebenen gegen die Rechte und Freiheiten der Werktätigen eingeläutet. Eines der bevorzugten Ziele dieser Angriffe war der Kampf von Antifaschistinnen, Antiimperialistinnen, Sozialist*innen und demokratischen Teilen der Gesellschaft.

Grup Yorum war in diesem Zeitraum den schwersten Angriffen in ihrer Geschichte ausgesetzt. Dies werde ich im Weiteren noch detaillierter erläutern. Das Ziel dieser äußerst heftigen Angriffe war es, Grup Yorum gänzlich von der Bildfläche verschwinden zu lassen, so das sie endgültig nicht mehr in der Lage sein sollte, ihren Marsch fortzusetzen.

Die 2016 erneut verhängten Auftrittsverbote gingen unter Einbeziehung der Polizeibeamtinnen der Anti-Terrorabteilung sowie der unter ihrem Befehl stehenden Justiz nunmehr in totalen Staatsterror über. In dem Kulturzentrum, in dem wir arbeiteten, wurden alle zwei Monate Razzien durchgeführt. Alle, die dort angetroffen wurden, wurden gefoltert. Die Mitglieder von Grup Yorum und die Mitarbeiterinnen des Kulturzentrums sowie viele unserer Besucher*innen wurden ins Polizeipräsidium verbracht und unter Folter verhört. Die meisten von ihnen wurden anschließend in Haft genommen. Gegen die Mitglieder von Grup Yorum, die während der Razzien nicht vorgefunden werden konnten, Haftbefehle ausgestellt, sie galten sodann als flüchtig.

2016 wurde ich, der sich bereits seit drei Jahren in Europa befand, auch dieser Liste der „Gesuchten“ hinzugefügt. İn dieser Hinsicht nahm man sich das Auftreten der USA zum Vorbild und es wurden in verschiedene Farbkategorien unterteilte, mit Kopfprämien versehene “Wanted”-Listen erstellt. Mich hat man auf die grüne Liste gesetzt.

Dieser Angriffs- und Repressionsprozess, eingeleitet mit dem Ziel der Vernichtung, wird bis heute fortgesetzt. Dutzende unserer Freundinnen bei Grup Yorum wurden nacheinander wiederholt festgenommen, auf freien Fuß gesetzt, und dann wieder Razzien, Folter und Festnahmen ausgesetzt. Unsere Freundinnen, die sich trotz der ganzen Repression nicht beugten, sich von ihrem gerechten Kampf nicht abhalten ließen, wurden mithilfe der hierfür instrumentalisierten Gerichte zu schweren Haftstrafen verurteilt. Die Anschuldigungen sind wohl bekannt: sie steigerten sich beginnend mit dem Vorwurf der Propaganda für eine illegale terroristische Organisation, über die Mitgliedschaft bis hin zum leitenden Kader.

İbrahim Gökçek und Helin Bölek gehörten zu den Freund*innen, die ins Gefängnis gesteckt wurden, nachdem sie durch alle Rechtsinstanzen gegangen waren. Daraufhin haben sie alle zusammen einen Hungerstreik begonnen.

Sie sagten:

“Wir sind keine Terrorist*innen, gegen uns wird Terror ausgeübt!“;

“Wir haben gemeinsam mit unserem Volk unsere würdevolle Geschichte geschaffen, diese könnt ihr nicht beschmutzen!”

Sie zählten ihre Forderungen auf:

Beendet die rechtswidrigen Angriffe!
Alle unsere rechtswidrig verhafteten Kolleginnen müssen freigelassen, die Ermittlungen und Verfahren eingestellt werden! Die Auftrittsverbote müssen aufgehoben werden! Nach 100 Tagen Hungerstreik, als eine Phase erreicht wurde, in der eine Abkehr nun sehr schwer geworden war, haben einige unserer Freundinnen einen kurzzeitigen Unterstützungshungerstreik begonnen; derweil haben İbrahim Gökçek und Helin Bölek beschlossen, den Hungerstreik fortzusetzen.

Nach einer Weile wurden Helin Bölek, etwas später İbrahim Gökçek aus der Haft entlassen. Aber es wurde nichts unternommen, um die von mir oben aufgezählten Forderungen zu erfüllen. Sie haben daraufhin mitgeteilt, dass sie den Hungerstreik in einem Haus in einem Istanbuler Armenviertel so lange fortsetzen würden, bis sie eine positive Antwort auf ihre Forderungen bekämen.

Am 3. April 2020, am 288. Tag des Hungerstreiks haben wir uns von Helin Bölek für immer verabschiedet. Einen Monat später verstarb İbrahim Gökçek. Die Polizei verbot die Bestattungszeremonie und brachte den Leichnam fort.

Dieser Vernichtungsangriff galt nicht nur Grup Yorum. Sie galt insbesondere auch im rechtlichen Bereich den antiimperialistischen und antifaschistischen Juristinnen. Ebru Timtik, die ich in meinen früheren Erklärungen erwähnt habe, die auch meine Anwältin war, war Mitglied des Vereins Progressiver Juristinnen. Ich glaube, sie war auch im Vorstand. Mehr als zehn Anwältinnen ihrer Anwaltskanzlei, Mitarbeiterinnen des Rechtsbüros des Volkes, wurden nach ihrem jahrelangen Kampf gegen Rechtsverletzungen zum Ziel faschistischer Repression. 2016 wurde die zu dieser Zeit günstige Gelegenheit genutzt, um ihre Büros und Wohnungen zu durchsuchen, sie in Gewahrsam zu nehmen und zu foltern. Nachdem sie wieder auf freien Fuß gesetzt wurden, verstieß das Justizministerium so dreist gegen geltendes Recht, dass sie die Justizvollzugsanstalten anwies, keine weiteren Bearbeitungen vorzunehmen, denn sie würden neue Haftbefehle ausstellen und sie wieder zurück in die Gefängnisse schicken. Sie, die Anwältinnen, wurden zu noch gefährlicheren Terroristinnen erklärt, als die von ihnen vertretenen Mandant*innen.

Rechtsanwältin Ebru Timtik forderte Gerechtigkeit ein. Sie setzte ihren Widerstand fort. Im August 2020 starb sie.

Ein junger Arbeiter, Mustafa Koçak, wurde zwölf Tage lang in der Abteilung für Terrorbekämpfung schwer gefoltert. Sie wollten ihn zwingen, ein Geständnis abzulegen und mit der Polizei zu kollaborieren. Weil er dies ablehnte und Widerstand leistete, haben sie ihn verhaftet. Auf der Grundlage eines einzigen Satzes aus der Aussage eines Geständigen haben sie ihn zu 42 Jahren Haft verurteilt. Mustafa Koçak erklärte, er verlange ein faires Verfahren und ging in den Hungerstreik. Als er zur Zwangsernährung ins Krankenhaus gebracht wurde, folterten sie ihn, indem sie seine Venen an 72 Stellen verletzten. Anschließend brachten sie ihn wieder zurück. Im Gefängnis verabschiedete er sich am Telefon von seiner Familie und einige Tage später erhielten wir die Nachricht von seinem Tod. Rechtsanwältin Ebru Timtik wurde zum Ehrenmitglied der Internationalen Anwaltskammer und der Europäischen Anwaltsvereinigung ernannt.

Bitte geben Sie die Namen dieser vier Menschen in die Suchmaschine ein und Sie werden all das erfahren, was ich hier nicht erzählt habe, also was sie aus welchem Grund getan haben, was sie durchlebt haben, und detaillierte Antworten auf alle möglichen Fragen direkt von ihren Video- und Audioaufnahmen erhalten.

Diese kurze Zusammenfassung kann ich später noch ausführen. Was ich hier erzählen möchte, ist Folgendes:

Ich weise mit Nachdruck darauf hin und ich bin sicher, dass folgendes absolut beweisbar ist: Nach dem Putschversuch in der Türkei im Juli 2015 hat der faschistische Staat unter der Führung der AKP einen außerordentlichen Prozess des politischen Angriffs eingeleitet, dessen Ziel es war, jegliche demokratische Opposition endgültig zum Aufgeben zu zwingen. Mit Dekreten hat er dauerhafte Maßnahmen eingeleitet, die den Staatsterror nun grenzenlos machen. Bis dahin gesetzlich verankerte Rechte und Freiheiten wurden von einem Tag auf den anderen zu Terrortaten erklärt und als Drohmittel und Abschreckung gegen das Volk eingesetzt.

Während in der Türkei der Staatsterror ungebremst weitergeht, übernimmt die Bundesanwaltschaft die Unterstützung des türkischen Staates. Insbesondere wegen der Auftritte von Grup Yorum ist sie dazu übergegangen, meine Freundinnen, mich und alle anderen zu Terroristinnen zu erklären. Mit exakt derselbem Muster wurden Aktivitäten, die seit Jahren als legal und legitim galten, zu Aktivitäten einer terroristischen Organisation erklärt und wir selbst wurden dann als gefährliche Terrorist*innen behandelt.

Zudem wird Monate nach meiner Festnahme versucht, über mich auch meine Frau derselben Behandlung auszusetzen.

Dies werde ich später ausführlicher erläutern.

Hier muss hervorgehoben werden, dass ich, Ihsan Cibelik, der in diesem Verfahren als wichtiger Kader angeklagt wird, in der Türkei wegen des Tatvorwurfs der „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation” zu insgesamt 45 Jahren Haft verurteilt worden war, weil ich meinen Kampf auf dem Gebiet der Kultur und Kunst nicht aufgegeben hatte. Und genau aufgrund dieser Urteile wurde mein Asylbegehren anerkannt.

2020, bevor ich wegen dieses Verfahrens verhaftet wurde, habe ich im europäischen Parlament vor 63 Mitgliedern der Kommission für Menschenrechte in einer Rede über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, Helin Bölek und Ibrahim Gökçek berichtet. Wiederum mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments habe ich überdies an einer Pressekonferenz als Redner teilgenommen.

Dieser „gefährliche Terrorist” hat vor seiner Verhaftung bei der Interpol Correction Commission in Lyon die Anfrage gestellt, ob gegen ihn ein internationaler Haftbefehl vorliege, und beantragt, im Falle dessen diesen Haftbefehl aufzuheben. Meine Begründung war folgende: die Gründe, weshalb die AKP Regierung mich auf die Liste der „gesuchten Terroristen“ gesetzt hatte, waren dieselben, aufgrund derer mein Antrag auf politisches Asyl in Frankreich – also im Grunde in der EU – angenommen wurde. Es kam dann die Antwort auf meinen Antrag, dem ich dieselben Dokumente beigefügt hatte.

Ja, es habe einen Haftbefehl gegen mich gegeben, dieser sei aber aufgehoben worden. Weil Interpol den Haftbefehl aufgehoben hatte, habe ich in Griechenland und Südzypern an Auftritten von Grup Yorum teilnehmen können.

Was ich Interpol gegenüber erklärt habe, werde ich auch diesem Gericht gegenüber erklären. Die Gründe für die Anerkennung meines Asylantrags 2008 durch die Europäische Union bilden hier als Mittel zu meiner Bestrafung benutzt. Dieses Unrecht ist nicht akzeptabel. Die Staatsanwältinnen dürfen nicht willkürlich bestimmen, wonach und wie wir leben, welche unsere politischen Präferenzen sind. Deutschland darf nicht mit Hilfe der Staatsanwältinnen den Faschismus offen unterstützen.

Die Entscheidung des Faschismus und die Unterstützung durch Deutschland

İm Jahr 2010 sollte Grup Yorum ihr fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiern. Sie beabsichtigte, ihre fünfundzwanzigjährige Geschichte mit einem bis dahin nicht da gewesenen Fest zu feiern, es sollte ein Stadionskonzert stattfinden.

An den monatelangen Vorbereitungen haben Tausende Freiwillige aus allen Stadtteilen Istanbuls, Gewerkschafterinnen, Künstlerinnen, Arbeiterinnen, Kleingewerbetreibende, Schülerinnen und Studierende Komitees gegründet und sich beteiligt. Als die Vorbereitungsarbeiten großes Aufsehen erregten, wurden sie im ganzen Land zum Thema von Fernsehsendungen und Presseartikeln. Zahlreiche Reportagen und Programme wurden veröffentlicht und gesendet.

Im Inönü-Stadion in Istanbul kamen 55.000 Besucherinnen zu sehr niedrigen Ticketpreisen zusammen. Musikerinnen, Theatermacherinnen, TänzerInnen, Dichterinnen, Gewerkschafterinnen, Juristinnen, Mitarbeiterinnen aus dem Gesundheitssektor, Gefangenenangehörige, Vertreter*innen von Jugendorganisationen und noch viele andere Menschen haben stellvertretend für alle unterdrückten Bevölkerungsgruppen Reden gehalten, Lieder gesungen, Gedichte vorgetragen, getanzt …

Denn dies war der Anfang von kostenlosen Volkskonzerten auf großen öffentlichen Plätzen in den folgenden Jahren.

Im Jahr 2011 gab es dann ein Konzert unter dem Motto „Uneingeschränkte Unabhängigkeit für die Türkei” auf dem zentralen öffentlichen Platz in Istanbul-Bakırköy, an dem 150.000 Menschen zusammenkamen, darunter eine große Anzahl befreundeter Künstlerinnen, Demokratinnen und Revolutionär*innen und sogar Werktätige, die die AKP gewählt haben.

Während all dies geschah, war die AKP unter der Führung Erdoğans an der Regierung. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich ihre Wege mit der Fethullah-Gülen-Bewegung noch nicht getrennt. 2015 wurde dieser Konflikt dann endgültig ausgetragen und im Anschluss an den (erfolglosen) Putschversuch vom 15. Juli 2016 hatten Erdoğan und seine Clique den gesamten Staatsapparat unter ihre Kontrolle gebracht und damit einen neuen Prozess eingeläutet. Der Faschismus griff nun noch offener und mit noch härteren Repressionen und ohne Rücksicht auf geltendes Recht, Regeln oder Prinzipien jede als oppositionell angesehene Kraft an, mit der Absicht, diese zu vernichten oder zum Aufgeben zu zwingen. Diesen Prozess hat Professorin Oğuz in Ihrem Artikel detailliert beschrieben, dessen Verlesung Rechtsanwalt Yener Sözen hier beantragt hat. Im Übrigen wurde dieser Sachverhalt auch im Bericht von Professor Çopur dargelegt.

Vor diesem Putschversuch wurde hinsichtlich Grup Yorum ein wichtiger Beschluss gefasst. Diesen Beschluss machte die Jugendorganisation der AKP öffentlich. Kurz zusammengefasst:

”Grup Yorum muss aufgehalten und zum Schweigen gebracht werden”

2015 wollte Grup Yorum zur Feier ihres dreißigjährigen Bestehens große Konzerte in fünf verschiedenen Regionen der Türkei veranstalten. Die Konzerte, die bis dahin erlaubt waren, wurden diesmal de facto mit Hindernissen konfrontiert. Für die Konzerte, die in Istanbul, Izmir, Adana, Ankara und Dersim (Tunceli) stattfinden sollten, wurden Stadien angefragt. Zunächst wurden diese Anfragen akzeptiert, dann aber mit der Begründung abgelehnt, dass die Stadien in all diesen Provinzen renoviert werden sollten. Auch wenn es bei den Anträgen für öffentliche Plätze Hindernisse gab, konnten die Konzerte nicht vollständig verboten werden.

Mehr als eine Million Menschen besuchten die Konzerte in Istanbul, siebenhundertfünfzigtausend in Izmir, Zehntausende in Ankara, Adana und Dersim.

Und dann der Putschversuch… Danach war keines unserer Konzerte mehr erlaubt. Zunächst wurden unsere großen Konzerte auf öffentlichen Plätzen ein paar Tage vorher verboten, nachdem alle Vorbereitungen getroffen worden waren. Die Straßen, die zu den Veranstaltungsorten führten, wurden zum Schauplatz von Polizeiterror. Tausende von Menschen demonstrierten auf allen Straßen und sangen Lieder von Grup Yorum, um gegen das Verbot und den Polizeiterror zu protestieren.

Danach wurde unser Kulturzentrum regelmäßig und sehr oft von der Polizei gestürmt und geplündert. Unsere Leute – die Mitglieder von Grup Yorum – wurden in Gewahrsam genommen, gefoltert und sogar verhaftet.

Wir sagen einfach Polizeirazzien, aber es ist notwendig, das ein wenig auszuführen. Unser Kulturzentrum liegt in einem Viertel, in dem arme Menschen leben. Von der Staatsanwaltschaft wird eine Genehmigung geholt. Vom Haupteingang des Viertels aus kommen Hunderte von Polizist*innen mit ihren Schildern, Waffen, Tarnanzügen und gepanzerten Fahrzeugen vor das Kulturzentrum und verbreiten dort Angst. Das betreffende Viertel wurde, wie viele andere Viertel auch als „Terrorzone“ abgestempelt.

Die Tür und die Wand des Kulturzentrums werden mit Eisengewichten, so genannten Rammböcken, zertrümmert und durchbohrt. Einerseits werden die Menschen, die sich darin befinden, und die Anwohner*innen ständig mit lauten Durchsagen bedroht. Diejenigen, die sich im Zentrum aufhalten, erklären, dass das, was geschieht, ungerecht und unrechtmäßig ist und dass sie sich dieser faschistischen Willkür nicht beugen werden, und singen von den Fenstern aus Lieder von Grup Yorum.

Die Polizei bricht die Türen auf und dringt ein, wirft manchmal Gasbomben, schlägt und foltert die Menschen, die sie im Kulturzentrum finden, mit Knüppeln, Gewehrkolben und führen sie in die Polizeibusse, während sie sie beschimpfen. Wir sollten nicht vergessen, dass ihre Handgelenke dabei mit amerikanischen Plastikhandschellen auf dem Rücken gefesselt werden. Und diejenigen, die in das Polizeipräsidium gebracht werden, werden dort tagelang und systematisch physisch und psychisch gefoltert, um sie dazu zu zwingen, sich zu beugen, zu kapitulieren und sogar zu kollaborierenden Agentinnen zu werden. Dann werden viele unter ihnen ausgewählt und auf Antrag der Staatsanwaltschaft verhaftet. Nachdem die anderen freigelassen werden, versuchen sie gemeinsam mit den Bewohnerinnen des Viertels, das zerstörte, geplünderte und in Unordnung geratene Kulturzentrum mit ihren zerschlagenen Instrumenten und zerrissenen Büchern rasch wieder aufzubauen und arbeitsfähig zu machen.

Einige dieser Folterungen sind noch spezifischer. Die Mitglieder von Grup Yorum wurden in den letzten Jahren einer besonderen Behandlung unterzogen. So wurden beispielsweise die Ohren unserer Sängerin so geschlagen, dass sie ihr Gehör verlor, und ein Finger der linken Hand unseres Geigers wurde gebrochen.

Ihr Gegenüber in diesem Prozess der Ingewahrsamnahme und Folter sind die Antiterroreinheiten der Polizei. Und während sie Sie mit Schimpfwörtern und Drohungen foltern, spucken sie Sätze aus, die Sie nirgendwo sonst als offizielle Erklärungen lesen könnten, die aber die wahre Wahrheit ausdrücken: „Euer Strick ist gespannt, ihr seid erledigt. Keine Musik und keine Konzerte mehr für euch.“ „Von nun an werden wir einmal im Monat hinter euch her sein. Ihr werdet nicht einmal mehr atmen können.“ „Entweder ihr hört auf und geht nach Hause, bleibt ruhig sitzen, oder ihr seid ruiniert, ihr werdet nicht mehr aus den Gefängnissen herauskommen.“ „Das war’s, ihr seid am Ende eures Weges angelangt!“

Die Repression nimmt seit 2016 immer mehr zu…

Für alles, was ich bisher beschrieben habe, vom Konzert zu unserem 25-jährigen Bestehen bis hin zu den Ingewahrsamnahmen, können Sie Hunderte von konkreten Beweisen aus offenen Quellen im Internet finden. Allein auf YouTube gibt es Hunderte von Originalaufnahmen und Informationen. Wir haben auch unser Konzert zu unserem 25-jährigen Bestehen mit allen Vorbereitungen auf DVD veröffentlicht, wiederum mit der Genehmigung des Aufsichtsrates des Kulturministeriums. Kaufen Sie eine Kopie und stellen Sie sie in Ihre Bibliothek. Sie werden sie später vielleicht nicht mehr finden können!

In unseren früheren Aussagen vor Gericht hatte ich dargelegt, dass die gleiche repressive, eliminatorische Politik des AKP-Faschismus im Fall der Grup Yorum parallel in Deutschland betrieben wurde. Beim Lesen der Akten habe ich mir viele Notizen gemacht.

Ich muss auch erklären, was wir in Deutschland erlebt haben. Und ich möchte hier ein paar wichtige Fragen zur Sprache bringen – für den Fall, dass sie vielleicht die unmittelbaren Verantwortlichen erreichen könnten.

Was haben wir in Deutschland erlebt und warum?

Während ich auf den Ausgang des Asylverfahrens in Frankreich wartete, machte ich mir Gedanken darüber, wie ich in Europa leben könnte, ohne faule Kompromisse einzugehen, ohne meine Prinzipien, Werte und sozialen und politischen Empfindlichkeiten zu vernachlässigen. Zu diesem Zweck dachte ich, dass ich meine kulturelle und künstlerische Arbeit in Deutschland fortsetzen könnte, wo es eine viel höhere Konzentration türkischer Immigrantinnen gibt. Ich habe auch mit meinen Kolleginnen von Grup Yorum gesprochen und versucht, Möglichkeiten zu schaffen, wie wir zu unserer Arbeit beitragen könnten.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auf meinen Versuch eingehen, nach Deutschland zu kommen, der in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft und in den Polizeiberichten immer wieder erwähnt wird, als handele es sich um eine sehr schwerwiegende Straftat und als sei dies ein wichtiger Beweis in diesem Verfahren. Im Februar 2009 wurde mein vorläufiger Ausweis geändert und ich erhielt einen andersfarbigen Ausweis. Als ich diesen Ausweis, der, wie ich glaube, rosa war, erhielt, fragte ich dendie Beamtin, ob ich damit nach Deutschland reisen könne: „Ja, aber wenn Sie noch ein wenig warten, wäre es besser, mit Ihrem richtigen Ausweis zu reisen”, sagte er. Er sagte also nicht, dass es ein Problem geben würde, wenn ich mit diesem Ausweis reiste. Also rief ich meinen Freundin an. Ich wartete nicht, um die vielen Freundinnen zu treffen, mit denen ich bis dahin telefoniert hatte, Bekannte aus der Türkei, die ich seit Jahren nicht mehr hatte treffen können. Meine Freundin kam, ersie wollte mich in seinem*ihrem Auto nach Deutschland bringen. Auf dem Weg dorthin, bei der Polizeikontrolle, sagte man mir, dass ich mit meinem Ausweis keine Berechtigung für die Einreise hätte. Sie hatten uns in Offenburg angehalten, sie haben mich zur Grenze in Kehl gebracht, mir gesagt, ich solle auf die französische Seite fahren und mich gehen lassen. Erst viel später erfuhr ich, dass ich eine Geldstrafe erhalten hatte. Wie oft wurde ein so einfaches und banales Ereignis schon in den Akten erwähnt!

Nachdem ich das Reisedokument „Titre de voyage” erhalten hatte, konnte ich kaum noch warten, nach Deutschland zu kommen. In Dortmund habe ich ein Musikprojekt gestartet: Ich habe mit meinen jungen Freund*innenen eine Band und einen Chor aufgebaut. Wir traten auch bei einigen Veranstaltungen auf. Wir beschlossen, mit einigen aus derselben Gruppe nach Köln zu ziehen, weil wir der Meinung waren, dort produktiver sein zu können, da es ein Zentrum für kulturelle und künstlerische Aktivitäten war, in dem auch türkeistämmige Leute aus der Kunstszene lebten.

Wir haben das Kulturzentrum gegründet, das in den Akten als Kunstwerkstatt e.V. aufgeführt ist, und ich habe die Rolle der künstlerischen Leitung übernommen. 2011 haben wir die Arbeiten für eine Theatervorstellung abgeschlossen. Das Thema unseres Theaterstücks, das wir ein ganzes Jahr lang vorbereitet haben und das Musik, Poesie, Tanz und Chor umfasste, war der Dichter Ahmed Arif, dessen Gedichte so beliebt sind, dass sie von linken oppositionellen Kreisen und von allen Bevölkerungsschichten des kurdıschen Volkes in den Gebieten, in denen sie leben, auswendig rezitiert werden können. Die Poesie-Theater-Vorstellung, die wir „Mein Herz ist ein Sprengloch„ nannten, haben wir siebenmal aufgeführt, die erste Aufführung war in Köln, und die DVD dieser Vorstellung muss sich unter den Materialien befinden, die bei meiner Festnahme in meiner Wohnung beschlagnahmt wurden.

Mit unserem Personal, das fast ausschließlich aus Erwerbstätigen besteht, waren wir in der Lage, unsere Kunstwerkstatt durch gemeinsame Anstrengungen bekannter zu machen.

In dieser Werkstatt, die hier als ein angeblicher Tarnverein der DHKP-C unmittelbar terrorisiert wurde, wurden viele Aktivitäten wie Choraktivitäten mit etwa dreißig Personen, Musikinstrumentenkurse mit mehr als vierzig Schülerinnen auf verschiedenen Niveaus und Gedicht- und Literaturvorträge durchgeführt. An Wochenenden wurden in der Umgebung von Köln einige gemeinsame Aktivitäten mit den Familien unserer Schülerinnen organisiert. Jeden Monat wurde eine Veranstaltung organisiert, um einen der türkischen Bardin, Intellektuellen oder Künstlerin vorzustellen. Alle Dokumente dazu wurden bei einer Razzia im Jahr 2013 von der Polizei beschlagnahmt. Es handelt sich also um ein Thema, das die Verfasserinnen der Anklageschrift sehr gut kennen, das sie aber aus irgendeinem Grund nicht erwähnen.

In der Türkei hatten wir festgestellt, dass unser Konzert zu unserem 25-jährigen Bestehen als Grup Yorum und unser Konzert „Vollständig Unabhängige Türkei” im darauffolgenden Jahr mit großem Interesse begrüßt wurden. Wir haben erwogen, ob wir das nicht auch hier machen könnten. Das Problem des Rassismus und der Degeneration war und ist ein Inhalt, der vor allem diep türkeistämmigen Immigrant*innen und aber auch alle anderen Völker anspricht. Deshalb haben wir uns entschlossen, ein großes Konzert unter dem Motto und Titel „Eine Stimme, ein Herz gegen Rassismus und Degeneration“ zu veranstalten, das ein sehr breites Spektrum von Menschen erreichen würde.

Zunächst hatten wir 2012 ein sehr erfolgreiches Konzert in Düsseldorf, wo wir mehr als zehntausend Menschen treffen konnten. Dann traten wir drei Jahre in Folge in der Oberhausener Arena auf. Nach unserem zweiten Konzert fand eine Polizeirazzia in der Kunstwerkstatt statt. Alle Unterlagen und Computer, die im Zusammenhang mit dem Konzert standen und zum Atelier gehörten, wurden beschlagnahmt. Es wurde jedoch kein Gerichtsverfahren eingeleitet, weder gegen die Kunstwerkstatt noch gegen İhsan Cibelik, der im Zentrum der Organisation stand. Muzaffer Doğan, der in den Akten erwähnt wird, war ein Freund von uns, der mit seinem Deutsch, seiner Fähigkeit, Auto zu fahren und der Tatsache, dass er einen großen Kreis von Menschen kannte, eine wichtige Unterstützung bei diesen Konzerten war. Ich habe erfahren, dass er aus seiner Wohnung abgeholt und verhaftet wurde.

Und ich erinnere mich, dass ich überrascht und empört war, wie ein Grup Yorum-Konzert, ein künstlerisches und kulturelles Ereignis, mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden konnte, weil es einen politischen Inhalt hatte. Ich fragte mich, ob dies die Türkei ist. Und ich sagte den Anwält*innen von Muzaffer Doğan, dass ich vor Gericht als Zeuge zu dem Konzert aussagen könnte. Ich habe immer noch dieselben Gefühle: Das hier ist nicht die Türkei. Deutschland sollte nicht bereitwillig die faschistischen Praktiken und die rechtswidrige Repression der Herrschenden in der Türkei unterstützen.

Als ich 2015 mit der Realität konfrontiert wurde, musste ich mit Bedauern feststellen, dass diese Angelegenheiten nicht viel anders gehandhabt werden als in der Türkei: Als wir uns 2015 wegen eines Konzerts mit dem gleichen Inhalt mit Verantwortlichen der Oberhausen Arena trafen, machten sie eine kurze Pause und ließen uns mit einemeiner anderen Verantwortlichen sprechen. Ich war sowohl überrascht als auch traurig über das, was derdie Verantwortliche mir während des Treffens erzählte. Kurz gesagt, sagte ersie Folgendes: Mitarbeiterinnen des Amtes für Verfassungsschutz sind gekommen und haben ein fünfzigseitiges Dokument hinterlassen, in dem behauptet wird, dass Grup Yorum Verbindungen zu einer terroristischen Organisation hat. Das Dokument enthielt aus dem Internet entnommene Fotos von Mitgliedern von Grup Yorum bei den Beerdigungszeremonien einiger von den staatlichen Kräften getöteter Revolutionär*innen, Fotos von Grup Yorum-Mitgliedern, die bei Polizeirazzien festgenommen wurden, und viele Schriftstücke.

Die Warnungen der Mitarbeiterinnen des Amtes für Verfassungsschutz reichen aus, um einen Menschen zu verunsichern, ohne dass er das aus Texten und Fotos bestehende Dokument lesen muss. Ersie war ohnehin schon sehr nervös. Aber wir hatten einen Vertrag und er kannte uns seit zwei Jahren von unseren Veranstaltungen. Wir hatten noch nie irgendwelche unlösbaren Probleme gehabt, also haben wir die Bitte um Absage des Konzerts nicht akzeptiert. Sie mussten, wenn auch etwas widerwillig, zustimmen.

Wir haben das Konzert durchgeführt, aber wie?

Zunächst möchte ich einen Punkt erwähnen, der in der Anklageschrift nachdrücklich hervorgehoben wird: Laut Anklageschrift seien die Grup-Yorum-Konzerte die wichtigste Einnahmequelle der so genannten Europäischen Hinter-der-Front-Organisation für die Finanzierung der terroristischen Organisation. Die Einnahmen würden aus dem Kartenverkauf und dem Verkauf an verschiedenen Verkaufsständen stammen. Als jemand, der persönlich an den meisten von Grup Yorum organisierten Konzerten beteiligt war, kann ich ganz klar sagen: Bei keinem der Konzerte, die wir mit sehr billigen Eintrittskarten organisiert haben, wurde auch nur ein einziger Cent Gewinn gemacht, und es wurde nirgendwo Geld transferiert. Nach den Konzerten haben wir versucht, mit unseren lokalen und regionalen Konzerten und Veranstaltungen die zum Teil hohen Schulden langfristig zu tilgen. So ist es seit einiger Zeit immer gewesen, die Behauptung einer anderen Funktionsweise entspricht nicht dem, was ich weiß und erlebt habe.

Es ist unmöglich, dass dies der Polizei und dem Verfassungsschutz nicht bekannt ist. Denn zumindest sollten sie alle Dokumente und Informationen über die Konzerte von 2012 und 2013 haben. Ich glaube, sie sagten, die Dokumente seien verloren gegangen, als ein Gericht sie im Rahmen einer anderen Ermittlung anforderte…

Sie argumentieren, dass zusätzliche Eintrittskarten verkauft würden, und mit einer unklaren Bestimmung behaupten sie, dass große Einnahmen erzielt worden seien, die über die Zahl der Zuschauerinnen hinausgingen. Rechnen Sie selbst nach. Konzertkarten werden für 10, höchstens 15 Euro verkauft. Das durchschnittliche Budget eines großen Konzerts liegt bei etwa 300 Tausend Euro. Um diesen Betrag zu erreichen, müssen mindestens 25-30 Tausend Karten verkauft werden. Nehmen wir an, das vollste Konzert hat 15 Tausend Besucherinnen… Höchstens könnten ein- bis zweitausend zusätzliche Karten verkauft werden. Und was ist mit dem Rest? Oder kennen sie Methoden, die wir uns nicht bekannt sind? Aber die Wahrheit ist, wenn es etwas „Zusätzliches“ gab, dann war es die Anzahl der Zuschauerinnen im Saal. Die Zahl der verkauften Eintrittskarten hat nie die der Zuschauerinnen überschritten. Denn mindestens tausend Menschen bestehen aus denen, die beim Bühnenaufbau, im Sicherheitsdienst, in der Reinigung usw. arbeiten, und denen, die keinen Eintritt zahlen. Konzerte gelten als erfolgreich, wenn sie sich selbst finanzieren können.

Ist es ein Zufall, dass die Aussagen desder Verantwortlichen der Oberhausen Arena aus dem Jahr 2015 Parallelen zum Vorgehen des türkischen Faschismus gegenüber Grup Yorum aufweisen, das im selben Jahr von der AKP- Jugendorganisation angekündigt wurde? War es auch ein Zufall, dass das deutsche Konsulat in der Türkei den meisten Künstlerinnen von Grup Yorum das Visum verweigerte, nachdem die Kündigung des Arena-Vertrags nicht zustande gekommen war? Ist es ein Zufall, dass die vier Musikerinnen, die ein Visum erhalten konnten, am Düsseldorfer Flughafen acht Stunden lang von der Polizei aufgehalten und nach dem Konzert mit der Begründung, die Visumsgründe seien nicht mehr vorhanden, in einem Flugzeug zurückgeschickt wurden? Was sollte damit bezweckt werden? Kein Konzert! Verhindern! Aber wir standen trotzdem mit einem zweiunddreißigköpfigen Orchester auf der Bühne. Vielleicht klingt es komisch: Gleich zu Beginn des Konzerts fiel die Tonanlage aus, und das ganze Publikum war sehr wütend, weil es dachte, dass derdie Besitzer*in der Tonanlage auch an diesen Behinderungen beteiligt sei. Ich erinnere mich, dass es uns nur schwer gelang, sie zu beruhigen. Ich habe das oben erwähnte fünfzigseitige Dokument während der Vorbereitungen für das Gladbeck Festival 2016 gesehen. Ist es ein Zufall, dass die Konzertbeschränkungen und die starke Repression in der Türkei im Jahr 2016 parallel zu der unglaublichen Repression verlaufen, die wir in Gladbeck erlebt haben?

Ich möchte etwas näher auf das eingehen, was in Gladbeck geschehen ist, denn seit Jahren ist es wie ein Knäuel von Wut und Fragen in mir. Welches Zentrum, welche Behörde hat auf welcher Grundlage die Verfassungsschutzbeamtinnen (vor allem eine türkeistämmige Frau, derdie andere eine großer Rothaariger, derdie wahrscheinlich Deutscher ist) gezwungen, so hartnäckig gegen uns vorzugehen? Ich möchte diese Frage so stellen, dass sie bei den Adressat*innen ankommt.

Die Verantwortlichen des Alevitischen Kulturzentrums Gladbeck, das über einen großen Garten verfügte, der sich für das Festival eignete, freuten sich sehr, Grup Yorum zu empfangen. Zunächst hat man die Verantwortlichen des Alevitischen Kulturzentrums zu einem Gespräch in ein Hotel gerufen und ihnen das berühmte fünfzigseitige Dokument vorgelegt. „Grup Yorum hat Verbindungen zu Terroristinnen, geben Sie ihnen keinen Platz für eine Veranstaltung“, sagten sie. Doch derdie damalige Vorsitzende des Alevitischen Kulturzentrums sagte: „Wir sind mit ihren Volksliedern aufgewachsen, und wir ziehen unsere Kinder mit diesen Liedern auf. Wollen Sie uns etwas über Grup Yorum erzählen? Das ist nicht nötig“, war ihre Antwort. Als der Vorstand des Alevitischen Kulturzentrums unmittelbar danach zur Stadtverwaltung ging, um einige Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Festival zu beantragen, haben sie mit einemeiner stellvertretenden Bürgermeisterin gesprochen. Derdie stellvertretende Bürgermeisterin erpresste das Alevitische Kulturzentrum ganz offen, indem er*sie schreiend ankündigte, dass sie drei verschiedene Bauprojekte des Alevitischen Kulturzentrums nicht genehmigen würden, wenn der Festivalvertrag nicht gekündigt würde. Unter diesen Umständen konnte der Vorstand des Alevitischen Kulturzentrums nicht mehr widerstehen.

Dann haben wir uns bei der Stadtverwaltung nach einem Ort für das Festival gefragt. Es gab zwar kein Verbot, aber eine klare de facto Behinderung. Wir bekamen die Erlaubnis für ein Zelt vor dem Rathaus. Wir haben allen mitgeteilt, was wir dort erlebten, und Volkslieder gesungen. Wir warteten auf eine positive Antwort der Stadtverwaltung.

Die Vorstände von zwölf Moscheen und die Union Europäischer Türkischer Demokraten Gladbeck (die UETD ist laut Prof. Çopur eine Organisation der AKP) gaben eine Erklärung ab. „Wir wollen kein Konzert von Grup Yorum, die mit dem Terrorismus in Verbindung steht und den Frieden in unserer Stadt stören wird”. Eine weitere Information aus der Moscheegemeinde, die uns sehr liebte, lautete wie folgt: „Sie planen eine Provokation am Freitag nach dem gemeinsamen Gebet, sie werden zum Zelt marschieren, es könnte zu einer Schlägerei kommen.“

Wir haben den Vorstand des Vereins ausfindig gemacht, einen Termin vereinbart, sind zu dem Treffen gegangen und haben es ihnen erklärt, haben sie überzeugt. Wir haben ihnen von unserer Veranstaltung gegen Rassismus und Degeneration erzählt, wir haben genauer erklärt, was wir vorhatten, und sie auch eingeladen. Es gab eine kurze Pause. Der UETD- Vorsitzende ging nach hinten ins Büro und als er zurückkam, legte er das berühmte fünfzigseitige Dokument über Grup Yorum und Terrorismus, dasselbe Dokument wie immer, auf den Tisch. Und er erklärte Folgendes: Die Beamt*innen des Amtes für Verfassungsschutz seien gekommen, deshalb hätten sie eine Erklärung abgegeben. In Bezug auf einen potenziellen Angriff haben sie versprochen, dass niemand aus den Moscheen dies tun werde. Und sie gaben eine Erklärung ab, dass das Konzert für sie kein Problem darstelle.

Wir haben eine Kundgebung organisiert, um gegen die Behinderung unseres Festivals und die fehlende Antwort der Stadtverwaltung zu protestieren. Diese Kundgebung wurde genehmigt. Wir teilten unsere Erfahrungen mit der Gladbecker Bevölkerung. Aber dunkle Kräfte waren am Werk: Eine deutsche Freundin von uns, die einen Teil der Materialien von der Kundgebung in ihrem Auto zu ihrem eigenen Verein brachte und uns in jeder Hinsicht unterstützte, wurde überfallen. Als sie in der Straße des Vereins aus ihrem Auto ausstieg, schlug ihr derdie Täterin von hinten mit einem harten Gegenstand auf den Kopf und flüchtete. Wer kann sagen, dass dies nicht von den Mitarbeiter*innen des Amtes für Verfassungsschutz organisiert wurde?

Die Frage wurde in der letzten Woche vor dem Festival im Stadtrat besprochen. Die Rede des Bürgermeisters war interessant und gleichzeitig ein Eingeständnis der Wahrheit. Er war neugierig auf Grup Yorum und hatte sich die Band im Internet angehört. Er erklärte, dass er in seiner Jugend die chilenische revolutionäre Band Inti-Illimani gehört habe und dass Grup Yorum genau so sei wie sie und dass er ihre Musik möge. Er erklärte jedoch, dass er nichts wegen der Genehmigung für das Festival und das Konzert unternehmen könne, da die Angelegenheit auf diese Weise von oben angeordnet worden sei.

Wir haben eine Lösung vorgeschlagen. Wir sagten, lassen Sie uns eine Zwischenlösung finden, indem wir es als Kundgebung organisieren, das Festival beschränken, aber mit einer vielfältigen Organisation verbinden. Mit der Unterstützung der DKP hat man sich mit den Polizeidirektor*innen und der Stadtverwaltung in Verbindung gesetzt und sich geeinigt.

Trotz aller Schikanen, Hindernisse, Provokationen, mit denen wir einen Monat lang konfrontiert wurden, und des sintflutartigen Regens, der am Tag der Veranstaltung fiel, haben wir ein Konzert, eine Kundgebung und ein Festival mit Tausenden von Teilnehmer*innen durchgeführt.

An dieser Stelle wiederhole ich meine Frage: Von wem und woher kommt diese Haltung gegenüber Grup Yorum, die so hartnäckig ist, dass sie zu so vielen Hindernissen, widerrechtlichen Mitteln, Verschwörungen und Provokationen greift? Mit welcher Politik und aus welchen Gründen hat man sich Grup Yorum und diejenigen, die sie lieben, so angefeindet?

Und die eigentliche Frage lautet: Ist es ein Zufall, dass im gleichen Zeitraum in der Türkei der Faschismus Konzerte in letzter Minute verboten hat, Tausende von Zuhörer*innen von Grup Yorum, die durch das Singen von Grup Yorum-Liedern protestierten, auf jeder Straße mit Tränengas angegriffen wurden? Sind solche verschwörerischen Verhinderungsversuche nach deutschem Recht legal und legitim?

„Beziehungen zur Organisation“

Ich werde nun einen Satz verwenden, der Sie wahrscheinlich überraschen wird. Ich werde ihn sorgfältig erklären, damit er nicht falsch interpretiert wird:

„Ja, ich habe sowohl zu Dev-Sol als auch zu DHKP-C Beziehungen!“ Ich möchte Sie gleich warnen, vor allem die Staatsanwaltschaft, und falls es Richter*innen gibt, die mich als „kriminellen Terroristen“ abstempeln wollen, sollten sie nicht versuchen, dies als ein Schuldbekenntnis zu interpretieren. Denn die Beziehung, die ich jetzt beschreiben werde, hat nichts mit dem Umstand zu tun, der in dem Jargon dieser Verfahrensakte „Mitgliedschaft in einer illegalen terroristischen Organisation“ genannt wird.

Es ist 16 Jahre her, dass ich die Türkei verlassen habe (richtiger wäre es zu sagen: dass ich zum Exil gezwungen wurde). Aus diesem Grund verfüge ich nicht über das Wissen, um etwas über den aktuellen Stand vieler Details und der Situation zu sagen, die ich hier beschreiben werde. Während meiner Zeit dort (und wohl auch noch lange danach) war es jedoch recht einfach, Dev-Sol, DHKP-C, TKP-ML TIKKO, PKK, TKEP-L, MLKP, TKİP, TDKP und viele andere linksradikale Organisationen kennen zu lernen, die das faschistische Regime in der Türkei als terroristisch bezeichnet. Der Grund dafür war, dass viele legale Zeitungen und Zeitschriften herausgegeben wurden, die vorwiegend Nachrichten und Erklärungen einer bestimmten Organisation enthielten. Sie versuchten, ihre Publikationen weiterzuentwickeln und mehr Leserinnen zu gewinnen, indem sie in verschiedenen Großstädten oder in der ganzen Türkei legale Büros einrichteten, so weit sie konnten. Zu den Leserinnen dieser Zeitungen und Zeitschriften gehörten Menschen aus fast allen Berufen und Gesellschaftsschichten, die in Gewerkschaften, Vereinen, kulturellen Einrichtungen und Massenorganisationen mit Zehntausenden von Mitgliedern aktiv waren.

Die regelmäßige Lektüre einer Zeitschrift und die Organisierung von Aktivitäten, die denen ähneln, die in dieser Zeitschrift vorgeschlagen und diskutiert werden, kann nicht als Mitgliedschaft oder eine ähnliche organische Beziehung zu einer Organisation angesehen werden, über die die Zeitschrift berichtet und deren Erklärungen sie veröffentlicht und die der Staat als terroristische Organisation bezeichnet. Obwohl die Staatsanwältinnen der Sondergerichte und die Anti-Terror- Polizistinnen dies bei jeder Gelegenheit als solche behandelten und als abschreckende Drohung gegen Menschen einsetzten, die sich im legitimen Kampf für demokratische Rechte engagierten, konnte es meist nicht einmal vor den Gerichten aufrechterhalten werden.

Natürlich zögerten die Gerichte nicht, auf Wunsch der Staatsanwaltinnen Urteile gegen das Recht und sogar gegen das Gesetz zu fällen. Aber die Veröffentlichung dieser Zeitschriften und die Aktivitäten ihrer Leserinnen in allen Bereichen des Kampfes für demokratische Rechte und Freiheiten, zusammen mit Hunderttausenden von anderen, wurden auf legitime Weise fortgesetzt.

In einer Diskussion über Recht und Gesetz wurde eine Äußerung wie „das legale Organ einer illegalen Organisation“ als absurd angesehen. Eine solche Behauptung konnte nur dann akzeptiert werden, wenn eine direkte organische Beziehung zwischen dem Eigentümer oder den Mitarbeiterinnen der Zeitschrift und der Organisation und dazu noch die spezifische Verbindung zwischen dieser Beziehung und dem Organ ebenfalls nachgewiesen wurde. Von Zeit zu Zeit beantragten Pressestaatsanwältinnen bei Gericht die Schließung einer Zeitschrift oder einer Zeitung oder die Beschlagnahme einer ihrer Ausgaben. Und es kam dazu, dass die Gerichte solche Urteile fällten. Natürlich konnte die Pressetätigkeit mit einem neuen Publikationsorgan mit mehr Vorsicht fortgesetzt werden. Keine Anschuldigung konnte den legalen Charakter der Publikationen von der Welt schaffen.

In einem Land wie der Türkei, in dem es jeden Tag, jeden Augenblick antidemokratische Praktiken, Verletzungen von Rechten und Freiheiten, Übergriffe der Polizei, Massaker, Folter, Angriffe auf Demonstrationen und den Widerstand der Betroffenen gab, kannten sich die Organisationen, die demokratische Oppositionsgruppen waren, und die Aktivistinnen, die am demokratischen Kampf beteiligt waren, mehr oder weniger gut und waren miteinander solidarisch. Als ich zum Beispiel in der Türkei und draußen war, habe ich als Mitglied einer Musikgruppe, das überall und in jedem Umfeld versuchte, die Aktivitäten für demokratische Rechte und Freiheiten zu unterstützen, Revolutionärinnen und Demokratinnen kennengelernt, die Anhängerinnen und Leserinnen unterschiedlichster politischer Richtungen waren: Verlagsbesitzerinnen, Gewerkschafterinnen, Arbeiterinnen, Leiterinnen von Vereinsverbänden, Studentinnen, Künstlerinnen und so weiter, langer Rede kurzer Sinn Menschen aus allen möglichen Kreisen… Ich hatte auch enge Freundinnen, die als Journalist*innen in den Redaktionen der Zeitschriften arbeiteten. Einige von ihnen wurden schwer gefoltert und einige sogar getötet (zum Beispiel bei der Razzia in den Büros der Zeitung Özgür Gündem in Ankara).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Sie als jemand in der Türkei, der für die demokratischen Rechte und Freiheiten sensibilisiert ist, aus den Veröffentlichungen, in denen diese Themen diskutiert werden, und aus den umfassenden legalen Büchern, die von diversen Verlagen herausgegeben werden, fast zwangsläufig etwas über die Organisationen erfahren werden.

Ich muss auch ein sehr wichtiges kulturelles Prinzip erwähnen: Niemand fragte eine andere Person wegen der Zeitschrift, die sie las, nach ihren Beziehungen zu irgendeiner Organisation, und niemand sprach über dieses Thema. Konkret interessierte sich also niemand für die Beziehungen der anderen, sondern für ihre Beiträge zu den Aktivitäten im Hinblick auf den Demokratiekampf.

Dies war die allgemeine Atmosphäre, die draußen herrschte. Es gab aber auch die Gefängnisse.

Es kann sein, dass die Richterinnen in diesem Verfahren ebenso wie die Staatsanwältinnen Menschen, die von türkischen Gerichten wegen Mitgliedschaft oder Anführerschaft in einer Organisation verurteilt wurden und eine Zeit im Gefängnis verbracht haben, als unbestreitbar schuldig ansehen. Dennoch möchte ich Folgendes erklären.

Wenn Sie in der Türkei eine Dissidentin sind, wenn Sie Kritik üben, wenn Sie gegen Ungerechtigkeit kämpfen und wenn Sie trotz der ganzen Repression und der Drohungen nicht aufgeben, dann landen Sie auf jeden Fall irgendwann im Gefängnis, sowohl in der Vergangenheit als auch heute. Diese Tatsache hat sich seit den 1950er Jahren nicht geändert. Ich kann Dutzende von Menschen nennen, die wertvolle Werke in den Bereichen Kunst und Literatur geschaffen haben und ihr Leben in Gefängnissen verbracht haben. Diese Tatsache beschränkt sich nicht auf berühmte und einflussreiche Namen, sondern ist alltäglich und gilt für jeden, der sich an demokratischen Aktivitäten beteiligt.

Sie können bei polizeilichen Razzien bei irgendeiner legalen Veranstaltung festgenommen werden, während Sie in irgendeinem legalen Büro sitzen, wenn Sie zur Unterstützung irgendeines Streiks gehen, insbesondere bei Demonstrationen oder wenn Sie z.B. an den 1. Mai-Demonstrationen 1989 und in den darauffolgenden Jahren teilgenommen haben, manchmal auch bei Razzien in allen demokratischen Organisationen in der Woche vor dem 1. Mai, usw. Verhaftung und Folter, Demütigung und Einschüchterung gehen dabei Hand in Hand, manchmal mehr manchmal weniger. In den Augen der Polizei sind Sie ohnehin Mitglied einer terroristischen Organisation. Vor allem, wenn Sie gegen Folter, Demütigung und Drohungen Widerstand geleistet haben, sind Sie definitiv eine Terroristin!

Die Polizei wird die Staatsanwaltschaft entsprechend informieren. Die Staatsanwaltschaft kann Sie zur Verhaftung an das Gericht verweisen. In Ausnahmefällen können Richter*innen Ihre Verhaftung nicht genehmigen, wenn die Aktenlage für sie zu dünn ist. In den meisten Fällen werden Sie jedoch verhaftet. Manchmal können Sie auch verhaftet werden, wenn Sie sich dem Druck und der Demütigung durch die Polizei nicht widersetzen. Dies hängt nämlich nicht nur von Ihnen ab.

Bis zu meiner Verhaftung im Januar 1994 habe ich am demokratischen Kampf in der Türkei teilgenommen, insbesondere in Ankara, zunächst als Student mit meinen Büchern in der Hand, dann als Künstler mit meinem Saz in der Hand und meinen Genoss*innen aus unserer Band an meiner Seite.

Ich wurde viele Male von der Gendarmerie und der Polizei in Gewahrsam genommen, gefoltert und gedemütigt. In den allermeisten dieser Fälle hielt es die Staatsanwaltschaft nicht für nötig, Anklage zu erheben, und ich wurde freigelassen. Jedes Mal war der Zweck der Folter und Unterdrückung, mich zum Aufgeben zu zwingen. Mit anderen Worten, nicht um die Probleme zu lösen, sondern um den Kampf gegen Rechtsverletzungen zu verhindern, die durch diese Probleme entstanden sind, um diejenigen zu entmutigen, die sich wehren. Das ist das Dilemma aller unterdrückerischen Regierungen!

Wenn Sie nicht aufgegeben haben, bedeutet das, dass Sie nun an der Reihe sind. Ich war bis 1994 nicht verhaftet worden; ich wurde nun verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.

Die Struktur der Gefängnisse in der Türkei, die Unterbringung der Häftlinge und die Lebensbedingungen in den Gefängnissen wurden mit der Operation vom 19. bis 22. Dezember 2000 verändert. Vor diesem Datum gab es ein System großer Gemeinschaftszellen, in denen die Menschen zusammen untergebracht waren. Danach ging man zu Zellengefängnissen, so genannten F-Typ-Gefängnissen, über, in denen die Isolation im Vordergrund stand und Gefangene einzeln oder in kleinen Gruppen untergebracht sind.

Im System der Gemeinschaftszellen wurden die aus politischen Gründen Verhafteten und die wegen regulärer Straftaten Verhafteten getrennt untergebracht.

Als Sie das Gefängnis betraten, wurden Sie, dem entsprechend, was auf dem von der Polizei mitgebrachten Gerichtsdokument stand, untergebracht. Also wurden Sie in die Gemeinschaftszelle gebracht, in der die Gefangenen untergebracht waren, die im Zusammenhang mit derselben Organisation wie Sie vor Gericht standen. In dem für mich ausgestellten Dokument stand Dev-Sol, und nach verschiedenen Formalitäten wurde ich in die Gemeinschaftszelle gebracht, die man „Dev-Sol-Zelle“ nannte.

Wenn sich die Tür öffnet und Sie eintreten, werden Sie vielleicht auch Menschen antreffen, die Sie aus dem demokratischen Kampf draußen kennen. Natürlich konnte ich nicht jeden von ihnen kennen, aber sie kannten mich. Denn sie hatten von unseren Liedern Leidenschaft, Hoffnung und Rührung geschöpft.

Sie sind sehr erschöpft und schmutzig vom Polizeigewahrsam. Sofort sehen sich zwei Beauftragte Ihre Folterwunden an, waschen und säubern Sie sorgfältig, bereiten Kleidung vor und decken den Tisch für Sie.

In diesem Umfeld übernehmen alle Aufgaben, die sich von Zeit zu Zeit ändern, je nach den Lebensanforderungen, den Fähigkeiten, dem Wissen und den Wünschen des oder der Einzelnen. Sie nehmen an Arbeitsgruppen teil, die nach den Erfordernissen des kollektiven Lebens organisiert sind. Ich habe in all den Jahren, die ich im Gefängnis verbracht habe, an kulturellen und künstlerischen Aktivitäten teilgenommen und würde gerne ausführlich über das Leben in den Gemeinschaftszellen und später in den F-Typ-Gefängnissen sprechen, falls erforderlich. Aber hier möchte ich das Wesentliche betonen und an zwei äußerst wichtige Prinzipien erinnern.

Die Menschen, die sich in Gemeinschaftszellen befinden, in denen das kollektive Leben organisiert wird, sprechen kein Wort und stellen keine Fragen über die tatsächlichen Beziehungen der anderen zur Organisation. Die von der Polizei und der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwürfe haben weder Bedeutung noch Gewicht.

Lassen Sie mich noch eine zweite wichtige Information vermitteln: Unabhängig davon, in welcher Situation oder Beziehung sich eine Revolutionärin draußen befand, selbst wenn ersie Verbindungen zu einer Organisation hatte, wenn ersie ins Gefängnis kommt, ist seineihre Funktion als Mitglied einer Organisation vorbei, ersie versucht, als revolutionäre Person im Gefängnis zu leben, indem er*sie produziert und Widerstand leistet. Das ist historisch gesehen überall der Fall gewesen. Denn eine solche Beziehung ließe sich unter staatlicher Kontrolle nicht mehr aufrechterhalten.

Auch als ich 1996 in Istanbul verhaftet wurde, durchlief ich ein ähnliches Verfahren und wurde in die Gemeinschaftszelle gebracht, in der die Angeklagten im DHKP-C-Verfahren zusammen untergebracht waren.

Ich wiederhole: Ich habe 1994 zehneinhalb Monate im Ulucanlar-Gefängnis in Ankara verbracht. Ich habe viele Menschen getroffen, die wegen Mitgliedschaft in der Organisation DEV-SOL vor Gericht standen. Aber ich habe nie ein DEV-SOL-Mitglied getroffen.

Im Bayrampaşa-Gefängnis 1996 und später in den F-Typ-Gefängnissen habe ich Dutzende, ja Hunderte von Menschen getroffen, die wegen Mitgliedschaft in der Organisation DHKP-C vor Gericht standen. Einige wurden freigesprochen, andere wurden verurteilt. Ich habe aber nie ein Mitglied oder einen Kader der DHKP-C getroffen.

Ebenso habe ich in diesen Gefängnissen Dutzende von Personen kennengelernt, die wegen Mitgliedschaft in mindestens 10-15 verschiedenen Organisationen wie PKK, TIKKO, TKIP, TKEP-L usw. vor Gericht standen. Als wir in derselben Gemeinschaftszelle untergebracht waren, organisierten wir gemeinsame Aktivitäten. Wir schrieben und führten gemeinsam Theaterstücke auf. Wir gründete Chöre und Volkstanzgruppen. Und wenn der Staat uns mit Gendarmerie, Gefängniswärtern und Polizeikräften angriff, standen wir Schulter an Schulter, um uns gegenseitig zu schützen. Niemand hat jemals etwas erzählt oder Fragen gestellt über irgendjemandes Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation.

Unter den Hunderten von Revolutionärinnen, die ich kennen gelernt habe, nehmen diejenigen, die ich meine „Genossinnen“ nenne, mit denen ich ganz besondere Gefühle verbinde und an die ich sehr wertvolle Erinnerungen habe, einen besonderen Platz ein. Und viele von ihnen sind immer noch in der Türkei im Gefängnis.

Denjenigen, die wollen, dass ich meine Genoss*innen vergesse und mich von ihnen abwende, sage ich: Meine Verbundenheit mit ihnen wird bis zu meinem letzten Atemzug andauern.

Mein demokratischer Kampf, der mit der Gründung von Grup Ekin im Jahr 1988 begann, ereignete sich bis 2008 zum Teil draußen, zum größten Teil aber im Gefängnis. Ich wurde dreimal wegen Mitgliedschaft in einer Organisation in drei verschiedenen Fällen verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hat jedoch keine Informationen über den Inhalt dieser Akten verlangt. Das kann ich Ihnen sagen: Es gibt keinen einzigen konkreten Straftatbestand, keinen einzigen konkreten Beweis für eine Straftat, nicht einmal eine Anschuldigung, die sich auf eine Straftat bezöge.

Und insgesamt sechsunddreißig Jahre lang, einschließlich der Zeit, seit ich 2008 nach Europa gekommen bin, wurde mein gesamtes Leben von der Polizei und den Staatsanwaltschaften penibelst unter die Lupe genommen, ohne dass man irgendeinen Beweis gefunden hätte, der mich mit „Terrorismus“ in Verbindung bringen könnte.

Ein paar Worte zu den Vorwürfen und den Beweisen

Nachdem ich den Computer, auf dem die Ermittlungsakten geladen waren, und die Anklageschrift erhalten hatte, musste ich etwa eineinhalb Jahre lang ohne Deutschkenntnisse und mit einem Wörterbuch in der Hand die mehr als hunderttausend Seiten umfassenden Akten lesen. Neben den Akten früherer Verfahren wegen Mitgliedschaft in der DHKP-C wurden Polizeiberichte über die jahrelangen Überwachungen und Ermittlungen gegen mich, hunderte Seiten von Abhörprotokolle, elektronische Daten aus anderen Festnahmen, alles, was bei Hausdurchsuchungen sichergestellt wurde, usw. zusammengetragen. Hinzu kommen Hunderte von Zeitungsartikeln, Fotos und Videos, die aus offenen Quellen im Internet stammen. Aber bei all dieser Fülle gibt es nur sehr, sehr wenige Quellen oder Beweise, die mit den Vorwürfen in diesem Verfahren in Zusammenhang stehen.

Auf den Seiten 86-87 der Anklageschrift heißt es dazu eindeutig: „Die in dieser Anklageschrift erwähnte Kaderfunktion und sowie die Mitgliedschaft ergeben sich neben den Erklärungen im Internet, die die Beteiligung des Angeklagten an den Propagandaaktivitäten der DHKP-C-Vorfeldorganisationen belegen, vor allem aus der Auswertung der bei der Festnahme des Europa-Verantwortlichen der DHKP-C, Musa Aşoğlu, am 2. Dezember 2016 sichergestellten elektronischen Korrespondenz sowie aus den bei der Festnahme des lokalen Kaders Murat Aşık in Ulm im Dezember 2017 sichergestellten Unterlagen.“

Es gibt also drei Quellen: Nachrichtenartikel im Internet, die Musa Aşçıoğlu-Dokumente und die Murat Aşık-Dokumente. Bei alledem handelt es sich um digitale Daten. Mit anderen Worten, es handelt sich nicht um Quellen, die bei İhsan selbst, in seiner Wohnung, an seinem Arbeitsplatz oder an den Orten, die er besucht hat, sichergestellt worden sind. Es gibt also keine Quellen, die von den Tausenden von Daten stammen, die durch jahrelange Überwachung und Abhören der Telefonate İhsans gewonnen wurden. Und es gibt keine Quellen, die von einem Ertappen auf frischer Tat stammen oder konkrete Beweise für eine Straftat darstellen würden.

Lassen Sie mich hier eine Klammer aufmachen und eine Forderung stellen. Ich möchte die Laptops, alle Festplatten, alle Alben, alle Materialien, die bei der Hausdurchsuchung und bei mir beschlagnahmt wurden, zurückhaben. Denn Sie haben mein Filmarchiv, mein Bücherarchiv, mein Musikarchiv, meine Studioarbeiten, meine ganz speziellen Forschungsakten und die Akten aus dem Bereich meines Privatlebens beschlagnahmt, die ich in jahrelanger Arbeit angelegt hatte.

Und ich muss noch eine Frage stellen: Ist es nicht interessant, dass nicht eine einzige dieser Sachen, die mir gehören, als Beweismittel in der Anklageschrift auftaucht?

In der Anklageschrift bezieht man sich in dem Abschnitt über die DHKP-C vor allem auf ihre Satzung als Hauptquelle. Nur im fünften und sechsten Abschnitt der Anklageschrift taucht der Ausdruck „laut Satzung“ in mindestens drei Absätzen auf. Insgesamt wird auf verschiedene Weise betont, dass die Organisationsstruktur eine sehr strenge Hierarchie aufweisen und dass keine Angelegenheit, die nicht vom Zentralkomitee gebilligt wurde, für die Partei bindend sei und als zur Organisation gehörend betrachtet werden könne. Darüber hinaus wurden bei der Sitzung am 3. August 2023 ausgewählte Passagen aus den Beschlüssen des Gründungskongresses der DHKP-C verlesen, die die Vorwürfe stützen sollten. Die Abschnitte über die strenge hierarchische Struktur und die Mitgliedschaft in der Organisation, die Frau Seifner in ihrer Aussage hervorgehoben hatte, wurden jedoch nicht verlesen.

In der Anhörung vom 22.08.2024 äußerte sich die Staatsanwaltschaft ablehnend zum Antrag des Rechtsanwalts Yener Sözen, den Entwurf der Volksverfassung vor Gericht zu verlesen, um das Ziel der DHKP-C richtig verstehen zu können. Zur Begründung hieß es: „Es gibt keine Informationen, dass dieser Verfassungsentwurf von der DHKP-C stammt, dass er vom Zentralkomitee gebilligt wurde, es kann daher nicht bewiesen werden, dass er von der DHKP-C stammt.“

Auf den Seiten 32-33 der Anklageschrift wird ein Auszug aus der Satzung der DHKP-C wie folgt zitiert: „Für die Aufnahme in die Partei sind laut Satzung die Empfehlung von zwei Parteimitgliedern und die Zustimmung des Zentralkomitees sowie die Bereitschaft zur bedingungslosen Erfüllung jeder Aufgabe gemäß den Anweisungen erforderlich. Wer als Mitglied aufgenommen wird, legt einen Eid auf die Partei ab. Mit der Empfehlung von zwei weiteren Frontmitgliedern und der Zustimmung des Parteikomitees der jeweiligen Region kann man Mitglied der Front werden.“

Ich habe in den vierzehn Jahren, die ich in Europa verbracht habe, immer offene und demokratische Aktivitäten durchgeführt. Wurde also ein solches Verfahren zwischen 2015 und 2017 mit Zustimmung des Zentralkomitees und auf Vorschlag von zwei Mitgliedern durchgeführt? Gibt es darüber irgendwelche Informationen? Wenn es keine derartigen Informationen gibt, warum hat die Staatsanwaltschaft nicht erwogen, die Klage fallen zu lassen?

Sind die Quellen und Informationen als verwertbar für die Anklage, aber nicht verwertbar für die Wahrheitsfindung und einen Freispruch zu betrachten? Ist diese Widersprüchlichkeit nicht interessant?

Schon ein Blick auf die Behauptungen in der Anklageschrift zur Position von İhsan in der Organisationshierarchie genügt, um die Ungereimtheiten zu erkennen.

Die Behauptung auf Seite 9 lautet wie folgt: „Er hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Arbeit der Gebietsverantwortlichen im südlichen Raum sowie auf die Arbeit der anderen Kader und Aktivistinnen in seinem Verantwortungsbereich. Er stand in regelmäßigem persönlichem Kontakt mit ihnen, koordinierte die Arbeit, gab ihnen Anweisungen und hielt sie über die Entwicklungen im Raum und in den anderen Gebieten auf dem Laufenden.“ Daraus wird deutlich, dass der Angeklagte ein Leiter gewesen sein soll. Ihm unterstehen die Gebietsverantwortlichen. Danach kommen die Aktivistinnen. Er gibt ihnen alle Anweisungen und erhält von ihnen Informationen.

Auf Seite 10 heißt es wiederum (Absatz 3): „Der Angeklagte […] war auch auf der Ebene des Deutschlandkomitees, dem höchsten Entscheidungsgremium in Deutschland, tätig.“

In den Hunderten von Seiten der Ermittlungsakten wird im Zusammenhang mit der Organisationshierarchie der Begriff „Deutschland-Verantwortlicher“ erwähnt, während der des „Deutschland- Komitees“ nirgendwo vorkommt. Die Staatsanwaltschaft und die Verfasser*innen des Berichts müssen das, was sie als „Vierersitzung“ bezeichnen, mit ihrer eigenen Interpretation versehen und ihm die Funktion eines Leitungs- und Entscheidungsorgans zugeschrieben haben. Dies ist jedoch inkonsequent, irreführend und übertrieben.

Eine weitere Darstellung auf Seite 10 lautet wie folgt (Absatz 4): „Darüber hinaus war der Angeklagte Cibelik als perspektivischer Kader für die Erweiterung des Europa- Komitees angedacht […], was sich aber letztlich nicht verwirklichte.“

Der letzte Teil ist wichtig: „angedacht, aber nicht verwirklicht“. Welche Worte werden verwendet, während dieser nicht verwirklichte Zustand übertrieben dargestellt und in den folgenden Abschnitten der Anklageschrift wiederholt wird?

Seite 93, letzter Absatz: „[…] nach den sichergestellten elektronischen Dokumenten war der Angeklagte aus Sicht der Europa-Leitung ein so wichtiger Kader, dass er sogar als gebietsübergreifender Leiter für die Organisation eingesetzt werden sollte.“

„Er war ein so wichtiger Kader!“

Handelt es sich bei diesen Aussagen nicht um übertriebene Behauptungen, die aus Unbehagen über das Fehlen einer konkreten Straftat und handfester Beweise gemacht werden, um das Recht zu missachten und das Gericht in die Irre zu führen?

Ich möchte noch eine wichtige Frage stellen: Diese Person, also der Führungskader, der den Gebietsverantwortlichen und Aktivistinnen Anweisungen gegeben habe, der sehr wichtige Kader, der auch Mitglied des „Deutschland-Komitees“ gewesen und sogar für das Europa-Komitee in Betracht gezogen worden sei, hat keinen einzigen Bericht, keine einzige Übermittlung einer Information von so vielen ihm unterstellten Verantwortlichen, Aktivistinnen, Gebietsverantwortlichen usw. erhalten! Selbst von Murat Aşık, der Quelle der Anklageschrift, hat die Staatsanwaltschaft keine solche konkrete Korrespondenz vorzuweisen. Kommt Ihnen das nicht seltsam vor, ist es nicht interessant?

Ich habe mir auch Notizen zu zwei Erklärungen der DHKP-C gemacht, auf die ich in den Akten gestoßen bin, die Sie wahrscheinlich auch schon kennen und auf die sich die Staatsanwaltschaft häufig bezieht: In einer Erklärung aus dem Jahr 2002 heißt es: „Es gibt keine Mitglieder der Organisation in Europa.“ In einer anderen Erklärung aus dem Jahr 2003 ist die Rede von einem Beschluss, dass in Europa keine Gewalt angewendet werden solle. Sie kamen zwar während des Prozesses nie zur Sprache, aber wenn die Staatsanwaltschaft sich auf die Erklärungen der Organisation bezieht, sind diese beiden dann nicht ebenfalls relevant?

In vielen Polizeiberichten, die die Grundlage der Anklageschrift bilden, heißt es, dass die von mir benutzten Telefonanschlüsse auf Namen anderer Personen liefen und dass dies Teil der Klandestinitätsmaßnahmen der Organisation sei. Sie wurden jahrelang abgehört, und die Gespräche wurden zu den Akten gelegt, um sie in das Verfahren einzubeziehen, aber da keine Grundlage für andere Straftaten außer demokratischen und legalen Aktivitäten und menschlichen Beziehungen gefunden werden konnte, wurde die Tatsache hervorgehoben, dass meine Telefonanschlüsse auf Namen anderer Personen liefen. Dies ist jedoch ein ganz gewöhnlicher Umstand. Wenn hunderttausende Menschen in einem Telefonladen/Internetcafé in der Nähe irgendeines großen Bahnhofs nach einer „Prepaid-Karte“ fragen, erhalten sie sofort eine solche. Da ich bis zur Heirat mit meiner Frau keinen festen Wohnsitz in Deutschland hatte, nutzte ich diese Gelegenheit, um viele bürokratische Verfahren zu vermeiden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Staatsanwaltschaft und vor allem die Polizei dies nicht wussten. Ist dann das Beharren darauf, dass es sich dabei um eine Frage der Klandestinität handele, nicht eine Übertreibung und Irreführung, um die unzureichenden Beweise zu vertuschen? Ist es nicht interessant, dass sogar dies notwendig ist?

Am Ende der ganzen Informationen und Korrespondenz über Menschenhandel auf den Seiten 118-124 der Anklageschrift gibt es nicht einmal eine Antwort auf die Frage, ob der Angeklagte an dieser Tat beteiligt war oder ob diese Tat überhaupt stattgefunden hat. Kann eine Person für eine Straftat angeklagt und bestraft werden, für die noch nicht einmal nachgewiesen wurde, dass sie stattgefunden hat? Ist dies nicht ein Versuch, das Gesetz auszudehnen und dadurch das Gericht in die Irre zu führen?

Im Falle von Celal Semiz, der mit einer Trauerfeier des Vereins in Stuttgart verabschiedet wurde, wird die Formulierung „Trauerfeier für das DHKP-C-Mitglied Celal Semiz“ verwendet. In dem Abschnitt über die Trauerfeier von Birsen Kars, deren Videomaterial ebenfalls der Akte beigefügt wurde, wird Birsen Kars ebenfalls als DHKP-C-Mitglied bezeichnet. Obwohl der Faschismus in der Türkei diese Menschen zu Gefängnisstrafen verurteilt hat, wurde ihnen gerade deshalb politisches Asyl gewährt. Weder in Deutschland noch in einem anderen Land in Europa gibt es eine Verurteilung dieser Menschendurch ein Gericht. Ist der Ausdruck „Mitgliedschaft in einer illegalen terroristischen Organisation“ nicht eine Vorverurteilung durch die Staatsanwaltschaft und die Verfasser*innen des Berichts, die sich sogar über die Justiz stellen?

Ihsan nahm im selben Verein auch an der Trauerfeier für den ehemaligen Präsidenten Kasım Abi teil. Er nahm auch an der Trauerfeier für seinen guten Freund Zeynel Kaya in Darmstadt und an zahlreichen anderen Trauerfeiern teil und half bei deren Organisation. Darüber hinaus nahm er an Dutzenden von Hochzeiten teil und machte Dutzende von Krankenbesuchen. Ist die Vorgehensweise in der Anklageschrift, die mit der Terrorisierung des legalen Vereins beginnt, die Menschen, deren Trauerfeiern abgehalten wurden, direkt der Mitgliedschaft in einer Organisation und des Terrorismus beschuldigt und sowohl die Veranstaltung als auch die Teilnehmer*innen terrorisiert, um sie für schuldig zu erklären, nicht vorverurteilend?

In der Anklageschrift werden von den Hunderten von Veranstaltungen, an denen ich von 2017 bis heute teilgenommen habe, fünfundzwanzig einzeln aufgeführt. Und schauen Sie, wie es dort heißt (Seite 134): „Schließlich war der Angeklagte von Mitte 2017 bis zu seiner Verhaftung weiterhin als Mitglied der Organisation innerhalb der DHKP-C-Strukturen in Deutschland und Westeuropa aktiv. Es liegen jedoch keine konkreten Informationen darüber vor, welche konkrete Kaderfunktion der Angeklagte in dem fraglichen Zeitraum innehatte.“

Mit anderen Worten, er ist Mitglied der Organisation und aktiv, aber wir kennen seine konkrete Aufgabe nicht! Ist diese Aussage nicht sehr eindeutig? Es gibt keine Informationen, aber das Urteil der Staatsanwaltschaft steht schon fest. Es handelt sich also nicht um eine Vermutung, nicht um eine Möglichkeit, sondern definitiv um eine weiterbestehende Mitgliedschaft. Meinen Sie nicht auch, dass dies bedeutet, dass man so voreingenommen ist, dass man das Recht und alle Menschen verhöhnt?

Und wieder eine Anregung und eine Frage: Lesen Sie noch einmal die fünfundzwanzig aufgelisteten Veranstaltungen, die sorgfältig aus offenen Quellen im Internet ausgewählt wurden. Denken Sie über sie nach und lassen Sie den Stempel „Tätigkeit hinter der Front“ oder „Terrorismus“ weg. Jede*r wird zustimmen, dass es sich dabei um demokratische, legitime, gerechtfertigte und sehr positive Aktivitäten handelt.

Ich hätte noch Hunderte von Aspekten aufzählen können, die die Ungereimtheiten und Rechtswidrigkeiten in der Anklageschrift und in den Verfahrensakten betreffen. Ich hätte noch weitere Aspekte aufzählen können, die nichts mit Recht und Gesetz zu tun haben, von den Bemühungen, Beweise für Straftaten in Briefen, die ich geschrieben habe und die an mich gerichtet waren, zu erbringen, bis hin zu dem Unbehagen darüber, dass ich bei meinen Ausführungen vor Gericht meine Identität als revolutionärer Künstler zum Ausdruck gebracht habe und dies als Indiz für den Vorwurf des „Terrorismus“ gewertet wurde.

Ich glaube aber, dass das Muster, von dem ich immer wieder gesprochen habe, jetzt viel deutlicher und klarer geworden ist.

Der Faschismus in der Türkei sagt: „Er ist ein Terrorist, halten Sie ihn auf“. In Deutschland wird die Bundesanwaltschaft aktiv. Sie versucht Informationen zu sortieren und zu sammeln. Sie erstellt eine Akte mit dem, was sie gesammelt hat, indem sie es so verdreht, wie es ihr nützlich ist, so dass es in das Muster passt. Mit einer politischen Entscheidung will man ein politisches Urteil fällen, indem man das Recht instrumentalisiert.

Wir sagen, dass unter dem Begriff „Propaganda“ keine Straftatbestände geschaffen werden können. Wir sagen, dass der legale Status von legalen Veranstaltungen, Aktionen und Vereinigungen nicht zunichte gemacht werden kann, indem diese mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden. Die Staatsanwaltschaft könnte dann sagen: „Wenn wir entsprechend vorgingen, hätten wir nichts Belastendes mehr in der Hand.“ Sie können sich sofort umsehen und mit der Beantwortung einiger weniger Fragen finden, was sie suchen. Zum Beispiel, indem Sie sich die Nazi-Organisationen und ihre Aktivitäten ansehen. Ich brauche Sie nur an Hanau zu erinnern. Es ist leicht zu erkennen, welche politisch motivierten Gewalttaten und Vorbereitungen darauf abzielen, dem Grundgesetz, der Gesellschaftsordnung Deutschlands und seinen Bürgern zu schaden.

Ich schließe dieses Thema mit einem Hinweis auf den fünften Artikel des Grundgesetzes zur Presse- und Meinungsfreiheit: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“

Meine Forderungen

Ausgehend von all dem, was ich Ihnen erklärt habe,

fordere ich meinen Freispruch sowie den meiner Freundinnen verlange ich die Wiederherstellung aller meiner Rechte, die durch das Gerichtsverfahren in dieser Sache vorübergehend oder dauerhaft eingeschränkt worden sind und die ich mir mit großen Anstrengungen erkämpfen hatte fordere ich die Aufhebung der Verwaltungsstrafen, die über die Justiz hinausgehen, wie zum Beispiel das Einreiseverbot für Deutschland Ich möchte alle Werkzeuge und Materialien, die aus unserem Haus mitgenommen und beschlagnahmt wurden und mit denen ich mich als revolutionärer Künstler und sensibler Mensch verwirkliche, in vollem Umfang zurück. Bevor ich es vergesse, habe ich noch eine Forderung in Bezug auf die Gefängnisse. Das Justizministerium und das Gesundheitsministerium scheinen vergessen zu haben, dass es Menschen in Gefängnissen gibt, deren Gesundheit sie schützen müssen. Die Gesundheitsversorgung in den Gefängnissen muss dringend von Grund auf überprüft und in Richtung einer wirksamen Behandlung verändert werden. Ich bitte Ihr Gericht, alles in seiner Macht Stehende dafür zu tun. Zweieinhalb Jahre sind vergangen. Sie können mir keine einzige Sekunde davon zurückgeben, das weiß ich. Meine Gesundheit, die ich in dieser Zeit nicht unter Kontrolle hatte, die sich verschlechterte, so dass ich schließlich krebskrank wurde und operiert werden musste, können Sie mir auch nicht zurückgeben. Aber ich wünschte doch, ich könnte sagen, dass ich auch meine Prostata zurückhaben will, die noch nicht an Krebs erkrankt ist, denn auch das wäre mein Recht … Der Polizeibeamte, der hier als Zeuge auftrat und an dessen Namen ich mich nicht sicher erinnere, hat es auch erzählt. Als sie mich in Gewahrsam nahmen, fragte er mich, während wir in unsere Wohnung gingen: Haben Sie Waffen oder Sprengstoff zu Hause? Ich sagte: Ja, ich werde es Ihnen zeigen. Wir gingen in die Wohnung und ich führte die Polizistinnen in ein Zimmer. Sie öffneten vorsichtig die Tür und sahen meine Saz, Gitarre, Klarinette, Percussioninstrumente, Bücher, Grup Yorum-Tücher und Alben an den Wänden, auf dem Boden und in den Regalen… Sie lachten. Ich will sofort in jenes Zimmer zurückkehren. Ich will zu der Arbeit zurückkehren, die wir mit jenen Instrumenten und Büchern gemacht haben, ich will zu meinen Genoss*innen zurückkehren.
Ein letzter Satz: Revolutionär zu sein ist kein Verbrechen, sondern eine ehrenvolle Aufgabe. Revolutionäre Kunst verschönert die Welt!

P.S. Özgül Emre wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf, Ihsan Çibelik zu vier Jahren und vier Monaten und Serkan Küpeli zu drei Jahren und drei Monaten verurteilt.