Achter Tag im Prozess gegen Latife
Das Oberlandgericht Düsseldorf, an diesem Prozesstag in strömenden Regen, sieht trostlos, grau und menschenfeindlich aus. Nicht einmal mehr Brombeeren an den Hecken links und rechts des Zuwegs hin zu den Gittern des Eingangs, hinter dessen Drehkreuzen Angeklagte, Rechtanwälte und ProzessbeobachterInnen in dem sterilen Bau verschwinden und von hier ab auf Gedeih und Verderb den Justizbeamten ausgeliefert sind, weil alle Schleusen und Drehtüren sich nur öffnen, wenn diese bereits sind, die entsprechenden Knöpfe und Hebel zu betätigen.
Zweiter Anwalt und eine für die Öffentlichkeit unfreundliche Ankündigung
Zweierlei hat sich nach der dreiwöchigen Prozesspause geändert: Zum einen wird Latife ab jetzt von zwei Anwälten begleitet. Zusätzlich zu Rechtsanwalt Roland Meister wird sie nun auch von Yener Sözen aus Remscheid verteidigt.
Zum anderen sind nun hinter dem Richterpult mehrere Papieraktenordner in Reihe und Glied aufgebaut. Wie wir erfahren, handelt es sich um die Akten aus dem Strukturverfahren, die inzwischen vom Generalbundesanwalt geschickt worden sind. Diese sind wohl noch ergänzt worden um den letzten Anschläge der DHKP-C von Ende März diesen Jahres: Ein Angriff auf ein AKP-Büro; die Geiselnahme des Staatsanwalts, der zum Tod Berkin Elvans ermittelte und durch Polizeischüsse getötet wurde, und ein versuchter Anschlag auf das Polizeihauptquartier am 1. April, bei dem die Angreiferin erschossen wurde, bevor sie selbst jemanden verletzt oder getötet hatte.
Leider muss das Publikum erfahren, dass es über den Inhalt dieser Akten im weiteren Prozessverlauf nur noch sehr wenig Einzelheiten erfahren wird. Der Vorsitzende Richter Dr. Schreiber erläutert nämlich nun das so genannte Selbstleseverfahren, das für die restlichen Prozesstage vorgesehen ist. Das bedeutet, dass in den Akten vorliegende schriftliche Beweismittel, die ins Verfahren eingeführt werden, nicht mehr im Gerichtssaal laut verlesen werden, sondern dass die Prozessbeteiligten diese Unterlagen in der Vorbereitung auf die Prozesstage jeweils für sich selbst durchlesen.
Da die Strukturakte – wie alles andere – selbstredend nicht öffentlich zugänglich ist, bedeutet das, dass die Zuschauer*innen bestenfalls noch erahnen können, worüber die Prozessbeteiligten – Richter, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und natürlich Latife selbst – eigentlich reden. Es wird dann jeweils nur noch auf das entsprechende Aktenzeichen Bezug genommen. Mit ein bisschen Glück erfährt man als Nicht-Prozessbeteiligte® dann noch, ob es sich um ein Partei-Gründungsprotokoll, eine Anschlagserklärung, einen Zeitungsartikel oder einen Behördenvermerk handelt. Ansonsten bleibt es bei einem kryptisches Zahlenspiel und dem Zuruf von Chiffres, was logischerweise nur von Eingeweihten – den “Selbstlesenden” verstanden werden kann.
Gut möglich, dass der Grund dafür gar nicht ist, die Öffentlichkeit auszuschließen. Möglich, dass es gar nicht die Sorge ist, durch ein ausführliches Erörtern der vielen Absurditäten in diesem §129b-Verfahren die Absurdität des gesamten Konstrukts des §129b offenzulegen. Möglich, dass es tatsächlich darum geht, einfach allen Prozessbeteiligten Zeit zu sparen und den Prozess überhaupt handhabbar zu machen. Möglich, dass es gar nicht möglich wäre, sämtliche Beweise, die in der zig-tausend Seiten starken Strukturakte zu finden sind, öffentlich vorzutragen. Möglich, dass dann nicht zwanzig, sondern hundert Prozesstage erforderlich wären.
Tatsache ist aber, dass das so genannte Selbstleseverfahren faktisch der Ausschluss der Prozessöffentlichkeit aus einem öffentlichen Verfahren ist. Diese, durch Hochsicherheit, Eingangsschleusen und Personalienfeststellung ohnehin schon gebeutelte Öffentlichkeit ist damit der Möglichkeit beraubt, sich selbst eine Meinung über Evidenz und Aussagekraft von Beweismitteln zu bilden. Und es ist eine Tatsache, dass sich bei dem §129b-Verfahren gegen Mehmet Demir, der in Hamburg vor wenigen Tagen zu drei Jahren Haft wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft verurteilt worden war, dasselbe „Selbstleseverfahren“ angewendet wurde, was dort heftig kritisiert wurde, weil es „die Dynamik der Verteidigung“ blockierte und die Öffentlichkeit ausschloss.
Da letzterer (der Öffentlichkeit) aber vor Gericht bekanntlich kein Antragsrecht zusteht, musste sie sich damit zufrieden geben zu erfahren, dass es bei den nächsten Prozesstagen u.a. um Folgendes gehen soll: Um das Gründungsprotokoll, Satzung und Parteiprogramm der DHKP-C, um diverse Erklärungen von 1994 bis 2013, u.a. zum Tod von Dursun Karataş, um die Verbotsverfügung der Dev-Sol bzw. DHKP-C, um zwei Vermerke des BKA von 2007 und 2009 und einige Artikel aus der Yürüyüş. Außerdem sollen einige Erkenntnisse oder Recherchen zur Anatolischen Föderation einfließen, die allesamt Internetpublikationen, Forumsbeiträgen sowie der Zeitung Yürüyüṣ entnommen sind. So etwa Berichte über Gedenkveranstaltungen oder das internationale Jugendcamp der Föderation. Latifes Anwälte haben aber während der nächsten Prozesstermine noch die Möglichkeit, Widerspruch gegen die Verwertung einzelner Beweise einzulegen.
Kindertagesstätte als Terrorschule?
Unerwartet hörten die Zuschauer*innen an diesem Prozesstag noch einen Zeugen, von dem niemand etwas gewusst hatte: Ein Rentner, Mitte siebzig, etwas schwerhörig und nicht mehr so gut zu Fuß, der sich als der frühere Vermieter der Büroräume der Anatolischen Föderation auf dem Wuppertaler Ölberg herausstellte. Er hatte ganz offensichtlich keinen blassen Schimmer, worum es sich bei diesem Verfahren drehte und warum er nun so weit fahren musste, um zu etwas so Banalem wie der Vermietung eines Ladenlokals auszusagen.
Aber auch, als der Vorsitzende Richter ihn über den Terrorismusvorwurf gegen Latife aufzuklären versuchte, wirkt der ältere Herr nicht im mindesten erschüttert. Vielmehr schien er sich nun erst recht zu fragen, was das ganze Spektakel eigentlich soll. Sogar der Mietvertrag und der Grundriss des Lokals werden auf die Leinwand projiziert. Als die Technik zuerst nicht so richtig will, witzelt der Richter – der an diesem Tag offenbar ‚n Clown gefrühstückt hatte – „Die Technik funktioniert wieder nicht, deshalb nehmen wir hier auch noch keinen Eintritt.“
Der Mietvertrag von 2010 war für die Nutzung als Kindertagesstätte ausgestellt gewesen und über Vermittlung einer Quartiersmanagerin zustande gekommen. Die Miete hatte Latife, die als Vereinsvorsitzende seine Mietvertragspartnerin war, in bar bezahlt. Das sei für ihn kein Problem gewesen sei, weil er regelmäßig bei ihrem Kiosk vorbeifuhr; er habe dann immer eine Quittung ausgestellt. Ansonsten sei es für ihn ein ganz normales Mietverhältnis gewesen, er habe keinen Einblick gehabt in das, was im Vereinslokal vor sich ging… spielende Kinder seien dort allerdings tatsächlich oft gewesen.
Offensichtlich hatte die Staatsanwaltschaft vor, das Mietverhältnis, die Zweckbestimmung „Kindertagesstätte“ und die Barzahlung als konspiratives Verhalten erscheinen zu lassen. Da aber auf Nachfrage des Rechtsanwalts deutlich wurde, dass der Vermieter selbst – bzw. sein Sohn – den Mietvertrag handschriftlich ausgefüllt hatte und das Ladenlokal auch zuvor schon als Kita genutzt worden war, wurde auch offensichtlich, wie das mit dem Vertrag zustande gekommen war: Ein Vermieter, der sich außer für die regelmäßige Mietzahlung nicht für viel interessiert und dann, als seine künftige Mieterin den Zweck des Vereins erklären will, einfach sagt „Na dann schreiben wir eben Kindertagesstätte rein“.
Nach diesen erbaulichen Einblicken in das Innenleben eines Terrorvereins werden sich Zuhörer*innen für die nächsten Prozesstage wegen des Selbstleseverfahrens darauf einstellen müssen, weitgehend Nichtssagendes zu kryptischen und unbekannten Beweismitteln zu hören. Es bleibt zu hoffen, dass hier weiterhin interessant vom Verlauf des Verfahrens berichtet werden kann. Mehr als die Hälfte des Verfahrens ist jetzt um – das Urteil soll, soweit nicht viele neue Beweisanträge hinzukommen, Mitte Oktober verkündet werden.