STAATSGEWALT:Kesseltreiben in Leipzig

Großaufgebot der Polizei gegen Demo nach »Antifa-Ost«-Urteil. Rund 1.000 Menschen bis zu elf Stunden eingekesselt. Linke-Fraktion will Sondersitzung

Trotz eines weitreichenden Versammlungsverbots haben am Sonnabend in Leipzig zahlreiche Menschen gegen die Urteile im sogenannten Antifa-Ost-Prozess und für Versammlungsfreiheit demonstriert. Dabei kam es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Sie hielt rund tausend Demonstranten zum Teil bis in die frühen Morgenstunden in einem Kessel fest. Im Stadtteil Connewitz wurden Barrikaden aus Baumaterial und Mülltonnen entzündet.

Linke Gruppen hatten zum »Tag X« aufgerufen, nachdem das Oberlandesgericht Dresden am Mittwoch die wegen Angriffen auf Neonazis und Bildung einer »kriminellen Vereinigung« angeklagte Antifaschistin Lina E. und ihre drei Mitangeklagten zu Haftstrafen bis zu fünf Jahren verurteilt hatte. Das Gericht hatte sich in dem Indizienprozess wesentlich auf Aussagen eines als Kronzeuge der Anklage aufgetretenen ehemaligen Mitstreiters von E. gestützt.

Auftakt zum Geschehen am Sonnabend waren kleinere Auseinandersetzungen am Freitag zwischen Protestierenden und der Polizei. Dabei wurden fünf Personen wegen schweren Landfriedensbruchs in Untersuchungshaft genommen. Der große Protest zum »Tag X« begann mit einer von einem Stadtrat von Bündnis 90/Die Grünen angemeldeten Demonstration gegen das Versammlungsverbot. Der Protestzug durfte jedoch nicht loslaufen. Laut Polizei waren die erschienen 1.500 Teilnehmer zu viele, angemeldet gewesen seien 100.

Die Polizei baute sich martialisch mit Schilden und Pfefferspraywerfern um die Kundgebung herum auf. Nach einer Stunde flogen erste Knallkörper, Farbbeutel und auch ein Brandsatz in Richtung der Einsatzfahrzeuge. Polizeizüge begannen die Demonstranten zwischen sich herzutreiben. Anscheinend aufs Geratewohl wurden laut Polizei 1.000 Personen – darunter auch Kinder – in der Mitte des Platzes zusammengetrieben. An den Zufahrtsstraßen waren zwei Räumpanzer und zehn Wasserwerfer aufgefahren. Den Eingekesselten werde schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen, so die Polizei. Identitätsfeststellungen begannen erst nach drei Stunden. Die Versorgung der Betroffenen mit Wasser, Nahrung und Decken wurde lange blockiert und Versorgungsaufgaben wurden fast völlig auf Demosanitäter abgewälzt.

In dem Kessel verschlimmerte sich die Lage durch das brachiale Vorgehen der Polizeieinheiten. Einzelne Personen wurden aus dem Kessel gegriffen, wobei jeweils Dutzende Polizisten in die Menge stürmten und auf sie einschlugen. Immer wieder waren Rufe nach Sanitätern zu hören. Erst am Sonntag kurz nach fünf Uhr früh war der Kessel leer. Laut Polizeiangaben gab es fast 30 Festnahmen, bei denen Haftanträge geprüft werden. Zudem wurden zwischen 40 und 50 Personen vorübergehend in Gewahrsam genommen.

Die insgesamt elf Stunden dauernde Einkesselung nahm die Linke-Fraktion im sächsischen Landtag am Sonntag zum Anlass, eine Sondersitzung des Innenausschusses zu beantragen. Das werde an diesem Montag erfolgen, teilte die innenpolitische Sprecherin Kerstin Köditz per Twitter mit. »Die Herstellung menschenunwürdiger Bedingungen ist weder verhältnismäßig noch ein Beitrag zur Deeskalation«, erklärte sie in Dresden. Der sächsische SPD-Innenpolitiker Albrecht Pallas, von Beruf Kriminalbeamter, warf der Polizeiführung am Sonntag eine »provozierende Herangehensweise« vor. Seine Parteikollegin Nancy Faeser verurteilte die »linksextremistischen Ausschreitungen«. Warme Worte fand sie nur für die Einsatzkräfte.

Junge Welt 5.6.23