Als im November 2011 die Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« an die Öffentlichkeit kam, sahen bürgerliche Kommentare darin »die größte Schande der Republik seit ihrem Bestehen« (Minkmar, s.u.); einige linke Zeitschriften wie ak und AIB sahen ein »Versagen« der Geheimdienste. Die bürgerliche Interpretation ist radikaler (sie sieht das Übel bei Regierung und Staat). Wie wäre die hilflose linke Kritik zu überwinden, die den Geheimdienst »demokratisieren« – oder sogar abschaffen – will und auf staatliches Durchgreifen gegen Nazis setzt?
Kurzfassung des Artikels in der Wildcat 92 / Frühjahr 2012
Immer schärfer geht die EU gegen grenzüberschreitende linke Bewegungen vor. Beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm waren britische Bullen als Spitzel unterwegs, beim G8-Gipfel 2005 in Gleneagles waren deutsche Bullen als Agent Provocateurs tätig geworden. Laut BKA-Chef Ziercke müsste das BKA vermehrt »international und konspirativ« agieren, weil sich die »Anarchoszene« europäisiert habe und »schwerste Straftaten« begehe. Im April 2012 organisiert Europol eine Konferenz zu anarchistischen Bewegungen in der Europäischen Union. (www.heise.de)
Pannen? …
Die Mordserie war nur mit behördlicher Deckung möglich. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass zehn Morde nacheinander nicht aufgeklärt werden, liegt bei 0 – dazu kamen mehr als ein Dutzend Banküberfälle und einige Sprengstoffanschläge. Es ist auch eine Lüge im Nachhinein, dass niemand den inhaltlichen Zusammenhang der Mordserie verstanden hätte. Die Nazis haben ihn im Song Döner-Killer selber ganz öffentlich herausgegröhlt. Angehörige haben Trauerdemos organisiert, nach dem neunten Mord mit dem Leittranspi »kein 10. Opfer!« Drittens gab es sogar einige wenige Polizeibeamte, die in Richtung Nazis ermitteln wollten; sie wurden rausgemobbt oder psychiatrisiert.
Immer wieder wurde verlautbart, es gäbe definitiv keinen ausländerfeindlichen Hintergrund. Zur Nagelbombe im Juni 2004 in Köln erklärte der damalige Innenminister Schily sofort, es gäbe Hinweise auf ein »kriminelles Milieu«. Damals lief gerade die Hetze über die Gefährlichkeit des Islam – Schily: »Wer den Tod liebt, der kann ihn haben!« –, da musste alles getan werden, um den Zusammenhang zwischen Regierungshetze und Faschoterror nicht publik werden zu lassen.
… abgetaucht? …
Der Verfassungsschutz wusste seit Herbst 1997, dass die drei Thüringer Nazis Bomben bauten. Am 26. Januar 1998 rückte das LKA mit Durchsuchungsbeschluss für drei Garagen an. Der Professorensohn Uwe Böhnhardt – auf freiem Fuß, obwohl mehrfach rechtskräftig verurteilt – fuhr nach dem Öffnen der ersten Garage mit dem Auto weg. In der dritten Garage wurden kurz danach vier Rohrbomben und 1,4 kg TNT gefunden, die höchstwahrscheinlich zu den 38 kg TNT gehören, die 1991 aus einem Bundeswehr-Depot geklaut worden waren (das gleiche TNT wurde beim Nagelbombenanschlag in Köln 2004 verwendet). Danach blieben die drei fast vierzehn Jahre lang angeblich unauffindbar.
Nils Minkmar schrieb in einem lesenswerten Artikel in der FAZ zu ihrem angeblichen »Abtauchen«: » Sie tauchten nicht besonders tief. Es war mehr so ein Schnorcheln, ein Untertauchen in der Badewanne: Sie pflegten ein soziales Leben in Zwickau, unterhielten Kontakte zu einem weiten Unterstützerkreis und besuchten Demonstrationen, Konzerte und Veranstaltungen. Viele wussten, wo die drei waren. Und wenn die rechte Szene in Deutschland ein Problem hat, dann sicher nicht jenes, allzu opak und abgeschottet zu agieren, sondern in hohem Maße von V-Leuten durchsetzt zu sein. »Hauptsache, es macht Peng«!
Das Trio agierte in einem terroristischen Netzwerk, das offensichtlich an Auswahl, Vorbereitung und Durchführung der Morde beteiligt war. Ob lokale Nazigruppen die Opfer ausspähten und nachher die Killer anreisten, ob der »NSU« Know how, Waffen und Technik zur Verfügung stellte und die örtlichen Nazis die Anschläge selber durchführten, oder ob man je nach taktischen Gegebenheiten mal so mal so vorging, ist bis jetzt nicht bekannt.
… Doppelselbstmord?
Was ist im Herbst 2011 aus dem Ruder gelaufen? Die offizielle Version vom Doppelselbstmord am 4. November ist wenig glaubhaft. Es könnte auch sein, dass eine Zelle ausgeschaltet wurde, um die zweite Reihe zu schützen und deren Weiterarbeit in der Zukunft zu ermöglichen. Das Verhalten von Zschäpe in den Tagen danach deutet drauf hin, dass sie das ebenfalls so einschätzte. U.a. verschickte sie sofort das »Bekenner-Video« an zwölf Adressen, darunter die Moschee in Völklingen und die Kommunistische Arbeiterzeitung, und verhinderte damit, dass die Geschichte unter den Teppich gekehrt wurde.
Der VS Thüringen hatte das »Zwickauer Trio« mit Geld versorgt. Mindestens einer der drei hatte »legale, illegale Papiere«, wie sie Geheimdienste für verdeckte Ermittler ausstellen. Die (angeblich?) im ausgebrannten Haus gefundenen Namenslisten waren breit recherchiert, auch staatliche Daten waren eingeflossen.
Neben dem VS hatte auch der MAD V-Leute rings um die drei »abgetauchten« Thüringer. Verteidigungsminister de Maizière gab im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sogar zu, dass ein MAD-V-Mann den Aufenthaltsort der Drei kannte.
Es gibt keine erfolgreiche Terrorgruppe ohne staatliche Unterstützung; »verfolgt man die Spur des Terrors nur lange genug, endet man vor einem geheimen Dienstgebäude. Rein kann man nur während einer Revolution.« (Nils Minkmar, ebenda). In ihrer Gesamtheit führen die Spuren ins Innenministerium bzw. ins Bundeskanzleramt, das die Geheimdienste koordiniert; Albrecht Müller, Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt von 1973 bis 1982: »Es ist nicht vorstellbar, dass der Chef des Bundeskanzleramtes, der Regierungssprecher oder ein anderer der 10-15 Teilnehmer [der täglichen Lagebesprechung] nicht spätestens nach der Ermordung des fünften Türken mit der gleichen Pistole hätte wissen wollen, was da vorgeht. … Das Abwiegeln war das Ergebnis behördlicher Tätigkeit.« http://www.nachdenkseiten.de/?p=11383“ target=“_blank“>[»Ich glaube nichts…«] Chefs des Bundeskanzleramts waren von 1999 bis 2009 zunächst Steinmeier, dann de Maizière.
Information = Desinformation?
Schon das Tempo, mit dem ab Mitte November neue Fakten bekannt wurden, beweist, dass hier jahrelang unterschlagene Akten und gesicherte Spuren selektiv in die Öffentlichkeit gestreut wurden. Die heißesten Spuren legte die Meldung, US-Geheimdienstler und Verfassungsschützer hätten am 25. April 2007 den Mord an der Polizistin Kiesewetter auf der Theresienwiese in Heilbronn beobachtet. Demnach hätten US-Militärgeheimdienstler von der Defense Intelligence Agency und Verfassungsschützer Mevlüt Kar observiert. Kar war V-Mann des türkischen Geheimdienstes MIT und der CIA. US- und deutsche Behörden hatten ihn an der Schnittstelle zwischen organisiertem Verbrechen und islamistischen (Möchtegern- ?)Terroristen platziert, er hatte der »Sauerland-Gruppe« Zünder geliefert (auch die Geschichte dieser angeblichen islamistischen Terrorzelle, die im September 2007 unter großem Aufwand ausgehoben wurde, wäre nochmal zu recherchieren!). Dabei beobachteten sie eine Schießerei zwischen Streifenpolizisten, Nazis und … Verfassungsschützern (!). Sollte diese vier Jahre später den Medien zugespielte top secret-Meldung stimmen, erschienen die Spekulationen über »das Phantom«, das an 40 Tatorten DNA-Spuren hinterlassen hatte, in neuem Licht. Ende März 2009 wurde die Spur in nichts aufgelöst durch die Meldung, die DNA sei bereits in der Produktion auf die Wattestäbchen gekommen. – Aber auch der Nazisong gröhlt vom »Phantom« – wenn es Täterwissen ist: warum rühmen sie sich dann mit einem Polizistenmord?
Eine Hand wäscht die andere
Thüringen ist nicht der Einzelfall, als der es hingestellt wird. Wie überall in der Landespolitik gibt es dort seit 20 Jahren Schmiergeld- und Rotlichtaffären, Datenskandale und erzwungene Rücktritte; und wie überall im Osten: miese und teilweise vorbestrafte Westimporte in Ministerien und Behörden. Besonders ist vielleicht nur die enge Freundschaft zwischen dem SPD-Mann von der Saar Dewes, von 1994 bis 1999 thüringischer Innenminister, und dem Faschisten Roewer, von 1994 bis 2000 Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes; zweitens die sehr inkompetenten CDU-Innenminister danach.
Roewer musste im Sommer 2000 zurücktreten, als der NPDler Grube und der Nazi Dienel als V-Leute aufflogen. Er hatte nicht nur ihnen große Summen zukommen lassen, sondern zudem über eine Tarnfirma staatliche Gelder für eine bis heute unbekannte Quelle abgezweigt. Roewer selbst hat einmal von 1,5 Millionen DM gesprochen, die der Thüringer VS in die rechte Szene gepumpt hat. Sowohl Tino Brandt, der Chef des »Thüringer Heimatschutz« und somit Ziehvater des »Zwickauer Trios«, als auch der Anführer von Blood&Honour waren V-Leute. Diese Fakten sind seit über zehn Jahren bekannt. Was nun über den »Nationalsozialistischen Untergrund« ans Licht kam, verbindet sie zu einer Linie. Christian Schlüter stellte am Ende seines Artikels in der FR die Frage: »Was hindert uns noch daran, von Staatsterrorismus zu sprechen?«
Geheimdienst als Erziehungshelfer
Die meisten Staaten haben eine Verfassung, einen Auslands- und einen Inlands-Geheimdienst; letzterer soll feindliche Spione abfangen. Die BRD hat nur ein »Grundgesetz«, dafür aber einen »Verfassungsschutz«, der vor allem die ökonomischen und politischen Verhältnisse, die sogenannte FdGO (»freiheitlich-demokratische Grundordung«), gegen die »Verfassungsfeinde« in der eigenen Bevölkerung schützt. Er nimmt nicht nur mit geheimdienstlichen Mitteln, sondern auch politisch-propagandistisch Einfluss auf gegenwärtige politische Entwicklungen (z.B. mit dem jährlichen Verfassungsschutzbericht). Der VS verkörpert und exekutiert den Gründungsmythos der BRD, wonach die Weimarer Republik zwischen den Extremen von links und rechts zerrieben worden sei. Wer die Fiktion der ideologiefreien, politischen Mitte kritisiert, ist »Extremist« und Verfassungsfeind.
Es gibt eine Kontinuität im VS vom Kampf gegen die KPD in den 50er Jahren, über den Kampf gegen die linken Bewegungen in den 70ern und 80ern, bis hin zu den Kampagnen gegen »Asylmissbrauch« und den Islam heute: die soziale Revolution fernhalten, aufmüpfige Linke aus dem Staatsapparat draußen halten, die ethnische Entmischung vorantreiben – eine Kontinuität, die vor Mord nicht zurückschreckt, und im November 2011 ein Stück weit sichtbar wurde.
Standby oder in Betrieb?
Während des Kalten Kriegs wurden in allen NATO-Staaten paramilitärische Strukturen aufgebaut (Gladio), die – angeblich für den Fall einer russischen Invasion – Sabotage und Terror vorbereiteten. Die Mitglieder wurden aus militärischen Spezialeinheiten, Geheimdiensten und faschistischen Organisationen rekrutiert. In Italien griff dieses Netzwerk mit Terroranschlägen in die Klassenkämpfe ein. Die »Strategie der Spannung« (»destabilisieren, um zu stabilisieren«) sollte Ängste verbreiten und autoritäre, staatliche Maßnahmen rechtfertigen. Beim Anschlag auf der Piazza Fontana in Mailand starben im Dezember 1969 17 Menschen, beim Anschlag auf den Bahnhof in Bologna am 2. August 1980 85 Menschen. Diese und andere Anschläge wurden durch faschistische Gruppen wie Ordine Nuovo in Verbindung mit der Geheimloge P2, welche bis in höchste staatliche Stellen reichte, geplant und durchgeführt.
Nach dem 11. September haben die Geheimdienste im War on Terror einen massiven Schub erhalten. In den USA wurde mit dem Patriot Act die »Heimatschutzstruktur« aufgebaut; in der BRD wurde 2004 das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum gegründet, in dem BKA, BND, VS und LKAs gemeinsam arbeiten.
2003 scheiterte der Verbotsantrag gegen die NPD, weil das Bundesverfassungsgericht nicht zwischen NPD und VS unterscheiden konnte. Der damalige baden-württembergische Innenminister Heribert Rech im März 2009: »Wenn ich alle meine verdeckten Ermittler aus den NPD-Gremien abziehen würde, dann würde die NPD in sich zusammenfallen.«
Noch nach dem Massaker in Norwegen hatte Bundesinnenminister Friedrich öffentlich versichert, hierzulande gäbe es keine rechtsterroristischen Strukturen. – Sie haben es alle besser gewusst!
Der Staat ist die »Mitte der Gesellschaft«
Am 28. Januar 2012 demonstrierten in Hamburg knapp 2000 Menschen gegen »den Tod« als einen »Meister aus Deutschland«. In einem Demoaufruf war zu lesen: »Das deutsche Kapital hat 2012 kein Interesse an Nazis; weniger noch: Die Faschist_innen versauen ihm die Geschäfte.« Über diese Analyse könnte man durchaus diskutieren. Hier ist sie aber nur Argumentationshülse, um sich selber auf die Seite des (vermeintlich) aufgeklärten, metropolitanen Bürgertums gegen die sinnbildliche Provinz »von Flensburg bis Rosenheim, von Saarbrücken bis Zwickau« und das »postnazistisch und fremdenfeindlich aufgeladene Alltagsbewusstsein in der Bevölkerung« zu stellen.
Im Februar wurden die rassistischen Schweinereien im offiziellen Kalender des bayerischen Landesverbandes der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) bekannt, gleichzeitig versuchte die Staatsanwaltschaft, den Prozess um Oury Jalloh abzuwürgen, der 2005 an Händen und Füßen gefesselt in einer Polizeizelle in Dessau verbrannte… Der Staatsrassismus ist mit Händen zu greifen, aber wo er in seiner brutalen Konsequenz einer staatlich gedeckten Mordserie offenkundig wird, bezeichnen Teile der Antifa das als »bewaffneten Rassismus«. Sie verpassen die politische Dimension, dass nämlich der Staat die Rassisten benutzt und sie bei Bedarf sogar unterstützt.
»Der Rassismus,, mit dem wir es heute zu tun haben, ist ein kühl kalkulierter Rassismus … ein Erzeugnis des Staates. … (er ist) vor allem eine staatliche Logik und keine Leidenschaft des Volkes. Diese Staatslogik wird in erster Linie nicht von irgendwelchen rückständigen sozialen Gruppen getragen, sondern zu einem Großteil von der intellektuellen Elite.« (Jacques Rancière in einem Vortrag von 2010; siehe ak 555: »Der Rassismus geht von oben aus«) »Linke« Kritik, die von »derselben Spielanordnung« wie die Rechte ausgeht (»Rassismus sei eine Leidenschaft des Volkes«, gegen die der Staat mit immer härteren Gesetzen durchgreifen muss), konstruiere eine »neue Form des Rassismus«.
Die größten Sarrazinhasser glauben genau wie er, dass sozial Benachteiligte Verlierer sind, die sich einfach nicht genug angestrengt haben. Wenn der Verlierer dann auch noch ein brutaler Nazi ist, ist er zweifach schuldig und der Staat sollte hart durchgreifen!
Diese elitäre Grundhaltung passt nahtlos zum Rutschen auf leitende Stellen in Universitäten, Gewerkschaften, Medien und Verwaltungsapparat. Den eigenen Arsch ins Trockene bringen und kollektive Utopien aufgeben, in dieser Anordnung fällt ehemaligen Linken gegen durchgeknallte Gewalttäter nur »Für immer wegschließen!« ein, gegen die Entsolidarisierung im Betrieb mehr »Gewerkschaft«, gegen Bürgerinitiativen wegen Obdachlosenheimen mehr »Staat«, und gegen Nazis »Verbot«. Das Alltagsempfinden eigener Hilflosigkeit schlägt um in einen sozialen Rassismus, »Kritikmaximierung« gegen alles, was sich »unten zusammenrottet«.
(Wir können an der Stelle nicht alle gesellschaftlichen Phänomene des Rassismus diskutieren. Einige nach wie vor hilfreiche Hinweise für eine solche Untersuchung finden sich z.B. in Die Rassismusfalle)
Die Nazimorde haben zweimal funktioniert.
Zunächst terrorisierte die Mordserie MigrantInnen; und Polizei, Verfassungsschutz und Medien nannten sie »Döner-Morde« – die Polizei-SoKo hieß »SoKo Bosporus«& nbsp;– und drangsalierte die Angehörigen. Diese Niedertracht setzte politisch um, was die Staats-Nazis mit ihren Taten bezweckten. Der Bruder des Rostocker Mordopfers wurde z.B. sechs Monate danach ganz legal von deutschen Behörden abgeschoben.
Alle Opfer waren migrantische ArbeiterInnen – keine »Bonzen«, keine »Bankster«. Im Zusammenspiel mit den Faschos zieht ihnen der Staat genauso effektiv eventuelle systemfeindliche Zähne, wie er das auf Seiten der Linken (allerdings mit viel mehr Geld) tut. Die Faschos funktionieren als zuverlässige Kettenhunde gegen Schwache, Linke, MigrantInnen und Minderheiten. Was wäre wohl passiert, wenn sie Josef Ackermann oder einen der Politiker auf ihrer Liste ermordet hätten? Innerhalb von drei Tage wären sie eingefahren oder auf der Flucht erschossen worden. Und das wussten sie auch und haben sich entsprechend verhalten. – Denn zuweilen lässt der Staat seinen Kettenhunden ziemlich viel Leine, zuweilen rasiert er sie.
Als die Morde ans Licht kamen, funktionierten sie aber ein zweites Mal. Innenminister Friedrich war schnell in der Lage, aus der Empörung über »Pannen« und »Versagen« die Forderung nach einer noch besseren Ausstattung der staatlichen Repressionsorgane zu machen: mehr Vorratsdatenspeicherung, mehr Zentralisierung, neue Lagestelle, noch stärkere Verschmelzung von polizeilichen, geheimdienstlichen und staatsanwaltlichen Funktionen.
Staatsterrorismus
Staat und Kapital betreiben nicht die faschistische »Machtergreifung«. Aber wenn die sozialen Widersprüche und die Kämpfe zunehmen, werden andere Formen interessant. Die Notstandsregierungen in Griechenland und Italien, die Drohungen in Spanien, gegen streikende Fluglotsen mit Militär vorzugehen, sind dafür deutliche Zeichen. Die Aufrüstung der Staatsapparate und die Zusammenarbeit mit »Standby-Strukturen« ergänzen sich auf diesem Weg. Teile solcher Strukturen agieren womöglich mit eigenen Zielsetzungen, aber wenn sie aus dem Ruder laufen, können staatliche Behörden sie jederzeit stoppen. In diesem Sinne war auch die »NSU«-Mordserie eine staatliche Strategie.
… muddling through
Die Art, wie sich die Herrschenden in der Krise und durch die Krise an der Macht halten, hat wenig von einem tollen Masterplan, gleicht eher einem »muddling through« (Durchwursteln, im Schlamm wühlen…), bei dem sich Machtpolitik, Korruption und Zerfallssymptome oft nicht mehr unterscheiden lassen. An Wulffs Affären war zu beobachten, wie massiv die Finanzindustrie sich Regierungen zu Erfüllungsgehilfen gemacht hat (der Finanz-Unternehmer Maschmeyer hat Wulff und Schröder gesponsert…), und wie stark Rotlichtmilieu, Immobilienspekulation und Geldwäsche per Korruption mit Kommunalverwaltungen und Landesregierungen verschmolzen sind. Die BRD ist zum Geldwäscheparadies geworden, in dem jährlich zwischen 43 und 57 Mrd. Euro schmutziges Geld gewaschen werden. Im Februar schrieb die Financial Times Deutschland, Geldwäsche sei hier so einfach wie in kaum einem anderen Industrieland. Die organisierte Kriminalität hat sich im Immobilienmarkt, im Bau- und Entsorgungssektor ungestört breit gemacht.
Immer wieder blubbern unanständige Details aus diesem Sumpf an die Öffentlichkeit; nur ein paar der bekanntesten Fälle: Bankenskandal in Berlin, Hessen (Koch, Bouffier: Polizeiskandal, Tankstellen-Connection, Flughafenausbau durch Bilfinger Berger usw.), der »SachseNSUmpf« unter Biedenkopf und de Maizière aus hohen Politikern, Richtern, Polizeibeamten und ’Ndrangheta… Wobei an Koch/Bouffier und Thüringen auffällt, dass aus diesem Milieu die härtesten Angriffe auf MigrantInnen gefahren werden, die sich in nichts von NPD-Positionen unterscheiden.
Wie geht’s weiter
Einerseits mit erneuter Hetze. Ende Februar überließ das Innenministerium eine 764-seitige Studie zu »Lebenswelten junger Muslime in Deutschland« ausschließlich der Bild-Zeitung vorab zur Veröffentlichung. Diese schlug daraus 30 Zeilen Alarm (»Schock-Studie«) unter der Überschrift: »Jeder fünfte Muslim in Deutschland will sich nicht integrieren«. Dass Innenminister Friedrich genau das bezweckte, machte er am selben Tag mit seinem Kommentar deutlich: »Wer Freiheit und Demokratie bekämpft, wird hier keine Zukunft haben.« Unnötig zu erwähnen, dass die Studie zu sehr viel differenzierteren Ergebnissen kam…
Andererseits werden offensichtlich Nazistrukturen abgeräumt und Vorbereitungen für ein NPD-Verbot getroffen – und wahrscheinlich werden auch wieder mehr staatliche Mittel für antirassistische Arbeit fließen. Auf jeden Fall aber wird der Ausbau der repressiven Staatsapparate weitergehen. Und das ist auch nötig, denn:
Drittens verschärft sich die soziale Ungleichheit. Die tiefe Spaltung in Garantierte, Prekäre und Migranten, die Anfang der 90er mit der Abschaffung des Asylrechts, der Freisetzung von Millionen Beschäftigten im Osten und den scharfen Angriffen auf die zentrale Arbeiterklasse durchgesetzt wurde, hat den egalitären Arbeiterkämpfen vor und nach der »Wende« die Spitze gebrochen und Flüchtlinge als dauerhaftes innenpolitisches »Problem« verankert. In den feigen Angriffen auf Zuwanderer konstituierte sich zehn Jahre vor HartzIV die Figur des HartzIV-Empfängers, wie sie Sarrazin heute zeichnet: schlecht gebildet, ernährt und frisiert, dumpf, tendenziell rechts.
Acht Millionen Menschen in der BRD arbeiten im Niedriglohnbereich, mehr als 2,5 Millionen verdienen weniger als 6 € die Stunde. In einem Interview mit Thorsten Hild stellte Wolfgang Neskovic einen Zusammenhang zwischen diesem sozialen Elend und den Nazis her – einen Zusammenhang, den seiner Ansicht nach »die Medienleute« nicht verstehen:
»Das bundesrepublikanische Leben ist voller Armut, Wut und Verzweiflung. Die Lebensrealität von Millionen besteht darin, in einem Vollzeitarbeitsverhältnis mit Überstunden gerade den Betrag zu erringen, der sie von den Millionen anderen unterscheidet, die als arm gelten müssen. … Mundlos kam aus einer Straße der Jenaer Nachwendezeit. Das Klima der Stadt war von den Entlassungswellen der Zeisswerke bestimmt. Mundlos verlor die Aussicht auf eine Lehrstelle bei Zeiss. Ich habe gelesen, dass er ein sehr begabter Programmierer war – bevor das Programm der Nazis ihn zum Mörder machte.« (»Damals wie heute sind es Ausgrenzung und Abstiegsängste, welche die Menschen den Nazis in die Arme treiben.« Interview mit Wolfgang Neskovic, Bundesrichter a. D. und Justiziar der PDL, für die er auch im Bundestag sitzt)
Unten arbeiten die Nazis und von oben der Staat, der immer wieder den Rassismus benutzt – nicht um von sozialen Fragen »abzulenken«, sondern um Sozialpolitik zu simulieren, um soziale Inhalte zu erzeugen. Im Oktober 2010 schoben der damalige Innenminister de Maizière (»Integrationsverweigerer«), CSU-Seehofer (»wir dürfen nicht zum Sozialamt der Welt werden«) und Merkel (»Multikulti ist total gescheitert«) eine rassistische Kampagne gegen Menschen aus »fremden Kulturkreisen« an. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Staatsrassismus als Sozialpolitik des Neoliberalismus eingesetzt wird und Nationalismus als scheinbare Sicherheit gegen die Verunsicherungen durch globale Standortkonkurrenz und Krise funktioniert.
Um das mörderische Zusammenspiel zwischen dem Staatsrassismus und seinen faschistischen Kettenhunden aufzubrechen, können wir weder an den Staat appellieren, noch mit political correctness argumentieren. Wir sollten stattdessen den Staat mehr und mehr zu einem Fremdkörper machen. Revolution ist nur von unten möglich! Und da sieht es nicht so schlecht aus, wie »Medienleute« und viele Linke vielleicht meinen. In einer im März veröffentlichten – und nicht von der Bildzeitung kommentierten – Studie gab die Bertelsmann-Stiftung bekannt, dass »nur etwas mehr als ein Viertel der Zeitarbeiter und etwa ein Fünftel der geringfügig Beschäftigten« »mit der Demokratie zufrieden« seien. Sie halten Gesellschaft und Wirtschaft für sehr ungerecht und gehen weniger zur Wahl als Vollzeitbeschäftigte; von denen die wählen gehen, stimmen 20 Prozent für linke Parteien. Auch die Bertelsmänner kriegen inzwischen Angst vor einer Entwicklung, die sie selber loszutreten geholfen haben.
Vielleicht hilft ein Blick nach Ägypten. Dort können wir beobachten, wie hilflos die Appelle der »Demokraten« sind, die Institutionen der Diktatur aufzulösen, um die Macht an eine zivile Regierung zu übergeben. Eine politische Reform, getrennt von sozialen Inhalten, denkt immer schon die neue Elite mit – was übrigens der Faschopropaganda Glaubwürdigkeit bei ihrem Anhang verleiht: ’die Linken und der Staat sind eins‘! Ebenfalls in Ägypten können wir beobachten, dass soziale Kämpfe und der Kampf gegen Repressionsorgane zusammengehören: die Bewegungen »auf der Straße« stürmen auch Polizeistationen und Staatssicherheitszentralen.