antifa

Stuttgart: 13 Stunden Schikane

Wie ist die Polizei in Stuttgart gegen Protestierende und AfD-Kritiker vorgegangen? Ein Augenzeugenbericht von John Malamatinas ND 1.5.16

Dies ist ein Versuch, die Eindrücke aus dem Polizeigewahrsam zu verarbeiten, in dem sich zahlreiche Teilnehmer der Proteste gegen den AfD-Programmparteitag in Stuttgart wiederfanden. Der Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, viele der Erfahrungen von Beteiligten haben noch nicht das Licht der Öffentlichkeit erreicht. Deswegen bleibt das Folgende subjektiv – aber es soll einen Einblick in die Zustände eines Landes verschaffen, das ich auf dem Weg in einen Polizeistaat sehe.

Es sollte ein bunter und entschlossener Protesttag gegen die AfD werden. Die bundesweite Kampagne »Nationalismus ist keine Alternative« und lokale Bündnisse gegen Rechts mobilisierten zu Aktionen gegen den Parteitag der Rechtsaußen-Partei. Hunderte Aktivist*innen fanden sich rund um das Messegelände ein, um sich an Blockadepunkten zu versammeln.

Ein Großteil der auswärtigen Aktivist*innen reiste mit Bussen an. Die Busse erreichten gegen 6 Uhr 30 das Messegelände. Um 7 Uhr sollten der Ankündigung nach die ersten Blockaden gegen die AfD stehen. Die Busse erreichten nach der Autobahnausfahrt einen Kreisel am Rande des Messegeländes. Die Aktivist*innen stiegen aus, sammelten sich zu einer Demonstration und blockierten erstmal den erreichten Punkt – dabei wurden bengalische Feuer gezündet. Beobachtet wurde das Geschehen von Polizeikräften aus einigen hundert Meter Entfernung.
Die Demonstration setzte sich dann in Bewegung, um einen besseren Blockadepunkt zu erreichen. Über einen Gehweg ging es zu einer der Haupteinfahrten der Messe, wo sich die Demonstration mit Transparenten postierte und eine Blockade errichtete. Auf den Weg dorthin wurde der Zaun einer Baustelle zur Seite geräumt, der den Gehweg blockierte. Zu keinem Zeitpunkt kam es aus der Menge heraus zu Angriffen gegen Einsatzkräfte der Polizei oder zu Sachbeschädigungen am Messe-und Flughafengelände.
Etwa zur selben Zeit twitterte die Polizei Stuttgart ihre Sichtweise auf die Geschehnisse. In zwei Tweets behauptete sie, dass es zu tätlichen Angriffen gegen Polizeikräfte gekommen sei und die Demonstant*innen mit Holzlatten und Eisenstangen ausgerüstet gewesen wären. Diese Tweets wurden breit von den Medien rezipiert, sie tauchten den ganzen Tag über auch in der Berichterstattung vieler Zeitungen über die Proteste auf.
In einer später veröffentlichten Pressemitteilung der Einsatzleitung aus Reutlingen hieß es dazu: »Kurz nach 06.30 Uhr trafen mehrere Reisebusse mit mehreren hundert überwiegend dem linksautonomen Spektrum zuzurechnende Personen im Bereich des Messegeländes ein. Unmittelbar nach deren Ankunft beim Fernbusterminal wurden bengalische Feuer und Böller gezündet und die Durchfahrt des dort befindlichen Kreisverkehrs blockiert. Kurz vor sieben Uhr vermummte sich ein großer Teil der überwiegend in schwarz gekleideten Personen. An einer Baustelle nahmen mehrere Personen Latten und Stangen auf und errichteten damit Blockaden. Aus dem Schutz der mehrere hundert Personen umfassenden Gruppe wurden Einsatzkräfte der Polizei mit Leuchtraketen beschossen.«
Aus der anderen Perspektive betrachtet sah das anders aus: Kurz nachdem die erste Blockade stand, kreisten hunderte Polizeieinsatzkräfte und zwei Wasserwerfer die protestierende Menge ein. Von Holzlatten und Eisenstangen war bei den Antifaschisten nichts zu sehen – auch nicht von den angeblichen Angriffen mit bengalischen Feuer und Böllern. Schon nach wenige Minuten hieß es jedoch vom Lautsprecherwagen der Polizei aus, dass alle rund 400 Aktivist*innen des Blockadepunkts sich nunmehr im polizeilichen Gewahrsam befinden und bald »abgearbeitet« würden.
In der offiziellen Erklärung der Polizei ist die Rede von »mehreren erkennbar unfriedlichen Personen« – eine genaue Anzahl wird aber nicht notiert. Die Blockade wurde dann von der Polizei gewaltsam geräumt – eine Prozedur, die bis 11 Uhr 30 andauerte. Immer wieder kam es zu Rangeleien, da die Polizisten versuchten, gewaltsam Einzelne aus der Menge zu zerren und abzuführen. Mehrere Menschen wurden verletzt, selbstorganisierte Sanitäter mussten zahlreiche Male erste Hilfe leisten. Das ganze fand unter dem drohenden Rohr eines Wasserwerfers statt, der im Rücken der Protestierenden postiert worden war.
Stunden in Handfesseln ohne Wasser
Von den Protestierenden wurden jede und jeder einzeln abgeführt, mit Plastikhandfesseln fixiert und in Stadtbussen – an denen »Betriebsfahrt« zu lesen war – sowie Polizeifahrzeugen gesammelt. Die Menschen mussten teils stundenlang gefesselt warten. Waren die Sammeltranporte für die Gefangenen voll, ging es zu einer eigens in einer Messehalle eingerichteten Gefangenensammelstelle. Ohne Wasser, Essen und Toilettengang mussten die Aktivst*innen in den Bussen auf ihre »Bearbeitung« warten. Hier zeigte sich der bürokratische Apparat der Polizei in seiner ganzen abschreckenden Weise.
Ich selbst wurde gegen 11 Uhr abgeführt und in einen der Busse gesetzt. Dort verbrachte ich in etwa vier Stunden ohne Wasser und ohne die Möglichkeit, zur Toillette zu gehen. Um 14 Uhr schließlich wurde ich in die Gefangenensammelstelle geführt, wo ich zwei Stunden mit anderen Aktivist*innen und von Polizisten umstellt in der Mitte der Halle warten musste. Wir durften uns auf den kahlen Boden setzen, rauchen war natürlich verboten und zu den zwei Dixitoiletten musste jeder Gefangene einzeln begleitet werden.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits fünf Stunden die viel zu eng gezogenen Kabelbinder als Handfesseln zu tragen. Die Wunden sind auch am Sonntag noch zu sehen. Bitten von Aktivist*innen an die Polizei, ihre Fesseln etwas zu lockern, wurden von den Beamten mit einem Grinsen abgewiesen. Wasser und Essen sollte uns erst später in der Zelle erreichen, hieß es – nachdem wir » abgearbeitet« waren. Von dem Warteplatz mitten in der Halle aus beobachteten wir das Procedere: Wiederum mussten Aktivist*innen von jeweils zwei Polizisten bewachte anstehen, um ihre Identität feststellen zu lassen, durchsucht und abgefilmt zu werden. Das ganze dauerte in meinem Fall noch einmal eine Stunde.

Gegen 16 Uhr wurde ich dann in die Zelle mit der Nummer 3 eingesperrt. Einige Stunden später um halb Neun wurde ich nach einer kurzen Belehrung und mit einem Platzverweis wieder freigelassen. Während die Polizisten noch meinen Ausweis suchten, musste ich mir mehrere chauvinistische Kommentare wegen meiner Herkunft anhören – Stichwort »Pleitegrieche«. Daraufhin wurde ich mit dem Bus nach Echterdingen gefahren. Andere Aktivist*innen wurden sogar ins 20 Kilometer entfernte Esslingen gefahren und dort ausgesetzt.

Der Polizeiapparat schien insgesamt von einer Art von professionellen Desorganisation gekennzeichnet zu sein, die offenbar die schikanösen Praktiken gegen die Gefangenen legitimieren sollte. Niemand bemühte sich um die gesetzlich unverzüglich vorgeschriebene Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den Gewahrsam. Dies wurde durch die organisierte Verschleppung der Identitätsfeststellung der Protestierenden ermöglicht. Polizeibeamte wurden mehrfach darauf hingewiesen, dass sich Minderjährige unter den gefesselten Gefangen befinden würden – doch das interessierte die Beamten wenig. Dass nur fünf Computer für die Bearbeitung von hunderten von Gefangenen bereitstanden und dass die beschlagnahmte Kleidung in großen Kisten in einem Chaos verschwanden, gehört in dieses Bild. Manche Gefangene mussten ohne ihren Ausweis wieder die Heimreise antreten – die Dokumente wurden nicht mehr gefunden.
Für jene Protestierende, denen ein konkreter Vorwurf gemacht wurde, hielt sich die Polizei noch einen speziellen Kerker beriet – ein Gewahrsamsbus. Dort wurden Gefangene über Stunden entweder isoliert oder in Minizellen eingepfercht. Aktivist*innen berichteten, sie wären ohne ausreichenden Sauerstoff, Flüssigkeit und Nahrung bereits nach 30 Minuten in einen Dämmerzustand gefallen. Auf Hilferufe oder den Notrufknopf reagierten die Beamten nicht. Mehrere Gefangene kollabierten und mussten mit dem Rettungswagen abtransportiert werden.

Der Apparat setzte aber nicht nur auf Zermürbung, sondern auch auf offene Gewalt. So wurden gefesselte Protestierende wahllos aus Zellen herausgeschleift und von mehren Uniformierten verprügelt – so sollten Solidaritätbekundungen unter den Gefangenen unterbunden werden. Eine Aktivistin aus einer Frauenzelle berichtet: »Eine Mit-Insassin riss panisch die weiße Plane ein. Ein behelmter und vermummter Polizist packte seinen Teleskopschlagstock aus und haute ihn mehrfach auf das Gitter. Dann kamen dieser Polizist, ein weiterer vermummter Beamter und eine filmende Polizistin in die Zelle und prügelten auf uns ein. Wir versuchten die Frau zu schützen, doch kurz darauf verdrehten die Beamten der Frau die Arme, um sie direkt neben der Zelle auf dem Boden zu fixieren. Ich konnte sehen, wie ein Polizist der Frau mehrfach mit dem Knie gegen die Schläfe stieß. Einige von uns brachen weinend zusammen. Die anwesenden Polizisten lachten uns aus.«
Trotz solcher Methoden konnte der Polizeiapparat im »Archipel Messehalle 9« die Solidarität unten den Gefangenen nicht brechen. Immer wieder machten die Akvivist*innen empört auf die Zustände in der Gefangenensammelstelle aufmerksam – mal kreativ mit Tiergeräuschen, mal entschlossen durch Rütteln an den Zäunen, mit denen die einzelnen Wartezellen abgesperrt waren.

Nicht nur die Kampagne »Nationalismus ist keine Alternative« hat nach den Protesten gegen die AfD beklagt, »dass sich ein ernst gemeinter Antifaschismus nicht auf den Staat verlassen kann«. Kritisiert wurde auch, dass Hunderte Antifaschist*innen »buchstäblich am eigenen Leib erfahren« mussten, was der »pragmatische Humanismus« der Grünen in Baden-Württemberg bedeutet: Hunde- und Pferdestaffeln, vermummte Polizeihundertschaften und Wasserwerfer schützen das Treffen einer offen rassistischen und nationalistischen Partei. Auch Deutsche Journalisten Union hat schwere Vorwürfe gegen die Polizei erhoben – denn es wurden nicht nur Protestierende inhaftiert und schikaniert. Auch mehrere Fotoreporter wurden stundenlang in Gewahrsam genommen, obwohl sie sich zweifelsfrei als Journalisten ausweisen konnten. Einer der Medienvertreter erlitt kurz nach seiner Festnahme einen Kreislaufzusammenbruch.

Mein persönliches Fazit des Tages: Polizeiübergiffe gegen Gefangene, Minderjährige ohne jeglichen Rechtsschutz in Gewahrsam, Toilettengang, Wasser und Luft zum Atmen nur auf Gnadengesuch. Was bei der AfD noch autoritäre Sehnsüchte eines Rechtsaußen-Programms sein mögen, ist hierzulande teils längst Realität. Der autoritäre Staat schert sich nicht um Grundrechte, wenn diese ihm nicht in den Kram passen. Er legitimiert sein Vorgehen mit dreisten Lügen – und die veröffentlichte Meinung drückt in den meisten Fällen mehrheitlich beide Augen zu. Im Land der Maultaschenliebhaber, Fahrradfahrer und Abschiebefreunde liegen den Reaktionären von der AfD die Rosen bereits auf dem Weg.