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Türkei: Brief eines veganen Anarchisten aus dem Knast

Wir besuchten den veganen, anarchistischen Gefangenen Osman Evcan im Hochsicherheitsgefängnis Kocaeli am 16. Tag seines Hungerstreiks. Dabei wurden wir Zeuge davon, wie der seit den Wahlen im November zuspitzende Staatsfaschismus mit seinen Repressionstechniken auch in den Gefängnissen zum Ausdruck kommt. Aufgrund der anarchistischen, veganen, libertären Ideen, für die Osman Evcan seit mehreren Jahren kämpft, nimmt die Repression gegen ihn zu. Er sieht sich Einschüchterungstechniken in Form von F-Typ-Haft konfrontiert. Sein Zugang zu veganer Nahrung wurde unterbunden, um ihn mit der Maxime „gehorche oder stirb“ zu konfrontieren.
Osman Evcan führt seinen Widerstand unter zunehmend erschwerten Haftbedingungen fort. Er stellt klar, dass er entschieden ist, seinen Hungerstreik fortzuführen. Während unseres Besuchs war er voller Hoffnung und Zuversicht und sprach uns zu, die von organisierter Staatsgewalt attackierten Bereiche nicht aufzugeben. Er betonte mehrmals, dass der einzige Weg zur Freiheit aus Widerstand und Kampf besteht. Osman Evcan versteht seinen Hungerstreik als einen Widerstand gegen die gegenwärtige Angst- und Hetzpolitik. Er ruft auf zu Aktionen und möchte andere dazu motivieren, sich für die eigenen Rechte einzusetzen.

Wir sollten Osman Evcan und uns selbst nicht Opfer werden lassen von Mechanismen, die jeglichen Protest im Keim zu ersticken versuchen. Lasst uns dem Aufruf Osmans folgen, der sein Leben auf Prinzipien der Solidarität, des Kampfes und der Ablehnung, andere Lebewesen zu unterwerfen, aufbaut und der durch diese Prinzipien in seinem Leben bedroht wird. Wir möchten Osmans Brief mit euch teilen, in welchem er die Beweggründe seines Hungerstreiks beschreibt.
Bis alle Käfige und Gefängnisse zerstört sind!
ABC Istanbul

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Zur Information der Öffentlichkeit über meinen unbefristeten Hungerstreik:
Ich bin ein Gefangener im Kocaeli Nr. 1 F-Typ Gefängnis. Weil ich mich als vegan verstehe, esse ich kein Fleisch oder andere tierischen Produkte und ich vermeide es, jegliche Art von Produkten zu konsumieren, die aus dem tierischen Körper hergestellt werden. Ich habe diesen Weg gewählt, weil er Ausdruck von Tierbefreiung und Tierrechten ist.
Ins Kocaeli Nr. 1 F-Typ Gefängnis kam ich am 24. April 2014. Ich schrieb damals der Gefängnisadministration, dass ich vegan lebe. Auch schrieb ich ihnen, dass ich kein Fleisch oder andere tierischen Produkte verzehre. Ich ernähre mich von Früchten, Gemüse, Getreide und Hülsenfrüchten. Ich beantragte, dass die Nahrung, die ich erhalte, entsprechend meiner Ernährung angepasst wird. Auch forderte ich, dass vegane Produkte in den inneren und äusseren Kantinen des Knastes verkauft werden.
Für eine lange Zeit wurden meine Forderungen nicht anerkannt. Obwohl ich Dutzende Male entsprechende Gesuche an die Gefängnisverwaltung schrieb, erhielt ich keine Antwort.
Während vieler Jahre schrieb ich zudem Gesuche an das Justizministerium, die Staatsanwaltschaft sowie an das Kocaeli Gericht. Die Forderung nach veganer Ernährung wurde jedoch nicht gelöst.
Zusätzlich schrieben auch meine Familie und meine Genoss_innen Gesuche an juristische Institutionen, um mein Anliegen von aussen zu unterstützen.
All unsere Bemühungen und Bestrebungen, als vegane Gefangene unsere Menschenrechte einzufordern, blieben unberücksichtigt.
Weil ich nicht die vegane Nahrung erhielt, die ich benötigte, begann ich, gesundheitliche Probleme zu entwickeln. Mein Körper wurde schwächer aufgrund Mangelernährung und ich begann, häufig krank zu werden.
Als letzter Ausweg, um Widerstand zu leisten gegen repressive, autoritäre und willkürliche Praktiken sowie zur Erlangung unserer Grundrechte, begann ich am 25. Mai 2015 einen unbefristeten Hungerstreik. Dieser währte 33 Tage, bis mein Anliegen am 26. Juni 2015 ernstgenommen und anerkannt wurde.
Im Anschluss wurde folgende Vereinbarung getroffen:
Wir können die veganen Produkte und Lebensmittel, die wir benötigen und die nicht in der Gefängniskantine vertrieben werden, unter Aufsicht der Gefängnisadministration von einem veganen Geschäft beziehen.
Die Mahlzeiten, die im Kocaeli Gefängnis gekocht und gebracht werden, werden wie folgt vorbereitet:
Die Mahlzeiten bestehen aus saisonalem Gemüse.
Es werden keine nicht-saisonalen Gemüse aus Gewächshäusern und aus Konserven verwendet.
Wir erhalten in ausreichender Menge die Getreideprodukte und Gemüse, die wir benötigen.
Wir erhalten wöchentlich saisonale Gemüse und Früchte in roher Form (z.B. Blumenkohl, Brokkoli, rohe Pilze, Karotten, etc.)
Die humanitären und juristischen Rechte, die wir als vegan-anarchistische Gefangene forderten, wurden uns als Resultat eines Hungerstreiks gewährt. Infolge des Streiks hätte ich sterben oder für immer gesundheitlich beeinträchtigt bleiben können. Die grundlegendsten legalen, humanitären und universellen Rechte wurden also erst realisiert, als wir im Hungerstreik lebensbedrohlich gefährdet waren.
Diese, uns vegane Gefangene betreffenden Rechte haben wir akzeptiert, so dass sie am 26. Juni 2015 in Kraft traten. Es dauerte nahezu 4 Monate. Doch am 6. November 2015 wurden unsere Rechte erneut durch die Gefängnisadministration in Form einer willkürlichen und autoritären Behandlung beschnitten. Diese unterdrückerische Behandlung ist unmenschlich und illegal. Die fundamentalen Rechte, welche vegane anarchistische Gefangene über die Jahre hinweg durch grosse Anstrengungen, Kämpfe und Hungerstreiks unter Todesgefahr erreicht haben, wurden auf einen Schlag verdrängt. Unsere menschlichen und universellen Rechte wurden verletzt und missachtet.
Das letzte Paket an veganen Nahrungsmitteln wurde am 6. November 2015 ans Gefängnis geschickt. Als ich das Paket abholen wollte, öffneten sie es und untersuchten ein Nahrungsmittel nach dem anderen. Dann liessen sie mich das Paket jedoch nicht mitnehmen, sondern verstauten es im Depot. Anschliessend teilte uns die Gefängnisverwaltung mit, dass sie ab jetzt keine veganen Produkte an die Gefangenen mehr gewähren würde.
Das Recht auf vegane Nahrung wurde auch bei einem anderen veganen Gefangenen, Kemal Toksa vom C-Block, auf ähnliche Weise verletzt. Was vegane, vegetarische oder kranke Gefangene betrifft, ist die Verletzung von Rechten an der Tagesordnung.
Eine andere aktuelle Willkürbehandlung ist eine vegane Lebensmittelliste, welche die Knastadministration am 12. November 2015 verschickt hat. In dieser waren tierische Produkte wie Honig oder Joghurt aufgeführt. Dies, obwohl die Knastautorität sehr wohl über unsere Nahrungsforderungen Bescheid weiss.
Zusätzlich zu dieser Verletzung unserer Rechte, die wir als vegane, vegetarische und kranke Gefangene erleben, gibt es eine Vielzahl von anderen Problemen, mit denen wir im Knast konfrontiert sind. Autoritäre, willkürliche Praktiken durch die Gefängnisadministration sind an der Tagesordnung und bringen Gewalt sowie Menschenrechtsverletzungen mit sich.
Aus Protest gegen diese Praktiken, habe ich am 10. November 2015 erneut einen Hungerstreik begonnen. Ich werde ihn fortführen, bis wir unsere Menschrechte wieder zurückerlangen.
Als Folge meines Hungerstreiks kann ich permanent behindert bleiben, mein Gesundheitszustand kann sich verschlechtern oder ich kann mein Leben verlieren. Die Verantwortlichen für diese möglichen Folgen sind:
Das Justizministerium
Die Staatsanwaltschaft
Das Kocaeli Nr. 1 F-Typ Gefägnis
Das Direktionsinstitut des Kocaeli-Gefängnisses
Untenstehend führe ich die vitalen Probleme auf, mit denen wir uns aufgrund autoritären, willkürlichen Praktiken der Gefängnisadministration konfrontiert sehen. Bis alle unsere Probleme gelöst sind, werde ich meinen Hungerstreik fortführen.
Die Beweggründe für meinen unbefristeten Hungerstreik und unsere Forderungen:
Die von veganen Gefangenen erlangten Rechte müssen ihnen zurückgegeben werden. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, damit vegane Gefangene die Lebensmittel und Produkte erhalten, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit benötigen. Zusätzlich müssen Angehörige oder Genoss_innen von ausserhalb des Gefängnisses, den Gefangenen Nahrung zukommen lassen können. Es dürfen keine Restriktionen oder Verbote diesbezüglich stattfinden. Die veganen Lebensmittel in der Gefängniskantine werden aktuell zu exorbitanten Preisen verkauft. Sie müssen jedoch ohne Profitabsichten verkauft werden.
Die von veganen Gefangene eingeforderten Rechte sollten gleichermassen auch vegetarischen und kranken Gefangenen gewährt werden. Die legalen und humanitären Rechte kranker Gefangener werden verletzt. Diese Gewalt muss stoppen.
Ein elektrischer Herd muss für vegane, vegetarische und kranke Gefangene zur Verfügung gestellt werden. Um sich gesund zu ernähren, sind sie darauf angewiesen.
Es muss möglich sein, Gemüse und Früchte von der äusseren Kantine zu beziehen.
Die saisonalen Früchte und Gemüse, die vegane, vegetarische und kranke Gefangene benötigen, müssen durch die Gefängnisadministration wöchentlich zur Verfügung gestellt werden.
Es dürfen keine tierischen Produkte, wie z.B. Honig, Joghurt, etc. auf der wöchentlichen veganen Lebensmittelliste aufgeführt sein. Diese Art der psychologischen Druckausübung muss aufhören.
In der inneren Kantine sollten Wasserkocher verkauft werden.
Bei Erstankunft im Gefängnis dürfen keine autoritären, unterdrückerischen und blossstellenden Nacktuntersuchungen mehr stattfinden.
Die regelmässig durchgeführten Willküruntersuchungen mittels Ausziehen der Schuhe müssen aufhören.
Während der Besuchszeiten müssen wir das Recht haben, unsere Besucher_innen zu treffen und Fotos mit ihnen aufzunehmen.
In den Besuchsräumen sollten Teegeräte installiert werden. Unsere Besucher_innen sollen die Möglichkeit haben, Tee zu trinken.
Der autoritäre Terror, die Unterdrückung, Gewalt und der Genozid an der kurdischen Bevölkerung müssen stoppen. Das Recht der kurdischen Bevölkerung auf Ausübung der eigenen Sprache, Kultur und Lebensweise darf nicht mehr verletzt werden. Kurdische Menschen, als auch alle anderen Menschen verschiedener Ethnien müssen gleiche Rechte besitzen und frei leben können.
Sexistische Unterdrückung, Gewalt, Terror und Genozid von Frauen muss stoppen.
Die Plünderung, Schlachtung, Verwüstung und Ausbeutung der Erde muss stoppen.
Speziesistischer Genozid, Gewalt und Ausbeutung von Tieren muss stoppen.
Homophobe und transphobe Gewalt, Terror und Massaker gegen LGBT-Menschen müssen aufhören.
Imperialistische, kolonialistische Regierungen müssen die Besetzung, Ausbeutung, Kriege und Massaker in Syrien sowie im ganzen Mittleren Osten stoppen. Die Verantwortlichen für diese Kriege sind westliche, kolonialistische Regierungen. All die Menschen im Mittleren Osten sollten sich zum aktiven Kampf dagegen vereinigen.
Die Gewalt, Ausbeutung, Vergewaltigungen und Massaker an Migrant_innen, die durch diese Kriege bedingt in die Türkei migrieren, müssen stoppen.
Ich habe meinen unbefristeten Hungerstreik am 10. November 2015 begonnen zur Lösung der oben aufgelisteten Probleme.
Mit Liebe und Grüssen,
Osman Evcan
Veganer, anarchistischer Gefangener
Kocaeli 1 Nolu F Tipi Cezaevi 10.11.2015