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Türkei: Die Kindereisenbahn im Gefängnis nd 1.6.

Meşale Tolu über Knastkindergärten und Spielzeug »made in Bakırköy«
Die ersten Tage hinter Gittern: Nach einer dreitägigen Isolation wurde ich aus einer kleinen Zelle der Haftanstalt Bakırköy geholt. Was sich jenseits davon verbarg, war mir bis dahin unbekannt. Zwei Wärterinnen gingen voraus, ich folgte ihnen neugierig und etwas verunsichert. Wir betraten einen Korridor, breit und unendlich lang. Die Wände rot und rosa gestrichen, der Boden bedeckt mit beigefarbenen Fliesen. Alles lieblos, kalt und teilweise dreckig.

Nach links und rechts eröffneten sich alle 15 bis 20 Meter neue Korridore, die durch dunkelgrüne Eisentüren versperrt waren. Während ich versuchte, alles genau zu beobachten, hörte ich erstes Kindergequietsche. Nein, sie schrien nicht – sie lachten. Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, kamen sie uns bereits entgegen: »Tschuf, tschuf, tschuf …«. Mädchen und Jungen im Alter von drei bis vier Jahren. Die eine jünger, die Jungen etwas robuster. Sie sangen das in Deutschland als »Tuff, tuff, tuff, die Eisenbahn« bekannte Kinderlied. Alle eingereiht, die Hände auf den Schultern des Vorgängers.

Ein zierliches Mädchen fiel mir sofort auf. Sie kam wohl gerade aus der Zelle und schloss sich als Letzte der Gruppe an. »Jenny, gir kızım!«, »Jenny, reih dich ein, mein Mädchen«, sagte die Wärterin, die bei den Kindern stand. In diesem Moment wurde mir klar, dass diese Kinder die kleinsten Bewohner des Gefängnisses waren. Sie waren auf dem Weg in den Kindergarten, der zum Komplex der Haftanstalt Bakırköy gehört. Für einen Moment verblasste die Umgebung, der Ort, an dem ich mich befand. Kinder und Gefängnis. Zwei Begriffe, die nie zusammenkommen sollten. Wie können Kinder an so einem lieblosen Ort leben und überleben? Tatsächlich tun dies ungefähr 700 Kinder – laut Angaben des türkischen Justizministers – gemeinsam mit ihren Müttern. Diese zierlichen, lebenslustigen kleinen Menschen verbringen ihre schönsten, aufregendsten Jahre hinter Gittern.

Bevor ich selbst verhaftet wurde, hatte ich viel von Ali Poyraz gelesen, der jahrelang mit seiner Mutter Zeynep im Gefängnis gelebt hatte. Damals wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass auch wir diese Erfahrung machen würden. Doch nur wenige Tage, nachdem ich ins Gefängnis gekommen war, gelangte auch mein Sohn durch die schwere Eisentür in meine Arme.
Die nächsten Tage und Monate ließen wir unserer Fantasie freien Lauf. Nachdem wir die Tatsache nicht ändern konnten, eingesperrt zu sein, sollte wenigstens die Zeit gut genutzt werden. Spielzeuge, Buntstifte, Knete – alles war verboten. Daher beschlossen wir, Spielzeuge selbst herzustellen. Weil mein Sohn verrückt nach Autos war, produzierten wir zuerst ein Auto »made in Bakırköy«. Viel war nicht nötig bis zum ersten Erfolg: eine Plastikflasche und vier Deckel für die Räder. Nach diesem ersten Produktionserfolg stellten meine Mithäftlinge auch noch Knete her. Das war ein Kinderklacks für sie: ein wenig vom Inneren des Weißbrots, vermischt mit Wasser, und dasselbe mit Schwarzbrot – schon hatten wir Knete in zwei Farben. So verging jeder einzelne Tag hinter Gittern.

Ob Jenny auch solche produktionsfreudigen Frauen in ihrer Zelle hatte, habe ich nie erfahren. Bei den gelegentlichen Ausgängen aus der Zelle hatte ich aber das Glück, sie wiederzusehen. Sie sprach mit ihrer Mutter auf Spanisch. Ich nutzte die Gelegenheit und nahm ebenfalls auf Spanisch an ihrem Gespräch teil. Ich dachte, sie würde sich freuen, wenn sie jemanden kennenlernt, der ihre Muttersprache spricht. Doch Jenny beantwortete alle meine Fragen auf Türkisch. Den Grund dafür erfuhr ich später: Ihre Mutter war zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden und Jenny darf nur bis zur Vollendung ihres sechsten Lebensjahres bei ihr bleiben. Da sie in der Türkei niemanden hat, der für sie sorgen kann, muss sie dann in ein Kinderheim. Die Mutter bereitet Jenny auf diese bittere Tatsache vor. Sie sagt ihr immer wieder, dass sie sehr gut Türkisch sprechen lernen muss, um in ihrem späteren Leben besser zurechtkommen zu können.