Ron Augustin, junge Welt 3.5.2021
Die Staatsanwaltschaft am Berufungsgericht in Paris hat am vergangenen Donnerstag entschieden, dass neun Exilanten aus Italien das Urteil im Auslieferungsverfahren gegen sie unter Auflagen zu Hause abwarten können. Ihre einzige Hoffnung ist jetzt, dass die französische Justiz die für sie 1981 festgelegte Asylregelung bestätigt und die Regierung von Präsident Macron sich daran auch hält. Für einige von ihnen geht es darum, erst einmal Zeit zu gewinnen, weil die italienischen Haftbefehle gegen sie in wenigen Wochen oder Monaten verjähren.
Die Neun, die am 28. April in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verhaftet wurden oder sich am nächsten Tag der Justiz stellten, gehören zu den etwa 300 Männern und Frauen, die sich Anfang der 1980er Jahre der italienischen Justiz entzogen hatten und vom französischen Präsidenten François Mitterand politisches Asyl erhielten. Die meisten von ihnen kamen aus den militanten und bewaffneten Zusammenhängen der 1970er und frühen 1980er Jahre. Etwa 50 sind bis heute in Frankreich geblieben, einige haben die französische Staatsbürgerschaft angenommen.
Bei den Verhafteten geht es um zwei Frauen und drei Männer aus den Roten Brigaden – Marina Petrella, Roberta Cappelli, Sergio Tornaghi, Enzo Calvitti und Giovanni Alimonti – und die Gründungsmitglieder der Lotta Continua und der Nuclei Armati, Giorgio Pietrostefani und Narciso Manenti. Von drei weiteren Gesuchten stellten sich zwei der Justiz: Luigi Bergamin und Raffaele Ventura, frühere Mitglieder der Guerillagruppen PAC und FCC. Maurizio Di Marzio aus den Roten Brigaden konnte sich der Verhaftung entziehen. Sie sind alle zwischen 63 und 77 Jahre alt und in Italien zu Haftstrafen von elf Jahren bis Lebenslänglich verurteilt.
Die Regierung Mitterands hatte 1981 zugesichert, dass keine der in Italien wegen “politisch motivierter Gewaltakten” Gesuchten, die dem bewaffneten Kampf den Rücken gekehrt hatten, ausgeliefert würden. Diese Asylregelung wurde 1985 als “Mitterand-Doktrin” bestätigt und von der italienischen Justiz insofern akzeptiert, als Rom erst 1996 das zwischenstaatliche Auslieferungsdekret der EU ratifiziert hat. Seitdem ist die Doktrin, bis auf zwei Ausnahmen, von allen französischen Regierungen eingehalten worden.
Macron will dem anscheinend ein Ende bereiten, indem er dem Auslieferungsersuchen Italiens nachgab und seinem Justizminister nach monatelangem Feilschen grünes Licht für die zehn Haftbefehle erteilte. Seine Entscheidung kommentierte er mit der ihm geläufigen Gleichsetzung der bewaffneten Linken mit islamistischen Anschlägen: “Frankreich, selbst vom Terrorismus getroffen, versteht das absolute Gerechtigkeitsbedürfnis der Opfer.” Der Präsidentschaftskandidat der Opposition, Jean-Luc Mélenchon, bezeichnete das Vorhaben auf Twitter als “Racheakt, ohne Sinn für Gedächtnis, Unterschiede oder zeitliche Distanz.” Die französische Menschenrechtsliga wirft Macron in einer Erklärung den “Bruch mit jeglicher Ethik” vor.
Die Anwältin von fünf der Betroffenen, Irène Terrel de Félice, reagierte “entsetzt” auf das Regierungsvorhaben. Sie bezeichnete es als einen “unbeschreiblichen Verrat und Gesetzesbruch”. “Ihnen ist vom Staat Asyl gewährt worden, das heißt von den Behörden der Linken und Rechten, nicht von François Mitterand. Seit den 1980er Jahren leben diese Leute unter dem Schutz Frankreichs, sie haben seit 30 Jahren ihr Leben neu organisiert, sind für alle sichtbar, mit ihren Kindern, Enkelkindern, und, eines Morgens, werden sie in einer Minirazzia abgeholt, 40 Jahre nach den Vorfällen.”
Mehrere Anwälte, Journalisten und Intellektuelle wie Etienne Balibar hatten schon am 20. April in der Tageszeitung Le Monde einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie dafür plädierten, dem Auslieferungsersuchen nicht stattzugeben. Der Aufruf wird zur Zeit verbreitet, um weitere Unterschriften zu sammeln. Antifa und Gelbe Westen haben ein Unterstützungskomitee gegründet. Auch in Italien mobilisieren Militante gegen die Auslieferung und für eine Amnestie für alle aus diesem Zusammenhang, die dort noch im Knast sind. Um dem Nachdruck zu verleihen, hat Oreste Calzone, einer der Gründer der Bewegung Potere Operaio, der selbst in Frankreich Asyl gefunden hat, angekündigt, in den Hungerstreik zu treten.
Das Auslieferungsverfahren vor dem Berufungsgericht beginnt am Mittwoch und wird voraussichtlich mehrere Monate dauern.