„Yildirim“ war sehr lange in Deutschland beliebt. Er hat den türkischen Fahrlehrer gespielt, der den Deutschen erklärt, wo es langgeht. Das ging jahrelang gut. Aber manchmal reichen 20 Minuten, damit es mit „unserem“ Türken vorbei ist.
„Yildirim“ war eine Kultfigur. Man hat ihn ins Herz geschlossen. Man hat gelacht – sogar über sich selbst, wenn er „die Deutschen“ parodiert hatte. Das war manchmal hart, aber dann hat er uns zugeblinzelt und wir haben es ihm verziehen.
Und dann das. Ende Januar hat Kaya Yanar ein TV-Video unter dem Titel „Tagesguck“ mit besagten 20 Minuten hochgeladen. Vieles davon ist sehr lustig, sehr makaber, sehr pointiert. Aber er hatte ein völlig falsches Thema gewählt: Den Nahostkonflikt. Im Zentrum steht der israelische Einmarsch in Gaza, nachdem am 7. Oktober 2023 bewaffneten Palästinenser den Gefängnis-Zaun bzw. die Mauer überwunden hatten. Sie griffen Polizei- und Militärposten an, richteten ein Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung an und nahmen etwa 150 Israelis als Geißel. Nun übt seit über drei Monaten das israelische Militär in Gaza ein „Selbstverteidigungsrecht“ aus. Yildirim spricht über das, was seitdem in Gaza passiert, dass Zehntausende ermordet wurden, die nichts mit Hamas zu tun haben und über die vielen Lügen, die diesen Krieg rechtfertigen sollen.
Präzise Vorwürfe
Er ist sehr präzise in seinen Vorwürfen. Er belegt sie haargenau. Lügen, über die in Deutschland, in den öffentlich-rechtlich-privaten Anstalten so gut wir nicht gesprochen wird. Er weist etwa 20 Quellen aus, auf die er sich bezieht.
Er führt einige eindrucksvolle Beispiele aus der Nahzeit auf:
Da wäre die Lüge von „40 geköpften Babys“ am 7. Oktober 2023 auf israelischem Gebiet. Oder das israelische Armee-Video, das Waffen in einem Krankenhaus in Gaza zeigt, um zu beweisen, dass die Hamas dieses als Operationsbasis nutzt. Yildirim belegt anhand von Recherche-Videos, dass die Waffenfunde manipuliert wurden.
Wirklich eindrucksvoll ist auch eine Szene, in der man ein Blatt Papier an der Wand eines Krankenhauses in Gaza sieht, auf dem arabische Zeichen zu sehen sind. Der Kommentator erklärt den ZuschauerInnen, dass es sich bei dieser Liste um einen Dienstplan der Hamas handele, in den sich die Kämpfer für ihre Schicht eingetragen hatten. Tatsächlich waren dort keine Namen aufgeführt, sondern nur die Wochentage auf Arabisch.
Am Ende spricht nicht Yildirim, sondern er selbst: Kaya Yanar. Er beklagt das Leid, das im Gazastreifen angerichtet wird. Das Völkerrecht werde tagtäglich mit Füssen getreten. „Ich bin erschüttert über das Leid der unschuldigen Männer, Frauen und vor allem der Kinder“.
Anzeige wegen Volksverhetzung
Wer diese Anzeige gestellt hat, weiß man nicht. Man weiß nur, dass diese mit dem 20-minütigen Video begründet wird. Diese Anzeige hat prominente Unterstützer. Dazu zählt auch die „Jüdische Allgemeine“.
Die Autorin Nicole Dreyfus kommt gleich zur Sache:
„Nun also auch Sie. Sie haben die Seite gewechselt. Das dürfen Sie. Sie setzen sich in einem 20-minütigen Video, oder sagen wir besser in einem Plädoyer, für die palästinensische Bevölkerung ein, decken vermeintliche ‚Desinformation‘ auf, weisen auf potenzielle Fake News hin und gehen mit Israel hart ins Gericht. Und dies alles in Ihrer Kultrolle als ‚Yildirim‘. Sie haben sich die Mühe gemacht, sämtliche Statements der israelischen Armee und Ausschnitte verschiedenster TV-Beiträge zu analysieren und zu kommentieren. Alles legitim. Aber warum in der Rolle einer Kultfigur?“
Man fragt sich sofort, was sie daran stört? Der Inhalt oder der Umstand, dass ein Comedian eine „Kultfigur“ benutzt, so wie er das jahrelang gemacht hat.
Man kann es erahnen, mehr als das. Es geht nicht um den Inhalt, um die Frage, ob seine Demontage von Kriegslügen und Kriegspropaganda Bestand hat, ob man begründete Zweifel dagegen vorbringen kann.
Es geht ihr allen Ernstes um die „Kultfigur“. Was geht sie das an? Ist es ihr Job, welche Kunstfigur zum Einsatz kommt? Nein.
Aber man kann den Grund erahnen. Er stinkt geradezu zum Himmel. Diese Kultfigur erreicht Hunderttausende von Zuschauer. Und das war in diesem Fall so. Innerhalb von wenigen Tagen hatte diese „Tagesguck“-Ausgabe über 600.000 Zuschauer.
In dem ganzen Beitrag geht es mit keinem Wort um die gemachten Vorwürfe. Dass das früher schon so war und jetzt wiederholt wird, gehört zum Abnick-Journalismus, der gegen jedes Kopfschütteln verteidigt werden muss.
Kaya Yanar weiß um diesen Mechanismus und benennt sie:
„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Wer zehn Mal lügt, dem ist es scheißegal. (…) Mark Twain hat einmal gesagt: Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.“
Wenn Nicole Dreyfus gar nichts den Vorwürfen entgegnen kann und will, dann muss sie den Boten fertigmachen. Und wieder spielt eine Begründung, eine Erklärung am Gesagten nicht die geringste Rolle.
Geradezu blind kommt sie zum Ab-Schluss:
„Satire darf das, höre ich Sie sagen. Gewiss. Wir wollen Sie nicht canceln. Es geht auch gar nicht darum zu urteilen, wie viel Satire adäquat ist oder was ihre Funktion ist. Aber Sie gehen antisemitischen Klischees auf den Leim, und Ihre Fangemeinde nimmt es mit Handkuss auf.“
Diese Passage ist selbst satirereif. Zuerst die Zusage, dass „wir Sie nicht canceln“ wollen. Und dann ein Cancel-Akt aus der Prime League.
Sie wirft Kaya Yanar vor, antisemitischen Klischees auf den Leim gegangen zu sein. Das hat die Qualität jenes Blatt Papiers, auf die Hamas-Kämpfer ihr verbrecherisches Tun dokumentiert haben sollen.
Der Antisemitismus-Vorwurf als Leim für Haltloses
Nicole Dreyfus arbeitet mit Wortsalven und Paintballs, anstatt sich die Mühe zu machen, eben nicht die Cancel-Methode zu übernehmen, sondern mit solchen schwerwiegenden Vorwürfen achtsam umzugehen.
Dass ihr das von Kaya Yanar Gesagte egal ist, gehört zur Methode, zu ihrem Achtsamkeitstraining. Aber es ist doch besonders, wenn sie den Antisemitismus-Vorwurf wie Streusalz benutzt.
Frau Nicole Dreyfus
Frau Nicole Dreyfus, ich bin mir sicher, dass Sie genug über Antisemitismus wissen. Wir können uns also schnell und zügig darauf einigen, dass im Antisemitismus der Jude als imaginären Feind im Zentrum steht. Verstehen Sie? Der Jude als imaginärer Feind, der tatsächlich weder die Macht hat, noch die übermächtigen Verbindungen spielen lassen kann, die man ihm zuschreiben muss, um von den wirklichen Machtverhältnissen abzulenken.
Klingelt es jetzt? Nein?
Wenn Menschen in Gaza verzweifelt, wütend und vielleicht sogar hasserfüllt auf „die Juden“ sind, dann imaginieren sie nicht die Juden als allmächtigen Feind. Sie haben vielmehr die realen Machtverhältnisse vor Augen, in denen der jüdische Staat ihnen erklärt, wo er anfängt, wo er aufhört, was er mit den Palästinensern machen kann und will, wie er lebt, wann nicht mehr.
Wenn also, Frau Dreyfus, die Palästinenser irgendetwas nicht brauchen, dann ist es Antisemitismus. Wenn ihn jemand braucht, in dieser entstellten Form, dann sind Sie es.
Der Antisemitismusvorwurf als Pürierstab
Kaya Yanar hat sich zu diesen Vorwürfen geäußert:
„Der Antisemitismus-Vorwurf, den sich jetzt manche Tastatur-Akrobaten aus deutschen Redaktionen herbei dichten wollen, ist haltlos und verletzend (…) Wie kann man aus einer Kritik an einem militärischen Vorgehen einer Regierung schlussfolgern, dass man das Volk Israels und sogar darüber hinaus alle Menschen jüdischen Glaubens dafür zur Verantwortung zieht? Diese Denke fühlt sich für mich rassistisch an und entspricht nicht meiner Art zu denken.“
„Ich hoffe, wir sind nicht abgestumpft. Denn wenn wir unsere Smartphones zücken, tauchen wir in eine wilde virtuelle Welt ein, die uns in Sekundenschnelle mit Bildern konfrontiert, die viel zu weit von unserer eigenen Lebensrealität entfernt sind. Aber das ist echt. Das passiert gerade wirklich. Echte Bomben töten echte Menschen. Die Hinterbliebenen zittern, schreien und weinen. Während unsere führenden Politiker, Medien das alles mit Selbstverteidigungssrecht rechtfertigen. Da ist eine Mutter, die sich wünscht, noch einmal die Stimme ihrer toten Tochter zu hören (…) eine Tochter, die sich wünscht, statt ihrer Mutter getötet worden zu sein. (…) Nie wieder ist jetzt, für alle.“
Ich bin sehr dankbar für den Menschen Kaya Yanar. Und wir müssen sehr viel tun, damit er nicht alleine bleibt, dass wir zusammenbleiben, damit wir seine Stimme hören können und wir unsere Stimme erheben.
Quellen und Hinweise
Tagesguck-Sondersendung, Januar 2024: https://www.youtube.com/watch?v=5H00APE8L8c
Wir sind enttäuscht von Ihnen. Sie gehen antisemitischen Klischees auf den Leim, Jüdische Allgemeine/Nicole Dreyfus vom 02.02.2024: https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/lieber-kaya-yanar/
„Muss ein Irrtum sein“. Anzeige gegen Comedian Kaya Yanar wegen Volksverhetzung, Focus.de vom 09.02.2024: https://www.focus.de/kultur/stars/muss-ein-irrtum-sein-anzeige-gegen-comedian-kaya-yanar-wegen-volksverhetzung_id_259654839.html
Palästinenser brauchen keinen imaginären Feind, 2024, Wolf Wetzel: https://overton-magazin.de/hintergrund/kultur/palaestinenser-brauchen-keinen-imaginaeren-feind/
‘Nakba 2.0?‘ Israel: ethnische Säuberung als politisches Programm und die deutsche Staatsräson: https://klartext-info.de/?p=1318
Wolf Wetzel
https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/yildirim-ist-gestorben-dafuer-sorgen-wir/