18. Oktober 77: Todesnacht in Stammheim

Anlässlich des Jahrestages der Todesnacht in Stammheim dokumentieren wir hier einen Artikel von Jürgen Schneider über das Buch „Todesnacht in Stammheim“ von Helge Lehmann und möchten damit auch die Veranstaltung am 27. Oktober 2011 in Hamburg zu diesem Buch bewerben.

Zur Erinnerung: Am 18. Oktober 1977 werden Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Tod in ihren Zellen aufgefunden. Irmgard Möller überlebt schwer verletzt. Alle Gefangenen sind seit dem 6.9. von allen Kontakten sowohl untereinander wie mit Dritten abgeschnitten, während hingegen die staatlichen Behörden ungehinderten, unkontrollierten Zugang zu den Gefangenen im 7. Stock des Stammheimer-Traktes haben. Die staatliche Selbstmordversion hinterlässt zahlreiche unauflösbare Widersprüche. Irmgard Möller zur Selbstmordversion: „Keiner hatte die Absicht des Selbstmordes“.

»Oft reicht es schon, dass eine Lüge nur eine Stunde lang geglaubt wird, dann hat sie ihren Dienst getan und es braucht keine zweite (…) Wenn die Leute merken, dass sie übers Ohr gehauen wurden, ist es schon zu spät (…) die Geschichte hat das gewünschte Ergebnis gebracht.« – Jonathan Swift, »Die Kunst der politischen Lüge«

»Was habt ihr in Stammheim gemacht?« – Frage des faschistischen Diktators Pinochet an den Chile-Reisenden Norbert Blüm (»Spiegel« 32/1987)

VORSPIEL: Von der Nacht des 17. auf den 18. Oktober 1977 kolportiert der Erste Kriminalhauptkommisar Alfred Klaus von der »Soko B/M« das folgende Szenario vom »Griffe-Kloppen« des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt sowie des CSU-Fraktionsführers Friedrich Zimmermann, beide Mitglieder des Krisenstabes: »Die beiden sollen sich, so hörte ich, in der ›Nacht des Triumphes‹ gegenseitig mit einem Regenschirm demonstriert haben, wie die von Rekruten zu exerzierende Ausführung der Kommandos ›Gewehr über‹ … ›Gewehr ab‹ … ›präsentiert das Gewehr‹ aussehen müsse.« Zimmermann habe sich dahingehend geäußert, die Politiker hätten sich in der Nacht vor dem Triumph der GSG 9 wie vor einem Sturmangriff gefühlt. »Hier entlarvte sich die Mentalität der Leutnants und Oberleutnants des Zweiten Weltkrieges. Für sie hätte Nachgeben Feigheit vor dem Feind bedeutet, und deshalb gaben sie nicht nach – ohne Rücksicht auf Verluste.« (Alfred Klaus mit Gabriele Droste, »Sie nannten mich Familienbulle. Meine Jahre als Sonderermittler gegen die RAF«, 2008, S. 296/97)

Derweil nimmt im Gefängnis Stuttgart-Stammheim zwischen 2.00 und 3.00 Uhr der Häftling Werner W. wahr, dass drei Zivilfahrzeuge der Marke Mercedes-Benz in den Innenhof der Anstalt fahren. Er teilt diese Beobachtung am Abend der Diskussionsrunde von Gefangenen mit, an der er regelmäßig teilnimmt. Der Häftling bekräftigt seine Beobachtung bei einer Befragung durch Ermittlungsbeamte. Der ihn vernehmende Beamte ergänzt allerdings das Protokoll durch einen Nachtrag, in dem er diesen Vorfall auf die Nacht des 16./17. Oktober vorverlegt. Dieser Nachtrag ist weder datiert, noch durch die Unterschrift des Häftlings autorisiert.

Was hat es mit diesen Fahrzeugen auf sich? Diesen und anderen Fragen geht Helge Lehmann in dem vor vier Wochen im Verlag Pahl-Rugenstein erschienenen Buch »Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung. Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren« nach. Die darin vorgelegten Indizien sind in ihrer Summe so schwerwiegend, dass sie die selbsternannten RAF-Experten mit ihrer Litanei vom »nachgewiesenen Selbstmord« der einst in Stammheim inhaftierten Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe haben verstummen lassen. Es herrscht Schweigen in den Mainstream-Medien, wie einst 1977 unmittelbar nach der Schleyer-Entführung, als Presse, Rundfunk, Fernsehen und Presseagenturen der Bitte des Regierungssprechers Klaus Bölling vom 8. September 1977 nachkamen und die Nachrichtensperre befolgten. Längst gilt als Verschwörungstheoretiker oder Sektenmitglied, wer ob der vielen Ungeklärtheiten und Ungereimtheiten der Stammheimer Nacht sich den Philosophen-Qualitäten verpflichtet, die Theodor W. Adorno in seiner »Vorlesung über Negative Dialektik« nannte: »… die Qualität des Bohrenden, des Insistenten, des sich nicht Bescheidens …« Oder anders formuliert: In jedem »Tatort«-Krimi wird sorgfältiger ermittelt, gebohrt und insistiert, als es in Sachen Stammheim der Fall war und ist. Wer als Bürger ernst genommen werden möchte, muss seinen unbedingten Glauben an die staatsoffizielle Selbstmord-Behauptung ebenso kundtun wie sein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Lehmann zeigt, dass mit der am 18.10.1977 um 8 Uhr 53 abgesetzten dpa-Meldung – »eileil baader und ensslin haben selbstmord begangen« – »eine einseitige Ermittlungsrichtung des TEV [Todesermittlungsverfahren] wie auch im Untersuchungsausschuss des Landtages von Baden-Württemberg vorgegeben wurde«. Der Bonner Krisenstab lässt die Nachricht verbreiten, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Ermittlungen zu den möglichen Todesumständen »der wie Geiseln behandelten Gefangenen« (Karl-Heinz Weidenhammer) noch gar nicht begonnen hatten. Die dpa-Meldung, so Lehmann, gibt auch die Richtung der nachfolgenden Ermittlungen vor. »Der Leiter der Sonderkommission Stammheim, Günter Textor vom BKA, stellte später fest, dass seine Behörde von der Staatsanwaltschaft nur den Auftrag bekam, in Richtung Selbstmord zu ermitteln. «

Über sein Vorgehen schreibt Lehmann eingangs: »Die Indizienkette beruht nicht auf Behauptungen, Vermutungen oder Annahmen, sondern auf Aktenmaterial und Aussagen, die ich mit Quellennachweisen belegen werde. Untermauert werden einzelne Indizien durch verschiedene Testaufbauten.« Seine Anfragen auf Akteneinsicht zu diversen offenen Fragen wurden für die wichtigsten Akten (u. a. die des Großen und Kleinen Krisenstabes sowie die originalen Akten des TEV, sowie generell die des Bundeskriminalamtes) abschlägig beschieden mit der Begründung, die Einsicht gefährde die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland.

Lehmann geht zunächst der Frage nach, ob es möglich gewesen ist, Waffen und Sprengstoff in den 7. Stock des Hochsicherheitsgefängnisses Stuttgart-Stammheim zu den dort einsitzenden Gefangenen aus der RAF zu schmuggeln. Dies soll während der Gerichtsverhandlung im Mehrzweckgebäude von Anwälten der Angeklagten bewerkstelligt worden sein, die Hohlräume in präparierten Handakten als Verstecke benutzt hätten, ohne dass dies den kontrollierenden Beamten des Landeskriminalamtes aufgefallen sei, Die Waffenschmuggel-Theorie stützt sich lediglich auf die Aussage des Kronzeugen Volker Speitel.

Lehmanns erster Testaufbau besteht darin, eine »Handakte« zu präparieren. Seine Bilder zeigen allerdings die Präparierung eines Aktenordners. Und obwohl er schreibt, die Handfeuerwaffen seien laut Speitel in Einzelteilen geschmuggelt worden, legt er in den von ihm verklebten Hohlraum eine komplette Waffe, Griffschalen inklusive. Bei den in den Zellen von Baader und Raspe aufgefundenen Waffen fehlten allerdings die Griffschalen. Die Waffen konnten also nicht mit Griffschallen nach Stammheim gekommen sein. Das Ergebnis des Lehmann-Testes: Die Akte hätte sich nicht richtig durchblättern lassen, und der Hohlraum wäre sofort aufgefallen. Zudem setzt Lehman auf die Aussagen von 30 für die Kontrolle zuständigen Kriminalbeamten, sie seien bei ihren Durchsuchungen stets sorgsam vorgegangen. Kann man von Kriminalbeamten, die zudem ein Korpsgeist eint, erwarten, dass sie sich selbst bescheinigen, schlampig und nachlässig kontrolliert zu haben? Zudem, so Butz Peters, sei der »Grabbeldienst« nicht sonderlich beliebt gewesen. Durch den häufigen Wechsel, so zitiert Peters ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart, fehlt den Polizisten »eine ausreichende Routine«. (Butz Peters, »Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF«, 2004, S. 455)

Volker Speitel, Bürogehilfe im Stuttgarter Büro der Rechtsanwälte Arndt Müller und Armin Newerla, lässt sich am 2. Oktober 1977 in Puttgarden im Skandinavien-Express von Kopenhagen nach Hamburg festnehmen. Speitel war 1975 zu den Illegalen der RAF gestoßen, von diesen aber wieder in die Legalität zurückgeschickt worden, weil er schon beim Anblick eines Polizeibeamten panische Reaktionen zeigte. Schon vor seiner Festnahme im Oktober 1977 hatte er über Mittelsmänner der BRD-Sicherheitsbehörden, die gegen ihn wegen seiner angeblichen Beteiligung an der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm ermittelten, »wissen wollen, welche Chancen er habe, wenn er … zurückkehre«. (Weidenhammer, »Selbstmord oder Mord? Todesermittlungsverfahren Baader Ensslin Raspe«, 1988, S. 221) »Dabei soll es unter anderem in Basel, Brüssel und in Frankfurt a. M. zu Kontaktaufnahmen und Gesprächen gekommen sein.« (ibid.) Laut Generalbundesanwalt Rebmann soll Speitel erst nach dem 18. Oktober 1977 Aussagen gemacht haben. Von den Anwälten der wegen des angeblichen Waffenschmuggels verurteilten Rechtsanwälte Müller und Newerla erfuhr Lehmann »verbindlich, dass Speitels erste kooperative Vernehmung durch das BKA gleich nach seiner Verhaftung statt gefunden hatte.« Kurz darauf wird die Kanzlei, in der Speitel arbeitete, durchsucht und versiegelt. Anlass war der Hinweis von Speitel auf Aktenverstecke im Kopierraum der Kanzlei. Später werden aufgrund der Hinweise von Speitel in einem Versteck die Griffschallen der bei Raspe gefundenen Waffe sichergestellt. (s. Klaus Stern/Jörg Hermann, »Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes«, 2007, S. 304) Das Ex-RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo führt in dem Buch »Das Projektil sind wir« (2007, S. 149) aus: »Der spätere Kronzeuge Volker Speitel hatte damals die ganze Kommunikation zwischen den Illegalen und den Stammheimern organisiert. Mit meinem Bruder zusammen sorgte er für den Transport der Waffen nach Stammheim.«

Gehen wir also davon aus, dass es doch möglich war – auf welchem Wege auch immer – Waffen nach Stammheim zu schmuggeln, dass Speitel die Waffentransporte vorbereitete und unmittelbar nach seiner Festnahme im Verhör durch BKA-Beamte sein Detailwissen preisgab, so konnten die Sicherheitsbehörden mit diesem Wissen operieren, es in das »wilde Denken« integrieren, zu dem Bundeskanzler Helmut Schmidt bereits in der Nacht nach der Entführer des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer den Generalbundesanwalt Rebmann angeregt hatte. Die Akten über die erste Vernehmung von Speitel, so Lehmann, »sind nicht zugänglich bzw. auffindbar«.
In einem zweiten, aufwendigen Testaufbau weist Lehmann nach, dass das Ergebnis des Untersuchungsausschusses des baden-württembergischen Landtages, wonach sich die Gefangenen über eine » Wechselsprechanlage« zum Selbstmord verabredet hätten, nicht den Tatsachen entsprechen kann: »Das unsaubere technische Gutachten, die fehlenden Elektromaterialien, das Verbindungsproblem in Zelle 721 sowie die generelle Unmöglichkeit eines Aufbaus während der Kontaktsperre beweist deutlich, dass die offizielle Darstellung auch an dieser Stelle falsch ist und hier versucht wurde und wird, eine Absprache zum Selbstmord der RAF-Häftlinge in der III: Abteilung in der Öffentlichkeit plausibel erscheinen zu lassen.« In dem Buch »RAF – Das war für uns Befreiung« (1997, S. 124) sagt Irmgard Möller, die Gefangenen hätten zeitweilig ein Kommunikationssystem über die Leitungen des Anstaltsrundfunks gehabt. Sie fährt fort: »Es ist auch richtig, dass der BND uns darüber abgehört hat. Das ist in den letzten Tagen des Stammheimer Prozesses öffentlich thematisiert worden. In der Zeit der Kontaktsperre gab es dieses System aber viele Monate schon nicht mehr. Wir hatten uns gedacht: Was soll so eine aufwendige Geschichte, wenn wir eh abgehört werden.«

In einer dritten Versuchsanordnung geht Lehmann der Frage nach, warum in der Todesnacht von Stammheim niemand Schüsse gehört hat. Er kommt nach seinen Schussversuchen und den Aussagen der Häftlinge, die damals im 6. Stock des Stammheimer Gefängnisses untergebracht gewesen sind und die selbst die Betätigung der Klospülung im 7. Stock wahrnahmen, zu dem Schluss, »dass Schüsse aus Waffen ohne Schalldämpfer hätten auffallen müssen«.

Andreas Baader soll, so die staatsoffizielle Version, die Waffe, mit der er sich erschossen haben soll, mit Büroklammern in seinem Plattenspieler befestigt haben. Lehmann besorgte sich ein Modell des Baader’schen Plattenspielers und musste feststellen, dass es ihm nicht gelang, die Waffe auf die genannte Weise zu fixieren, »denn es gibt keine brauchbaren Löcher, um dort Büroklammern oder auch einen Draht zu befestigen und dann daran die Waffe.« Der bereits genannte BKA-Mann Textor hatte das Waffenversteck im Plattenspieler als » hypothetische Annahme« bezeichnet. Die medialen »RAF-Experten« behandeln das angebliche Waffenversteck im Plattenspieler allerdings als gesicherte Tatsache.

An der Waffe, mit der sich Baader erschossen haben soll, wurden keinerlei Fingerabdrücke nachgewiesen. Ebenso wurden, obwohl Baader drei Schüsse abgegeben haben soll, weder an seiner rechten noch an seiner linken Hand eindeutige Schmauchspuren festgestellt. Die durch den aufgesetzten Kopfschuss entstandene Stanzmarke entsprach nicht dem Lauf der Pistole FEG 7,65 mm. Die Spur 6 mit Blut- und Hautgewebeanhaftungen ist verschwunden. Ein Schusstest, mit dem hätte festgestellt werden können, ob tatsächlich aus der gefundenen Waffe abgefeuert wurde, unterblieb und damit der Nachweis, dass die gefundenen und laut Lehmann in der Zelle gezielt abgelegten Projektile tatsächlich aus der FEG stammten. Und: »Wie kann die Waffe, mit der Baader dreimal geschossen haben soll, nach dem tödlichen Schuss ›gespannt und gesichert‹ aufgefunden werden?«
Bei Jan- Carl Raspe zeigt sich ein ähnliches Bild. Nicht eindeutig aufgeklärt wurde, wo sich die Waffe befand, als die Schließer den schwer verletzten Gefangenen fanden. An der Waffe wurden ebenfalls keine Fingerabdrücke festgestellt und auch keine Schmauchspuren an der rechten Hand, mit der er den tödlichen Schuss abgefeuert haben soll.

Bei Gudrun Ensslin spricht der Gutachter Prof. Pfeiffer in seinem Gutachten eindeutig davon, dass der Tod nicht durch Erhängen eingetreten sein kann. Auf diese Diskrepanz zu der offiziellen Ermittlungsrichtung ist er in seinem Gutachten nicht eingegangen, Gravierender jedoch ist die Tatsache, dass die Ermittlungsbehören diese eindeutige Feststellung ignorieren und keine weiteren Ermittlungen zu anderen Todesursachen anstellen. Stattdessen wie schon bei Ulrike Meinhof eine Unterlassung: Der bei Verdacht auf Selbstmord durch Erhängen obligatorische Histamin-Test unterbleibt. Es lässt sich anhand der Aussagen und Akten nicht einmal mehr zweifelsfrei rekonstruieren, wo denn der Stuhl gestanden hat, von dem Gudrun Ensslin in den Tod gesprungen sein soll.
Bei der in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 schwer verletzten Irmgard Möller hatte Prof. Hans-Eberhard Hoffmeister einen ca. 7 Zentimeter langen Stichkanal festgestellt, der mit einer ziemlichen Wucht geführt worden sein musste. Diese Heftigkeit des Stichs ist von der Staatsanwalt nie erwähnt worden. Die damals angefertigte Röntgenaufnahme vom Thorax der Verletzten, die eventuell darüber Auskunft geben könnte, ob die Verletzung durch Fremdeinwirkung oder von eigener Hand erfolgte, ist unter Verschluss. Das angeblich von Irmgard benutzte Anstaltsmesser wies ebenfalls keine Fingerspuren auf.

Lehmann, der seine Recherchen 2006 begann, nachdem ihn die Aust-Schwarte »Der Baader Meinhof Komplex« wegen der dürftigen Quellenangaben und dem Ich-schreibe-als-sei-ich-dabei-gewesen-Gehabe arg enttäuscht hatte, wartet noch mit vielen Indizien mehr auf, die Zweifel an der staatsoffiziellen Behauptung vom Selbstmord begründen. Ihm bleibt die Erkenntnis, »dass der Staat im Zusammenspiel Krisenstab – Nachrichtensperre – Kontaktsperre die Freiheit hatte, jedwede Handlungen unbehelligt von jeglicher Kontrolle vorzunehmen.« Ohne immensen öffentlichen Druck, der sich freilich angesichts der paralysierten sozialen Bewegungen in diesem Lande nicht antizipieren lässt, wird die Untersuchung Lehmanns, der eine größtmögliche Verbreitung zu wünschen ist, allerdings folgenlos bleiben. Die unter Verschluss gehaltenen Akten werden unter Verschluss bleiben. Die staatlichen Organe und deren willige Hofberichterstatter werden an der von ihren verfolgten RAF-Bewältigungsstrategie festhalten und auch an der Staatsraison, der auch der einstige SS-Führer Schleyer geopfert wurde. Auch 2011 wird sich die von Rechtsanwalt Weidenhammer 1988 geäußerte Hoffnung nicht erfüllen, dass der UN-Menschenrechtsausschuss kraft seines Ansehens und seiner Autorität eine internationale Untersuchungskommission beauftragen möge.

Bereits 1980 hatte BKA- Mann Textor im »Stern« verkündet: »Die Staatsanwaltschaft – die objektivste Behörde der Welt – hat das Verfahren eingestellt. Damit ist der Fall ein für allemal abgeschlossen und damit basta.«

Helge Lehmann, »Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung. Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren«. – Bonn: Pahl-Rugenstein Verlag, 2011, 238 S., mit 68 Abbildungen und Dokumenten-CD, ISBN 978-3-89144-437-5, 19,90 EUR (D)

Die Todesnacht in Stammheim

von Jürgen Schneider

»Oft reicht es schon, dass eine Lüge nur eine Stunde lang geglaubt wird, dann hat sie ihren Dienst getan und es braucht keine zweite (…) Wenn die Leute merken, dass sie übers Ohr gehauen wurden, ist es schon zu spät (…) die Geschichte hat das gewünschte Ergebnis gebracht.« – Jonathan Swift, »Die Kunst der politischen Lüge«

»Was habt ihr in Stammheim gemacht?« – Frage des faschistischen Diktators Pinochet an den Chile-Reisenden Norbert Blüm (»Spiegel« 32/1987)

VORSPIEL: Von der Nacht des 17. auf den 18. Oktober 1977 kolportiert der Erste Kriminalhauptkommisar Alfred Klaus von der »Soko B/M« das folgende Szenario vom »Griffe-Kloppen« des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt sowie des CSU-Fraktionsführers Friedrich Zimmermann, beide Mitglieder des Krisenstabes: »Die beiden sollen sich, so hörte ich, in der ›Nacht des Triumphes‹ gegenseitig mit einem Regenschirm demonstriert haben, wie die von Rekruten zu exerzierende Ausführung der Kommandos ›Gewehr über‹ … ›Gewehr ab‹ … ›präsentiert das Gewehr‹ aussehen müsse.« Zimmermann habe sich dahingehend geäußert, die Politiker hätten sich in der Nacht vor dem Triumph der GSG 9 wie vor einem Sturmangriff gefühlt. »Hier entlarvte sich die Mentalität der Leutnants und Oberleutnants des Zweiten Weltkrieges. Für sie hätte Nachgeben Feigheit vor dem Feind bedeutet, und deshalb gaben sie nicht nach – ohne Rücksicht auf Verluste.« (Alfred Klaus mit Gabriele Droste, »Sie nannten mich Familienbulle. Meine Jahre als Sonderermittler gegen die RAF«, 2008, S. 296/97)

Derweil nimmt im Gefängnis Stuttgart-Stammheim zwischen 2.00 und 3.00 Uhr der Häftling Werner W. wahr, dass drei Zivilfahrzeuge der Marke Mercedes-Benz in den Innenhof der Anstalt fahren. Er teilt diese Beobachtung am Abend der Diskussionsrunde von Gefangenen mit, an der er regelmäßig teilnimmt. Der Häftling bekräftigt seine Beobachtung bei einer Befragung durch Ermittlungsbeamte. Der ihn vernehmende Beamte ergänzt allerdings das Protokoll durch einen Nachtrag, in dem er diesen Vorfall auf die Nacht des 16./17. Oktober vorverlegt. Dieser Nachtrag ist weder datiert, noch durch die Unterschrift des Häftlings autorisiert.

Was hat es mit diesen Fahrzeugen auf sich? Diesen und anderen Fragen geht Helge Lehmann in dem vor vier Wochen im Verlag Pahl-Rugenstein erschienenen Buch »Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung. Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren« nach. Die darin vorgelegten Indizien sind in ihrer Summe so schwerwiegend, dass sie die selbsternannten RAF-Experten mit ihrer Litanei vom »nachgewiesenen Selbstmord« der einst in Stammheim inhaftierten Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe haben verstummen lassen. Es herrscht Schweigen in den Mainstream-Medien, wie einst 1977 unmittelbar nach der Schleyer-Entführung, als Presse, Rundfunk, Fernsehen und Presseagenturen der Bitte des Regierungssprechers Klaus Bölling vom 8. September 1977 nachkamen und die Nachrichtensperre befolgten. Längst gilt als Verschwörungstheoretiker oder Sektenmitglied, wer ob der vielen Ungeklärtheiten und Ungereimtheiten der Stammheimer Nacht sich den Philosophen-Qualitäten verpflichtet, die Theodor W. Adorno in seiner »Vorlesung über Negative Dialektik« nannte: »… die Qualität des Bohrenden, des Insistenten, des sich nicht Bescheidens …« Oder anders formuliert: In jedem »Tatort«-Krimi wird sorgfältiger ermittelt, gebohrt und insistiert, als es in Sachen Stammheim der Fall war und ist. Wer als Bürger ernst genommen werden möchte, muss seinen unbedingten Glauben an die staatsoffizielle Selbstmord-Behauptung ebenso kundtun wie sein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Lehmann zeigt, dass mit der am 18.10.1977 um 8 Uhr 53 abgesetzten dpa-Meldung – »eileil baader und ensslin haben selbstmord begangen« – »eine einseitige Ermittlungsrichtung des TEV [Todesermittlungsverfahren] wie auch im Untersuchungsausschuss des Landtages von Baden-Württemberg vorgegeben wurde«. Der Bonner Krisenstab lässt die Nachricht verbreiten, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Ermittlungen zu den möglichen Todesumständen »der wie Geiseln behandelten Gefangenen« (Karl-Heinz Weidenhammer) noch gar nicht begonnen hatten. Die dpa-Meldung, so Lehmann, gibt auch die Richtung der nachfolgenden Ermittlungen vor. »Der Leiter der Sonderkommission Stammheim, Günter Textor vom BKA, stellte später fest, dass seine Behörde von der Staatsanwaltschaft nur den Auftrag bekam, in Richtung Selbstmord zu ermitteln. «

Über sein Vorgehen schreibt Lehmann eingangs: »Die Indizienkette beruht nicht auf Behauptungen, Vermutungen oder Annahmen, sondern auf Aktenmaterial und Aussagen, die ich mit Quellennachweisen belegen werde. Untermauert werden einzelne Indizien durch verschiedene Testaufbauten.« Seine Anfragen auf Akteneinsicht zu diversen offenen Fragen wurden für die wichtigsten Akten (u. a. die des Großen und Kleinen Krisenstabes sowie die originalen Akten des TEV, sowie generell die des Bundeskriminalamtes) abschlägig beschieden mit der Begründung, die Einsicht gefährde die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland.

Lehmann geht zunächst der Frage nach, ob es möglich gewesen ist, Waffen und Sprengstoff in den 7. Stock des Hochsicherheitsgefängnisses Stuttgart-Stammheim zu den dort einsitzenden Gefangenen aus der RAF zu schmuggeln. Dies soll während der Gerichtsverhandlung im Mehrzweckgebäude von Anwälten der Angeklagten bewerkstelligt worden sein, die Hohlräume in präparierten Handakten als Verstecke benutzt hätten, ohne dass dies den kontrollierenden Beamten des Landeskriminalamtes aufgefallen sei, Die Waffenschmuggel-Theorie stützt sich lediglich auf die Aussage des Kronzeugen Volker Speitel.

Lehmanns erster Testaufbau besteht darin, eine »Handakte« zu präparieren. Seine Bilder zeigen allerdings die Präparierung eines Aktenordners. Und obwohl er schreibt, die Handfeuerwaffen seien laut Speitel in Einzelteilen geschmuggelt worden, legt er in den von ihm verklebten Hohlraum eine komplette Waffe, Griffschalen inklusive. Bei den in den Zellen von Baader und Raspe aufgefundenen Waffen fehlten allerdings die Griffschalen. Die Waffen konnten also nicht mit Griffschallen nach Stammheim gekommen sein. Das Ergebnis des Lehmann-Testes: Die Akte hätte sich nicht richtig durchblättern lassen, und der Hohlraum wäre sofort aufgefallen. Zudem setzt Lehman auf die Aussagen von 30 für die Kontrolle zuständigen Kriminalbeamten, sie seien bei ihren Durchsuchungen stets sorgsam vorgegangen. Kann man von Kriminalbeamten, die zudem ein Korpsgeist eint, erwarten, dass sie sich selbst bescheinigen, schlampig und nachlässig kontrolliert zu haben? Zudem, so Butz Peters, sei der »Grabbeldienst« nicht sonderlich beliebt gewesen. Durch den häufigen Wechsel, so zitiert Peters ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart, fehlt den Polizisten »eine ausreichende Routine«. (Butz Peters, »Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF«, 2004, S. 455)

Volker Speitel, Bürogehilfe im Stuttgarter Büro der Rechtsanwälte Arndt Müller und Armin Newerla, lässt sich am 2. Oktober 1977 in Puttgarden im Skandinavien-Express von Kopenhagen nach Hamburg festnehmen. Speitel war 1975 zu den Illegalen der RAF gestoßen, von diesen aber wieder in die Legalität zurückgeschickt worden, weil er schon beim Anblick eines Polizeibeamten panische Reaktionen zeigte. Schon vor seiner Festnahme im Oktober 1977 hatte er über Mittelsmänner der BRD-Sicherheitsbehörden, die gegen ihn wegen seiner angeblichen Beteiligung an der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm ermittelten, »wissen wollen, welche Chancen er habe, wenn er … zurückkehre«. (Weidenhammer, »Selbstmord oder Mord? Todesermittlungsverfahren Baader Ensslin Raspe«, 1988, S. 221) »Dabei soll es unter anderem in Basel, Brüssel und in Frankfurt a. M. zu Kontaktaufnahmen und Gesprächen gekommen sein.« (ibid.) Laut Generalbundesanwalt Rebmann soll Speitel erst nach dem 18. Oktober 1977 Aussagen gemacht haben. Von den Anwälten der wegen des angeblichen Waffenschmuggels verurteilten Rechtsanwälte Müller und Newerla erfuhr Lehmann »verbindlich, dass Speitels erste kooperative Vernehmung durch das BKA gleich nach seiner Verhaftung statt gefunden hatte.« Kurz darauf wird die Kanzlei, in der Speitel arbeitete, durchsucht und versiegelt. Anlass war der Hinweis von Speitel auf Aktenverstecke im Kopierraum der Kanzlei. Später werden aufgrund der Hinweise von Speitel in einem Versteck die Griffschallen der bei Raspe gefundenen Waffe sichergestellt. (s. Klaus Stern/Jörg Hermann, »Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes«, 2007, S. 304) Das Ex-RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo führt in dem Buch »Das Projektil sind wir« (2007, S. 149) aus: »Der spätere Kronzeuge Volker Speitel hatte damals die ganze Kommunikation zwischen den Illegalen und den Stammheimern organisiert. Mit meinem Bruder zusammen sorgte er für den Transport der Waffen nach Stammheim.«

Gehen wir also davon aus, dass es doch möglich war – auf welchem Wege auch immer – Waffen nach Stammheim zu schmuggeln, dass Speitel die Waffentransporte vorbereitete und unmittelbar nach seiner Festnahme im Verhör durch BKA-Beamte sein Detailwissen preisgab, so konnten die Sicherheitsbehörden mit diesem Wissen operieren, es in das »wilde Denken« integrieren, zu dem Bundeskanzler Helmut Schmidt bereits in der Nacht nach der Entführer des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer den Generalbundesanwalt Rebmann angeregt hatte. Die Akten über die erste Vernehmung von Speitel, so Lehmann, »sind nicht zugänglich bzw. auffindbar«.
In einem zweiten, aufwendigen Testaufbau weist Lehmann nach, dass das Ergebnis des Untersuchungsausschusses des baden-württembergischen Landtages, wonach sich die Gefangenen über eine »Wechselsprechanlage« zum Selbstmord verabredet hätten, nicht den Tatsachen entsprechen kann: »Das unsaubere technische Gutachten, die fehlenden Elektromaterialien, das Verbindungsproblem in Zelle 721 sowie die generelle Unmöglichkeit eines Aufbaus während der Kontaktsperre beweist deutlich, dass die offizielle Darstellung auch an dieser Stelle falsch ist und hier versucht wurde und wird, eine Absprache zum Selbstmord der RAF-Häftlinge in der III: Abteilung in der Öffentlichkeit plausibel erscheinen zu lassen.« In dem Buch »RAF – Das war für uns Befreiung« (1997, S. 124) sagt Irmgard Möller, die Gefangenen hätten zeitweilig ein Kommunikationssystem über die Leitungen des Anstaltsrundfunks gehabt. Sie fährt fort: »Es ist auch richtig, dass der BND uns darüber abgehört hat. Das ist in den letzten Tagen des Stammheimer Prozesses öffentlich thematisiert worden. In der Zeit der Kontaktsperre gab es dieses System aber viele Monate schon nicht mehr. Wir hatten uns gedacht: Was soll so eine aufwendige Geschichte, wenn wir eh abgehört werden.«

In einer dritten Versuchsanordnung geht Lehmann der Frage nach, warum in der Todesnacht von Stammheim niemand Schüsse gehört hat. Er kommt nach seinen Schussversuchen und den Aussagen der Häftlinge, die damals im 6. Stock des Stammheimer Gefängnisses untergebracht gewesen sind und die selbst die Betätigung der Klospülung im 7. Stock wahrnahmen, zu dem Schluss, »dass Schüsse aus Waffen ohne Schalldämpfer hätten auffallen müssen«.

Andreas Baader soll, so die staatsoffizielle Version, die Waffe, mit der er sich erschossen haben soll, mit Büroklammern in seinem Plattenspieler befestigt haben. Lehmann besorgte sich ein Modell des Baader’schen Plattenspielers und musste feststellen, dass es ihm nicht gelang, die Waffe auf die genannte Weise zu fixieren, »denn es gibt keine brauchbaren Löcher, um dort Büroklammern oder auch einen Draht zu befestigen und dann daran die Waffe.« Der bereits genannte BKA-Mann Textor hatte das Waffenversteck im Plattenspieler als »hypothetische Annahme« bezeichnet. Die medialen »RAF-Experten« behandeln das angebliche Waffenversteck im Plattenspieler allerdings als gesicherte Tatsache.

An der Waffe, mit der sich Baader erschossen haben soll, wurden keinerlei Fingerabdrücke nachgewiesen. Ebenso wurden, obwohl Baader drei Schüsse abgegeben haben soll, weder an seiner rechten noch an seiner linken Hand eindeutige Schmauchspuren festgestellt. Die durch den aufgesetzten Kopfschuss entstandene Stanzmarke entsprach nicht dem Lauf der Pistole FEG 7,65 mm. Die Spur 6 mit Blut- und Hautgewebeanhaftungen ist verschwunden. Ein Schusstest, mit dem hätte festgestellt werden können, ob tatsächlich aus der gefundenen Waffe abgefeuert wurde, unterblieb und damit der Nachweis, dass die gefundenen und laut Lehmann in der Zelle gezielt abgelegten Projektile tatsächlich aus der FEG stammten. Und: »Wie kann die Waffe, mit der Baader dreimal geschossen haben soll, nach dem tödlichen Schuss ›gespannt und gesichert‹ aufgefunden werden?«
Bei Jan-Carl Raspe zeigt sich ein ähnliches Bild. Nicht eindeutig aufgeklärt wurde, wo sich die Waffe befand, als die Schließer den schwer verletzten Gefangenen fanden. An der Waffe wurden ebenfalls keine Fingerabdrücke festgestellt und auch keine Schmauchspuren an der rechten Hand, mit der er den tödlichen Schuss abgefeuert haben soll.

Bei Gudrun Ensslin spricht der Gutachter Prof. Pfeiffer in seinem Gutachten eindeutig davon, dass der Tod nicht durch Erhängen eingetreten sein kann. Auf diese Diskrepanz zu der offiziellen Ermittlungsrichtung ist er in seinem Gutachten nicht eingegangen, Gravierender jedoch ist die Tatsache, dass die Ermittlungsbehören diese eindeutige Feststellung ignorieren und keine weiteren Ermittlungen zu anderen Todesursachen anstellen. Stattdessen wie schon bei Ulrike Meinhof eine Unterlassung: Der bei Verdacht auf Selbstmord durch Erhängen obligatorische Histamin-Test unterbleibt. Es lässt sich anhand der Aussagen und Akten nicht einmal mehr zweifelsfrei rekonstruieren, wo denn der Stuhl gestanden hat, von dem Gudrun Ensslin in den Tod gesprungen sein soll.
Bei der in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 schwer verletzten Irmgard Möller hatte Prof. Hans-Eberhard Hoffmeister einen ca. 7 Zentimeter langen Stichkanal festgestellt, der mit einer ziemlichen Wucht geführt worden sein musste. Diese Heftigkeit des Stichs ist von der Staatsanwalt nie erwähnt worden. Die damals angefertigte Röntgenaufnahme vom Thorax der Verletzten, die eventuell darüber Auskunft geben könnte, ob die Verletzung durch Fremdeinwirkung oder von eigener Hand erfolgte, ist unter Verschluss. Das angeblich von Irmgard benutzte Anstaltsmesser wies ebenfalls keine Fingerspuren auf.

Lehmann, der seine Recherchen 2006 begann, nachdem ihn die Aust-Schwarte »Der Baader Meinhof Komplex« wegen der dürftigen Quellenangaben und dem Ich-schreibe-als-sei-ich-dabei-gewesen-Gehabe arg enttäuscht hatte, wartet noch mit vielen Indizien mehr auf, die Zweifel an der staatsoffiziellen Behauptung vom Selbstmord begründen. Ihm bleibt die Erkenntnis, »dass der Staat im Zusammenspiel Krisenstab – Nachrichtensperre – Kontaktsperre die Freiheit hatte, jedwede Handlungen unbehelligt von jeglicher Kontrolle vorzunehmen.« Ohne immensen öffentlichen Druck, der sich freilich angesichts der paralysierten sozialen Bewegungen in diesem Lande nicht antizipieren lässt, wird die Untersuchung Lehmanns, der eine größtmögliche Verbreitung zu wünschen ist, allerdings folgenlos bleiben. Die unter Verschluss gehaltenen Akten werden unter Verschluss bleiben. Die staatlichen Organe und deren willige Hofberichterstatter werden an der von ihren verfolgten RAF-Bewältigungsstrategie festhalten und auch an der Staatsraison, der auch der einstige SS-Führer Schleyer geopfert wurde. Auch 2011 wird sich die von Rechtsanwalt Weidenhammer 1988 geäußerte Hoffnung nicht erfüllen, dass der UN-Menschenrechtsausschuss kraft seines Ansehens und seiner Autorität eine internationale Untersuchungskommission beauftragen möge.

Bereits 1980 hatte BKA-Mann Textor im »Stern« verkündet: »Die Staatsanwaltschaft – die objektivste Behörde der Welt – hat das Verfahren eingestellt. Damit ist der Fall ein für allemal abgeschlossen und damit basta.«

Helge Lehmann, »Die Todesnacht in Stammheim. Eine Untersuchung. Indizienprozess gegen die staatsoffizielle Darstellung und das Todesermittlungsverfahren«. – Bonn: Pahl-Rugenstein Verlag, 2011, 238 S., mit 68 Abbildungen und Dokumenten-CD, ISBN 978-3-89144-437-5, 19,90 EUR (D)