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Andrew Solokov: Meine Gefangenschaft

Was ist der Unterschied zwischen Gefangenschaft und Verhaftung?

Ich weiss es jetzt. Wenn man festgenommen wird, hat man das Recht auf einen Rechtsanwalt, einen Anruf an die Familie, auf eine Rechtsbelehrung. Aber wenn man gefangen genommen wird – verschwindet man für alle. Man ist nirgendwo mehr. Man hat nur das Recht auf Kälte, Folter und Verschwinden nach nirgendwo, wenn man sich weigert, vor Soldaten auszusagen. Es gibt komplette Anonymität und Rechtslosigkeit. Und das wird durch den Staat der Ukraine gemacht und nicht von einer kriminellen Bande.

Ich wurde am 26. Dezember 2014, gefangen genommen, als ich in meinem Auto versehentlich zu einem ukrainischen Checkpoint in der Nähe von Gorlovka fuhr. Ich fuhr von Donetsk nach Gorlovka zu meinem Freund Egor, einem Anarcho-Kommunisten. Am 4.Dezember kam ich in der Volksrepublik Donezk (DPR) an, um meine GenossInnen – KommunistInnen und SozialistInnen – zu unterstützen und um in den Fabriken in Donesk zu arbeiten. Ich bin Arbeiter, Büchsenmacher von Beruf. Meine Erfahrung war notwendig, um den GenossInnen bei der Bewaffnung zu helfen und sie bei ihrem Kampf für die Unabhängigkeit der Republik zu unterstützen. Ich bin ein russischer Revolutionär, ein Kommunist. Ich nehme seit 1996 am politischen Kampf teil. Ich wurde viermal zu Freiheitsstrafen wegen radikaler Politik und wegen Waffenproduktion verurteilt. Ich bin 36 Jahre alt und ich habe davon 9 Jahre in Gefängnissen verbracht. Ich konnte die Bitte der DPR GenossInnen nicht ignorieren und mich weigern zu ihnen zu gehen.

Hier in der DPR ist die politische Situation kompliziert: es gibt sowohl Konservative und SozialstaatsunterstützerInnen. Ich möchte ukrainischen linken Kräften helfen. Unser Ziel ist es, den Krieg zwischen den Völkern in einen Krieg zwischen arm und reich zu verwandeln. Sowohl in der DPR und auch hier, in der Gefangenschaft, sehe ich nur Soldaten, die aus der Armut kommen – sie sind Arbeiter, Bauern und arbeitslose Jugendliche. Es gibt keine Reichen an vorderster Front. Die Reichen haben Geld und Geschäfte, sie kaufen sich von der Wehrpflicht frei.

Aber ich habe auch NationalistInnen gesehen, den “Rechten Sektor”, die Waffen vom Staat erworben haben, und sie führen Krieg. Wenn der Krieg vorbei ist, werden sie sich nicht entwaffnen, sogar jetzt fangen sie an, an die Macht zu kommen, in die Strafverfolgungsbehörden. Sogar einfache PolizistInnen oder BeamtInnen des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SSU) sind unzufrieden. Wenn NationalistInnen in einem multinationalen Land wie der Ukraine an die Macht kommen, führt dies zu seiner Zerstörung und zu Blutvergiessen. “Europäische Integration” war nur ein Vorwand für sie.

Erst am 29. Dezember wurde ich offiziell verhaftet und in das SSU der Stadt Mariupol gebracht. Davor wurde ich in “Kellern” versteckt – das sind geheime Militärgefängnisse in der Anti-Terroristen-Operations Zone. Jeder Raum kann ein solches Gefängnis werden: ein Metallbehälter in dem es sogar tagsüber dunkel ist und kalt wie draussen; ein verlassenes Keller-Café mit selbstgemachten Käfigen für Menschen; eine anonyme Einzelzelle in einer Polizeidienststelle. Es gibt nur eine Sache die diese Orte gemeinsam haben – man ist allein, man weiss weder wo man ist noch was passieren wird; jede Bewegung muss mit gefesselten Händen gemacht werden und man trägt eine Maske mit Löchern auf der Rückseite – man kann nichts sehen. Ich habe so etwas wie dies nur in Filmen über Entführungen gesehen. Alle Soldaten tragen auch Masken. Eine Ski-Maske wurde zum Symbol für Anonymität und Krieg.

Ich habe in meinem Leben schon viel erlebt. Ich wurde auch schon von der Polizei gefoltert. Aber in den “Kellern” ist die Folter systematisch, jeder wird dort gezwungen zu sprechen. Denn diejenigen, die sich weigern zu sprechen – kommen nie wieder zurück. Sie verschwinden. Als ich am Checkpoint festgehalten wurde, hatte ich Beweisstücke bei mir – meinen Pass, der eines russischen Bürgers, ein St. George Farbband an meiner Autoantenne und meine Arbeitspapiere. Also habe ich nicht geschwiegen, ich bestätigte, was offensichtlich war – ich hatte der DPR geholfen. Gleich am Anfang zeigten sie mir, was vor mir liegen würde wenn ich schweige – Fesselung, Folterbank, Stromschläge, Gasmaske, etc. Nun ich werde des Terrorismus beschuldigt – gemäss Artikel 258 des Strafgesetzbuches der Ukraine, solange die Behörden der Auffassung sind, die Volksrepubliken Donezk und Lugansk seien “terroristische Organisationen”. Tausende ÄrztInnen, LehrerInnen, staatliche Angestellte arbeiten in der DPR, sie werden auch als “TerroristInnen” betrachtet. Was für ein Unsinn!

Ich warte auf Austausch. Meine GenossInnen haben mich in die Liste für Gefangenen Austausch zwischen der Ukraine und der DPR aufgenommen. Jetzt bin ich ein politischer Gefangener. Es gibt mehr als hundert von uns hier im Gefängnis: Milizionäre, Oppositionelle, “Komplizen”. Alle sind aufgrund von Artikel 258 angeklagt. Ich kann bei meinem Zellenfenster Artillerie hören, da das Gefängnis in der Nähe der Front liegt. Ich weiss nicht, was vor uns liegt: eine Gefängnisstrafe, oder ein Austausch, oder eine verirrte Granate oder als Geiseln erschossen werden.

Ich sende meine grosse Dankbarkeit allen, die Solidarität mit meinem Schicksal zum Ausdruck gebracht haben.

Es lebe das sozialistische Novorossia!

Freiheit für alle Gefangenen!

Andrey “Che”, 30. Januar, 2015

Mariupol Stadtgefängnis, DPR

Andrew sitzt bei Redaktionsschluss (Ende August 2015) im Knast von Berdiansk Provinz Zaporozhye, Ukraine.

Er benötigt dringend finanzielle Unterstützung, um materiell im Knast überleben zu können. Spendet auf das Konto der Roten Hilfe: Postfinance 19188293 08/18 Rote Hilfe, Vermerk „Che“