»Das Recht auf Rückkehr ist uns heilig« Über die historische Nakba und den 7. Oktober.

Ein Gespräch mit Salman Abu Sitta
Salman Abu Sitta ist ­palästinensischer ­Geograph und Historiker und einer der führenden Experten

auf dem Gebiet der Nakba. Zudem hat er einen detaillierten Plan ausgearbeitet, wie das »Recht auf Rückkehr« praktisch umgesetzt ­werden könnte.
Der Palästina-Kongress in Berlin vom 12. bis 14. April sollte die »deutsche Mitschuld am Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen« anprangern. Während Ihrer Rede, die per Video ausgestrahlt wurde, stürmte die Polizei die Bühne und verbot anschließend die gesamte Veranstaltung. Als Grund wurde angegeben, dass Sie in Deutschland einem »politischen Betätigungsverbot« unterliegen. Waren Sie sich dessen bewusst?
Nein, das war mir nicht bekannt. Ich habe keine Benachrichtigung von irgendeiner offiziellen deutschen Stelle erhalten. Ich kenne die Definition von »politischer Betätigung« in Deutschland nicht. Und ich habe auch nicht die Absicht, mich in das deutsche Parlament wählen zu lassen! In über 50 Jahren akademischer Arbeit habe ich an vielen Universitäten in der ganzen Welt Vorträge gehalten. Niemals wurde mir während meiner Vorlesung der Strom abgestellt, wie in Berlin. Das ist ein Novum, das man nicht vergessen sollte.

Worauf gründet sich dieses Verbot?
Ich habe keine Ahnung. Wie Sie wissen, wurde der Kongress von deutschen Aktivisten organisiert, darunter auch deutsche Juden, die sich für Gerechtigkeit und Freiheit für Palästinenser einsetzen. Die geladenen Redner waren bekannte Persönlichkeiten aus der ganzen Welt. Zweifellos hatten und haben diese genügend offene Foren, in denen sie sprechen können. Ihre Ansichten sind wohl vielen Menschen in der Welt bekannt. Damit bleibt die deutsche Öffentlichkeit die einzige blinde Gemeinschaft, die die Wahrheit verkennt.
Ironischerweise wird der Umgang mit dem Thema in Deutschland von 120 US-Universitäten und vielen Institutionen in Europa abgelehnt. Diese haben nicht nur Konferenzen zu Palästina abgehalten, sondern auch Camps errichtet, um gegen den Völkermord im Gazastreifen zu protestieren, zu einem Waffenstillstand aufzurufen und den Stopp von Waffenlieferungen an Israel zu fordern. Dies macht Deutschland zu einem Helfer des israelischen Völkermordes in Gaza, wie im anhängigen Fall von Nicaragua vor dem Internationalen Gerichtshof, IGH, behauptet wird. Deutschland wird in der Welt als Israels »europäische Vertretung« angesehen.

Seit Monaten versuchen die deutschen Behörden Demonstrationen und Veranstaltungen gegen den Krieg im Gazastreifen – teils gewaltsam – zu unterdrücken. Grundrechte wie die Versammlungs- und Meinungsfreiheit werden außer Kraft gesetzt. Warum ist das Vorgehen Deutschlands gegen die palästinensische Bewegung so repressiv?

Die Bundesrepublik ist seit langem für die Beihilfe zu israelischen Kriegsverbrechen bekannt. Nach Artikel 25 des Römischen Statuts, der Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs, IStGH, ist das strafbar. Am 8. April verfolgte ich die deutsche Verteidigung in der Klage Nicaraguas vor dem IGH. In Den Haag wurde die Argumentation Deutschlands zu einer Bestätigung der Anschuldigungen. Als Laie fand ich die vorgebrachten Argumente dürftig.
Deutsche Politiker betonen, es gehe um »Wiedergutmachung« für den Völkermord an den europäischen Juden im Nazifaschismus.
Lassen Sie mich ein wenig in der Geschichte zurückgehen. Deutschland zahlte in den 1950er Jahren Millionen von Mark als Entschädigung an den entstehenden Staat Israel – aber nicht an die deutschen Juden – sondern um neue jüdische Einwanderer anstelle der Palästinenser anzusiedeln und so Israel bei der Ausführung der palästinensischen Katastrophe, der »Nakba«, zu unterstützen. Nach der Invasion der Zionisten in Palästina und der Entvölkerung von 530 palästinensischen Städten und Dörfern war das Land leer. Viele europäische Juden zogen es vor, statt nach Palästina in die USA zu gehen. Der erste israelische Premierminister David Ben Gurion wandte sich an arabische Juden, die er verachtete, damit diese die »Lücke füllen«. Doch sie zögerten, einzuwandern.
Dann legten Zionisten Bomben in jüdischen Gemeinschaften im Irak und in Marokko, was viele Juden dazu veranlasste, nach Israel auszuwandern. Der junge Staat war bankrott und konnte die Unterbringung der neuen Einwanderer nicht bezahlen. Deutsche Subventionen halfen dabei. Israel blockierte die Rückkehr der 1948 vertriebenen Palästinenser und ersetzte sie durch arabische Juden.
Im Rahmen eines Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel aus dem Jahr 2000 zahlte Berlin zudem Mil­lionen von Euro an Israel. Das Abkommen sah ursprünglich vor, dass die Zusammenarbeit eine Verletzung der Menschenrechte ausschließt – es hätten keine Kriegswaffen oder Massenvernichtungswaffen für Israel hergestellt werden dürfen. Die Bundesrepublik stimmte als einziges Land dafür, diese Klausel fallen zu lassen. Das ermöglichte es Israel, mit in Deutschland hergestellten oder von Deutschland subventionierten Waffen einen Völkermord zu begehen. Die deutsche Subventionierung vollendete die Nakba.
Der Protest gegen den israelischen Krieg wird auch in anderen Ländern des globalen Nordens unterdrückt. Aus welchem Interesse?
Nein, sie werden im globalen Norden nicht unterdrückt, oder zumindest funktioniert das nicht vollständig. Nach aktuellem Stand gibt es an 120 Universitäten in den USA Proteste. Die Bewegung ist größer als zu Zeiten des Vietnamkriegs. Umgekehrt gab es im Falle Vietnams keine so mächtige Organisation wie das American Israel Public Affairs Committee, AIPAC (größte proisraelische Lobby in den USA, jW).
Die protestierenden Studenten in den USA fordern einen Waffenstillstand, Desinvestitionen und den Boykott von israelischen Unternehmen und Institutionen. Sie verlangen ein freies Palästina vom Fluss bis zum Meer. Das ist eine qualitative Veränderung im Diskurs, die durch die moralische Kraft junger Menschen bewirkt wurde. Diese Veränderung wurde mit dem Blut von über 100.000 getöteten und verletzten Palästinensern bezahlt.
Die jungen Menschen an den Universitäten haben die Lügen, die Verleumdung, den Völkermord, die Besatzung, die Apartheid und eine lange Reihe von Kriegsverbrechen aufgedeckt, die seit 76 Jahren in Palästina begangen und von den westlichen Medien totgeschwiegen werden. Diese Menschen unterscheiden sich durch zwei Eigenschaften von den US-Politikern und den meisten sonstigen Politikern, die auf der Seite Israels stehen: Erstens besitzen sie ein Gewissen und einen freien Geist und zweitens, sie lassen sich nicht bestechen.
Ihnen wird vorgeworfen, in einem Artikel geschrieben zu haben, dass Sie, wenn Sie als junger Mann am 7. Oktober dabei gewesen wären, auch die Grenzanlagen um den Gazastreifen durchbrochen hätten. Für die einen war es ein »bewaffneter Aufstand«, für die anderen »antisemitischer Terror«. Wie ordnen Sie die Ereignisse ein?
Diese Anschuldigung ist ein Zeichen von Dummheit, Rassismus und Diffamierung. Diejenigen, die das kritisieren, haben meinen Artikel in der US-amerikanisch-jüdischen Publikation Mondoweiss nicht gelesen. Es gibt darin nicht eine einzige Tatsache, die bestritten werden könnte.
Rassistisch ist das ganze, weil die Apologeten des Zionismus Siedler aus Rumänien, der Ukraine und Polen unterstützen, die einst mit einem Schmugglerschiff an unsere Küsten kamen, um uns zu töten und unser Land zu stehlen. Wir Palästinenser haben kein Recht auf unserem eigenen Land. Die Siedler in Nirim, Nir Os, Ein Haschloscha und Magen (israelische Kibbuzim, die am 7. Oktober angegriffen wurden, jW) haben sich auf dem Land meiner Familie niedergelassen, dem Dorf Al Ma’in Abu Sitta. Tatsächlich wurde ich auf dem Land meines Vaters geboren, auf dem später der Kibbuz Nirim errichtet wurde. Ich habe also das absolute Recht, nach Hause zurückzukehren. Der Kriegsverbrecher, der mit einer Waffe und deutscher Unterstützung auf meinem Land hockt, ist derjenige, der dieses Recht nicht besitzt. Den Rassisten ist außerdem eine weitere Tatsache entgangen: Das Land, auf dem diese vier Kibbuzim errichtet sind, hätte nach dem Waffenstillstandsabkommen vom 24. Februar 1949 zum Gazastreifen gehören sollen. Ein Jahr später spaltete Israel 200 Quadratkilometer des Gazastreifens als »vorübergehende Maßnahme« ab. Und dabei blieb es.
Die Anschuldigung ist außerdem diffamierend, denn die Verbrecher werden als gerecht und die Opfer als schuldig dargestellt. Der palästinensische Widerstand ist nach internationalem Recht legitim, zum Beispiel nach Artikel 51 der UN-Charta. Und er hat hat viele Namen: Fedajin, PLO, Fatah, PFLP, Hamas, Dschihad. Zweifellos wird es in Zukunft viele weitere Namen geben. Der Widerstand ist nicht aufzuhalten.

Die Hamas-Führung muss sich darüber im Klaren gewesen sein, dass Israel die Angriffe mit aller Härte bestrafen würde. Hat dies die Palästinenser in ihrem Kampf um Selbstbestimmung nicht weit zurückgeworfen?
Ich weiß nicht, ob das der Fall war oder nicht. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die zionistische Invasion Palästinas und die israelischen Angriffe seit 1948 mehr als 27.000 Tage lang andauern und nicht einen Tag aufgehört haben. Die zionistischen Streitkräfte der Haganah marschierten im April 1948 mit einer Armee von 120.000 europäischen Soldaten mit neun Brigaden in Palästina ein, führten 38 militärische Operationen durch und begingen 350 Kriegsverbrechen. Alle sind im »Atlas of Palestine 1917–1966« detailliert beschrieben. Bereits vor der Ausrufung des Staates Israel wurden 220 arabische Städte und Dörfer entvölkert. Ende 1948 waren es insgesamt 530. Das war die ethnische Säuberung Palästinas.
Auch nach 1948 setzte Israel seine Angriffe auf Flüchtlingslager im Gazastreifen fort, genauso im Westjordanland, Libanon, Syrien und Jordanien. Israel tötet auch heute weiter Geflüchtete, dabei ist es egal, wo sie sich aufhalten. Der Gazastreifen war Gegenstand intensiver Angriffe auf dem Land-, Luft- und Seeweg. Seit 2005 ist das Gebiet mit einer Blockade belegt, die nur begrenzt Nahrungsmittel und Medikamente zulässt. Zerstörungen wie nach dem 7. Oktober sind nicht neu, sie haben nur an Intensität zugenommen. Die ethnische Säuberung wurde zu einem Völkermord.
Die israelische Staatsideologie beruht auf der Abschreckung, nach dem Motto »Wenn ihr einen von uns tötet, werden wir hundert von euch töten«. Als Dutzende von Kämpfern aus Flüchtlingslagern am 7. Oktober die stark befestigten Zaunanlagen um den Gazastreifen durchbrachen, fiel diese Ideologie in sich zusammen. Die israelische Reaktion darauf kann eine neue Welle des Widerstands zur Befreiung Palästinas nicht verhindern.
Als Israel vor 76 Jahren gegründet wurde, waren Sie zehn Jahre alt. Was haben Sie damals erlebt?
Am 14. Mai 1948 griffen 24 gepanzerte Fahrzeuge der zionistischen Streitkräfte mein Dorf Al Ma’in an. Wir hatten 15 Gewehre, um uns zu verteidigen. Sie sprengten die Schule, die mein Vater 1920 gebaut hatte, den Brunnen und die Getreidemühle in die Luft. Sie brannten unsere Häuser nieder und töteten jeden, der in Sichtweite war. Während sie das taten, sprach Ben Gurion vor dem Rat der Siedler und verkündete die Staatsgründung. An diesem Tag wurde ich zu einem Geflüchteten.
Zuvor hatte ich noch nie einen Juden gesehen. Als Kind fragte ich mich, wer diese Menschen waren, warum sie uns angriffen und unser Leben zerstörten. Es wurde zu meiner Lebensaufgabe, alles über die Menschen zu erfahren, die das Land und die Menschen in Palästina beherrschen. Als Ingenieur arbeitete ich an einem Plan zur Rückkehr der Vertriebenen.
Eine zentrale Forderung der Palästinenser ist das von Ihnen erwähnte »Recht auf Rückkehr« der 1948 Vertriebenen und ihrer Nachkommen – rund neun Millionen Menschen – nach Palästina. Inwieweit halten Sie dies für realisierbar?
Dieses Recht ist allen Palästinensern heilig. Es ist in allen völkerrechtlichen Konventionen verankert und wurde 130 Mal in der UN-Resolution 194 bekräftigt. Das internationale Recht ist eindeutig auf der Seite der Rückkehrer. Die westlichen Länder, die Israel gegründet haben, blockieren die Rückkehr, aber das wird nicht von Dauer sein. Man wird sich dem weltweiten Druck beugen müssen.

Und wo sollen die Millionen Menschen hin?
Wir haben in umfangreichen geographischen und demographischen Studien festgestellt, dass die Rückkehr praktisch umsetzbar ist. Rund 80 Prozent der israelischen Juden leben in zwölf Prozent des Landes, nämlich den drei Bezirken: Tel Aviv, Westjerusalem und Haifa. Die Kibbuzim (in denen zwei Prozent der jüdisch-israelischen Bevölkerung wohnen) und die israelische Armee kontrollieren die restlichen 88 Prozent. Rund 500 entvölkerte Dörfer sind kaum oder gar nicht von Siedlern bewohnt. Die Geflüchteten und ihre Nachkommen könnten ohne viel Verdrängung zu den friedlich gesinnten Teilen der jüdisch-israelischen Bevölkerung zurückkehren. Das setzt natürlich die Abschaffung von Rassismus, Apartheid, Besatzung und Kriegsverbrechen voraus. Mit anderen Worten: Der Zionismus muss enden.
In der Vergangenheit haben Sie gesagt, dass das, was derzeit im Gazastreifen geschieht, »einzigartig« ist. Können Sie das erläutern?
Der Gazastreifen ist der einzige Ort in Palästina, an dem unsere Flagge hochgehalten wurde. Die Flagge ist in Israel und in der ehemals von Jordanien annektierten Westbank verschwunden. Der Gazastreifen war stets das Zentrum des palästinensischen Widerstands: 1950 die Fedajin-Kämpfer, 1958 die Fatah. Auch politisch ist Gaza zentral: Ich nenne nur die Bildung der gesamtpalästinensischen Regierung im Oktober 1948, das Exekutivkomitee für die Flüchtlingskonferenz, der erste gewählte Palästinensische Legislativrat 1962, die erste palästinensische Delegation bei der UNO. Vertreter aus Gaza waren zudem maßgeblich an der Gründung der PLO im Jahr 1964 beteiligt. Der Völkermord im Jahr 2023/2024 hat Gaza zum weltweiten Symbol für den Freiheitskampf gemacht.
Sie nennen den Gazastreifen ein »Konzentrationslager«. Das sorgt in Deutschland für Empörung. Warum halten Sie diese Bezeichnung für angemessen?
Der Gazastreifen ist das größte und am längsten aufrecht erhaltene solche Lager der Welt. Die Vorfahren der heutigen Bevölkerung, heute über zwei Millionen Menschen, wurden 1948 durch Massaker aus 247 Städten und Dörfern vertrieben. Ihre Heimat war der »Südliche Distrikt«, der 12.500 Quadratkilometer umfasst. Heute leben diese Menschen eingepfercht im Gazastreifen, der mit 365 Quadratkilometern nur 1,3 Prozent der Fläche Palästinas ausmacht. Die Bevölkerungsdichte beträgt 8.000 Einwohner pro Quadratkilometer. Die 150.000 aus Europa stammenden israelischen Siedler wohnen derweil auf dem gestohlenen Land. Dort beträgt die Bevölkerungsdichte sieben Einwohner pro Quadratkilometer.

junge Welt 15.5.24