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Der lange Arm Erdogans

Bundesregierung übt sich in politischer Justiz: Prozess gegen türkischen Aktivisten unter Anwendung der Gesinnungsparagraphen
Von Gitta Düperthal, junge Welt 17.11.15

Unterstützung für Erdogans Regime: Kanzlerin Angela Merkel besuchte Mitte Oktober den türkischen Präsidenten

Im Frühjahr 2016 wird dem politischen Gefangenen Müslüm Elma in München der Prozess gemacht. Nach Polizeirazzien im linken migrantischen Milieu sind seit dem 15. April Elma und acht weitere Aktivisten in Bayern in unterschiedlichen Gefängnissen inhaftiert. Die Bundesanwaltschaft wirft ihnen Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch (TKP/ ML) vor. Elma wird der Rädelsführerschaft beschuldigt, weshalb ihm eine Strafe von bis zu 15 Jahren Gefängnis drohe, so sein Anwalt Stephan Kuhn bei einer Versammlung am Sonntag im Türkischen Volkshaus in Frankfurt am Main. Zur Anwendung komme ihm zufolge der Gesinnungsparagraphen 129 a und b wegen Bildung terroristischer Vereinigungen, in dem Fall im Ausland. Die TKP/ML stehe allerdings nirgendwo außer in der Türkei auf der »Verbotsliste«. Seit 2006 seien die Aktivisten observiert und abgehört worden, wegen Aktivitäten, die jene nicht überstiegen, die Pfadfinder ausübten, so der Anwalt. Dazu zählten Zeitungen verteilen oder Spenden sammeln. In der Türkei sei Elma in Knästen gefoltert worden, in der Justizvollzuganstalt Kempten befinde er sich nun in Isolationshaft.

Der Tatvorwurf setze sich aus drei Fragen zusammen. Erstens: Hat der Angeklagte in Deutschland Demos organisiert, auf Podien diskutiert, Artikel publiziert, sich für Migrantenrechte eingesetzt? Zweitens: Was hat die Organisation gemacht? Ein Großteil der Nachweise dafür entstamme meist unter Folter erzwungenen Aussagen in der Türkei – »was wir beweisen müssen«, so Kuhn. Drittens: Zielten dort begangene Bezugstaten auf Strafdelikte wie Morde? Für die Verfolgung liege eine Ermächtigung des Bundesjustizministeriums vor, das zwischen Befreiungskämpfen und Terrorismus nicht differenziere. Ein Teil der Bundesregierung entscheide, dies sei politische Justiz. Die Bundesanwaltschaft werfe den Angeklagten unter anderem vor, bei der Befreiung und dem Aufbau im nordsyrischen Rojava politisch, finanziell und militärisch mitgewirkt zu haben – vor allem in Kobani, erklärte Süleyman Gürcan, Vertreter der ATIK, (Konföderation der Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Türkei in Europa). Mitglieder dieser migrantischen Dachorganisation, ihrer Frauenorganisation Yeni Kadin (Neue Frau) sowie ihrer Jugendorganisation YDG (Neue demokratische Jugend) seien gleichermaßen betroffen. Ein Verbot der ATIK werde vorbereitet, mutmaßte er.

Die Paragraphen 129 a und b gefährdeten das Recht auf Organisierung aller Linken. Ein Bündnis türkischer, kurdischer und deutscher Initiativen ruft jetzt dazu auf, den Widerstand dagegen in die Bürgerrechts- und Friedens- und Gewerkschaftsbewegung hineinzutragen. Die Frage, ob die Gesetzgebung nicht auch auf Islamisten oder Hetzer von Pegida-Bewegungen anzuwenden sei, verneinte Hans-Christoph Stoodt von der Antinazikoordination (ANK). Einzig zur Verfolgung linker Bewegungen sei sie eingeführt worden und müsse entsprechend abgeschafft werden. Lese er etwa milde Urteile, die Neonazis in dieser Hinsicht erhielten, bestätige sich dies, sagte Kuhn.

Über eine politische Einordnung vor dem Hintergrund der Attacken in Paris wurde ebenfalls debattiert. Zu Beginn hatte es eine Schweigeminute gegeben: zum Gedenken an die Toten des Anschlags, aber auch die im Kampf für die Befreiung Kobanis getöteten Aktivisten der YPG. Die Bundesregierung werde den Fall nach den Ereignissen wohl kaum anders werten, so der Anwalt. Seit dem 7. Juni seien 700 Menschen von den Streitkräften des türkischen Staates ermordet worden, tagelang habe die AKP-Regierung Ausgangssperren über kurdische Dörfer verhängt, während Scharfschützen politisch Aktive erschossen hätten. In den vergangenen 30 Jahren seien etwa 17.000 Menschen verschwunden, 30.000 Widerstandskämpfer getötet worden – allein 5.000 in den Gefängnissen. Dennoch habe Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan im Wahlkampf unterstützt und ihn besucht: »IS-Barbaren reisen über die Türkei nach Europa ein und aus, die Bundesregierung aber betätigt sich als langer Arm der reaktionären türkischen AKP-Regierung.«