Die Armen vor Gericht Strafjustiz ist Klassenjustiz: Ronen Steinkes Buch »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich«


»Dem Armen dienen die Gerichtsvollzieher, die Gefängnisse, dem besseren Herrn bleibt eine juristisch unangenehme Lage meist erspart.« Mit dieser Aussage zielt Ernst Bloch auf ein Phänomen ab, das Karl Liebknecht vor mehr als 100 Jahren als Klassenjustiz charakterisierte. Dass Liebknechts Analysen und in deren Folge die von Erich Kuttner, Ernst Fraenkel, Kurt Tucholsky oder Rolf Geffken nicht nur historischen Wert besitzen, belegt das Buch von Ronen Steinke, seines Zeichens rechtspolitischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Steinke beschreibt viele Facetten der sozialen Schieflage der Strafjustiz und räumt mit der naiven Illusion auf, im Rechtsstaat gehe es immer gerecht zu. Dabei stützt er sich auf rechtssoziologische Studien, Interviews mit Akteuren der Justiz, Beobachtungen von Gerichtsverhandlungen, Gefängnisbesuchen und die Auswertung von Gerichtsurteilen.

Zynische Begründungen
Es beginnt beim Recht auf eine effektive Verteidigung. Diejenigen, die es sich leisten können, Anwälte mit einem Stundenhonorar von 400 Euro zu engagieren, haben eine größere Chance auf Einstellung ihres Verfahrens, ein mildes Urteil oder einen Freispruch. Um diesen Nachteil auszugleichen, wurde das System der Pflichtverteidigung eingeführt. Doch das Recht auf einen Pflichtverteidiger, dessen Bezahlung durch die Staatskasse bescheiden ist, wird vom Staat lediglich bei besonders komplizierten und schweren Delikten gewährt. So verteidigen sich die Mittellosen in der ihnen fremden Welt der Justizfabrik überwiegend selbst. Steinke schildert, wie das an einem Schnellgericht, vor dem vor allem Ladendiebstähle und Schwarzfahrten verhandelt werden, im Viertelstundentakt abläuft. Freisprüche oder Einstellungen bleiben die Ausnahme.
Eine weitere Erkenntnis Steinkes ist, dass Angeklagte aus prekären Lebensverhältnissen bei der Strafzumessung meist schlechte Karten haben. Zugehörigkeit zur sogenannten Unterschicht, gekoppelt mit Arbeitslosigkeit, zerrütteter Familiensituation, Alkohol- bzw. Drogensucht oder Obdachlosigkeit, führt bei einem vergleichbaren Delikt in der Regel zu härteren Strafen. Wer aus Armuts- oder Suchtdruck heraus Straftaten begeht, darf nicht auf Milde hoffen. Die Chancen, dass eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, verringern sich. Manch richterliche Begründung für härteres Strafen klingt da schlicht zynisch. Eine Freiheitsstrafe werde bei Trinkern aus der Unterschicht ohnehin nicht als so schwerwiegend empfunden, heißt es da zum Beispiel. Dabei haben, was Steinke nicht thematisiert, die Richterinnen und Richter, die geradewegs vom Kreißsaal über den Hörsaal in den Gerichtssaal gelangen, von der desozialisierenden Wirkung der totalen Institution Knast meist keinen blassen Schimmer.


Kritisch sieht Steinke auch die Praxis der Verhängung von Ersatzfreiheitsstrafen (ESF), also das Absitzen von nicht erbrachten Geldstrafen. Ein Tagessatz Geldstrafe bedeutet einen Tag hinter Gittern. Während die Gefangenenrate in den letzten 20 Jahren in Deutschland rückläufig ist, nimmt doch die Zahl derjenigen, die bloß Schulden absitzen, stetig zu. Das wiederum korrespondiert mit der steigenden Armutsgefährdungsquote. Die Ersatzfreiheitsstrafler machten Anfang 2020 mehr als zehn Prozent der Gefangenenpopulation aus. 40 Prozent von ihnen sind obdachlos, zwei Drittel haben ein Alkohol- oder Drogenproblem. Wenige von ihnen sind in der Lage, ihre Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeit abzugleichen. Dabei verschärft der Knast noch die Lage der Deklassierten und verwaltet das Elend neoliberaler gesellschaftlicher Transformation.


Selektive Verfolgung
Nach Steinkes Analyse zeigt sich die unterschiedliche Behandlung der Begüterten und der Habenichtse durch die Justiz auch in der Verhängung der Untersuchungshaft, in der Kriminalisierung der Bettelei über den Umweg des Tatbestandes »Hausfriedensbruch« oder in der selektiven polizeilichen Verfolgung der Drogendelikte, bei der »Crime in the Streets« mehr interessiert als »Crime in the Suites«. Dass in deutschen Gefängnissen heute mehr Drogenabhängige einsitzen, als in Therapieeinrichtungen behandelt werden, ist ein Indikator für eine verfehlte Drogenpolitik.
Im Kontrast dazu steht der Umgang der Justiz mit der Wirtschaftskriminalität. Auf deren Konto geht etwa die Hälfte des durch Kriminalität verursachten Vermögensschadens. Werden jedoch Manager großer Unternehmen wegen ihrer geschäftlichen Praktiken zu einer Geldstrafe verurteilt, so ist es üblich und auch legal, dass die Firma die Strafe bezahlt, nebst Anwalts- und Gerichtskosten. Die Ausgaben können steuermindernd geltend gemacht werden. Oder es werden Versicherungen abgeschlossen, die dann die Geldstrafe und Kosten für den Wirtschaftskapitän übernehmen. Bei komplexen Wirtschaftsstrafverfahren gelingt es den Wirtschaftslenkern nicht selten, über einen Deal zwischen den Verfahrensbeteiligten günstig davonzukommen.


Geprägtes Vorverständnis
Steinkes Justizkritik mündet in 13 durchaus diskutable Verbesserungsvorschläge. Darunter sind die Einführung eines uneingeschränkten Rechts auf einen Pflichtverteidiger bei Bedürftigkeit des Beschuldigten sowie die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens und des Drogenkonsums. Doch ist Steinke nach seiner radikalen Kritik in seinen Forderungen eher zurückhaltend. So wäre es nur folgerichtig, auch den Ladendiebstahl im Bagatellbereich zu entkriminalisieren. Bei der ESF plädiert Steinke dafür, sie lediglich auf richterliche Anordnung zu verhängen. Konsequent wäre es, ganz auf sie zu verzichten. Dem wird zwar immer wieder entgegengehalten, dass der Verzicht das Geldstrafensystem ad absurdum führen würde, was jedoch durch die Praxis der letzten zwei Jahre widerlegt wird. Pandemiebedingt wurde die Vollstreckung der ESF bundesweit großzügig ausgesetzt. Im Juni 2020 war die Zahl der Gefangenen, die eine EFS verbüßten, im Vergleich zum Februar um 72,1 Prozent gesunken. Die Geldstrafenregelung blieb trotzdem funktionsfähig. Zahlungsunfähigkeit hingegen ist ein sozialpolitisches Problem und kein strafrechtliches.
Hinsichtlich der Ursachen für die kritisierte Rechtsprechung verweist Steinke mehr am Rande auf das Vorverständnis der Richter, das in die Auslegung des Rechts einfließt. Geprägt wird dieses Vorverständnis wiederum von der jeweiligen Sozialisation und den persönlichen Erfahrungen der Juristen. Fast 90 Prozent der Richter entstammen der Mittel- oder Oberschicht. Viele von ihnen haben keine Kenntnisse über die Lebensverhältnisse der Unterprivilegierten. Da schafft auch die auf abstrakte Regeln, ohne Einbeziehung der Sozialwissenschaften, ausgerichtete juristische Ausbildung kaum Abhilfe. Am Ende wird dann vielfach aus Stereotypen und Alltagstheorien heraus geurteilt. Zudem zeigt die brillant geschriebene Schrift Steinkes, dass das Kernstrafrecht noch immer ein Klassenstrafrecht ist. Daher ist es an der Zeit, dieses Strafrecht sukzessive durch an Wiedergutmachung und Schlichtung orientierte
Konfliktregulierungen zu ersetzen.

Ronen Steinke: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. Piper-Verlag, München 2022, 272 Seiten, 20 Euro

Von Volkmar Schöneburg junge Welt 25.3.22