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In manchen Universitäten lernen Jura-Student*innen der USA inzwischen bereits den Begriff „Mumia-Exception“ – die Mumia Ausnahme. Geprägt wurde dieser Begriff in den 1990ern in der Fakultät für Journalismus an der Temple University in Philadel­phia. Er beschreibt die durch alle Instanzen gehende Weigerung, irgendeinen verfassungsgemäßen Grundsatz anzuerkennen, wenn er zu Gunsten des afroamerikani­schen Journalisten und Langzeitgefangenen Mumia Abu-Jamal angewandt werden müsste.

Die Rechtsbrüche der US-Justiz gegenüber dem wegen angeblichen Mordes an einem Polizisten zunächst zum Tode verurteilten ehemaligen Black Panther Pressesprecher aus Philadelphia sind inzwischen beinahe unzählbar geworden – sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf föderaler Ebene. Im Folgenden soll es nun um die neueste Wendung der „Mumia-Ausnahme“ gehen.

Im Dezember 2011 verzichtete die Bezirks-Staatsanwaltschaft Philadelphias endgültig auf die weitere Verfolgung der Todesstrafe gegen Abu-Jamal. Sensibilisiert durch jahrzehntelange Proteste hatte der Oberste Gerichtshof der USA eine erneute Beweiswürdigung vor einer Jury angemahnt, um daraufhin das Strafmaß „Todesstrafe“ oder „Lebenslänglich“ neu festzulegen. Zu groß war die Angst sämtlicher involvierter Justizstränge, in einer neuerlichen Anhörung vor einer ohne Manipulationen gewählten Jury auf die staatliche Erfindung von Beweisen, die falschen „Augenzeugenberichte“, die Meineide durch Polizeibeamte und viele andere Unregelmäßigkeiten mehr angesprochen zu werden. Also verzichteten sie auf dieses Verfahren und damit widerwillig auch auf die Hinrichtung des politischen Gegners.

Am 13. August 2012 wurde Mumia’s Verurteilung daraufhin von der Todesstrafe in „Lebenslänglich ohne Bewährung“ umgewandelt. Es war offenbar eigentlich geplant, das heimlich, still und leise passieren zu lassen, denn Bezirksrichterin Pamela P. Dembe unterließ es, die Verteidigung oder Mumia selbst von ihrem Urteil auch nur in Kenntnis zu setzen, anscheinend in der Hoffnung, dass die zehntägige Widerspruchsfrist unbemerkt verstreichen würde. Damit wäre dieses Urteil formal unanfechtbar rechtskräftig gewesen.

Ungeschickterweise legte sie diese Entscheidung jedoch in einem Büro des Bezirksgerichts von Philadelphia zur „öffentlichen Einsicht“ aus. Zufällig sahen einige Menschen, die in einem völlig anderen Verfahren recherchierten, diese Akte und informierten Mumia Abu-Jamal drei Tage vor Ablauf der Widerspruchsfrist im SCI Mahanoy Gefängnis, wo er seit seiner Verlegung aus dem Todestrakt festgehalten wird. Mithilfe einer New Yorker Anwältin gelang es Abu-Jamal, wenige Stunden vor Ablauf der Widerspruchsfrist einen selbst formulierten Antrag „per se“ einzureichen. Richterin Dembe war empört und wies den Widerspruch eigenhändig und umgehend zurück. Schließlich hatte Bezirksrichterin Dembe bereits lange an der fortgesetzten Inhaftierung und versuchten Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal mitgewirkt. So befand sie bereits im November 2001, dass in den rassistischen Äußerungen des voreingenommenen Prozessrichters A. Sabo gegen Abu-Jamal[1] keinerlei Grund für ein neues Verfahren zu sehen sei.

Eher unwillig musste sich nun die nächsthöhere Instanz mit Abu-Jamals Widerspruch und einem weiteren rechtswidrigen Urteil gegen den inzwischen wohl bekanntesten politischen Gefangenen der USA auseinander setzen.

Fast ein Jahr später, am 25. Juni 2013, ließ sich dann das für den Widerspruch zuständige Gericht, der so genannte Superior Court in Philadelphia, dazu herab, sich wenigstens scheinbar erneut mit dem Fall Mumia Abu-Jamal zu befassen. Es ging um die Rechtmäßigkeit der von Dembe geheim gehaltenen letztgültigen Verurteilung Abu-Jamals zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung. Allerdings lehnten die drei Richter_innen William H. Platt, Cheryl Lynn Allen und Susan Peikes Gantman in einer schnellen Entscheidung den Antrag auf Neuverhandlung seines Strafmaßes ab. Gantmann, die sich gerade im politischen Wahlkampf für ein weiteres zehnjähriges Richterinnen-Amt befand, wollte im Fall „Mumia“ ebenso wenig ein sachliches Entgegenkommen zeigen, wie der ehemalige Militärpolizist und „Law and Order“ Politiker Platt oder die Republikanerin Allen, und so fiel die Entscheidung des Superior Court zuungunsten Abu-Jamals einstimmig aus.

Vermutlich fiel diese Entscheidung kurz vor den US Sommerferien auch deshalb so schnell, um es dem Gericht zu ersparen, weiteren Akte wälzen zu müssen, und um die Sache endgültig abhaken zu können. Die Todesstrafe endgültig vom Tisch, der Rechtsweg Abu-Jamals endgültig zu Ende und Lebenslänglich für immer festgeschrieben – so sollte wohl der Bewegung für Leben und Freiheit Mumia Abu-Jamals ebenfalls der Wind aus den Segeln genommen werden.

Wenn das der Plan war, ist er gründlich danebengegangen. In den USA und damit sozusagen dem Kernland der Unterstützer_innen Mumias ist die Bewegung für seine Freiheit mittlerweile wieder so stark wie seit vielen Jahren nicht mehr – das zeigt sich unter anderem an einer ganzen Reihe von gut besuchten Treffen von vielen Mumia-Aktivist_innen in New York, Washington und Philadelphia. Während diese Zeilen geschrieben werden, findet gerade ein gut besuchtes Wochenendseminar statt, auf dem sowohl über die skandalösen Einzelheiten von Mumias Fall unterrichtet als auch Strategien diskutiert werden, wie nach über drei Jahrzehnten Haft seine Freilassung doch noch durchgesetzt werden kann.

Eine große Rolle spielt dabei schon jetzt die Einbettung des Falles Mumia Abu-Jamals in die breitere politische Landschaft, insbesondere im Hinblick auf die  Fragen politische Gefangene, Todesstrafe und Masseneinkerkerung. Mumia steht symbolisch für all diese  Fragen: Er ist politischer Gefangener, er war genau drei Jahrzehnte lang, nämlich seit seiner Verhaftung im Dezember 1981, von der Todesstrafe bedroht, und jetzt droht ihm das Schicksal, den Rest seines Lebens im Gefängnis zubringen zu müssen.

Dabei können die hohe Anzahl politischer Gefangener – respektierte Quelle wie Le Monde Diplomatique sprechen von 150 und mehr –, die Tausende von Gefangenen im Todestrakt und die  zweieinhalb Millionen Menschen, die in den USA im Gefängnis sitzen, nur vor dem Hintergrund einer extrem repressiven Entwicklung erklärt werden, die in den USA nach der Niederlage der radikalen Bewegungen der 1960er und frühen 1970er Jahren einsetzte.

Seit der von Präsident Richard Nixon 1969-74 eingeführten Law-and-Order-Politik ist die Zahl der Gefangenen in den USA rasant (bis heute auf mehr als das Sechsfache) angestiegen, zahlreiche Aktivist*innen der afroamerikanischen Befreiungsbewegung, des American Indian Movement und zunehmend auch der radikalen Öko-Bewegung verschwanden für endlose Jahre im Knast, und seit 1976 ist auch die Todesstrafe wieder eingeführt – ungeachtet der großen Erfolge der Anti-Todesstrafen- Bewegung in den letzten Jahren werden noch immer jedes Jahr Dutzende von Menschen vom Staat ermordet.

Gesetzgebung und Gerichte taten ein Übriges.

Ausgerechnet unter der als so liberal geltenden Clinton-Regierung wurden in den 1990er Jahren zahlreiche Rechtsgarantien für Häftlinge und einer Straftat angeklagten Personen ausgehöhlt und zur Farce gemacht. So gewannen etwa in Todesstrafenfällen vor 1995 40 Prozent der Betroffenen ihre Berufungen auf Bundesebene; heute dürfte die Zahl eher bei 5 Prozent liegen. Hauptgrund ist ein von Clinton 1996 unterzeichnetes Gesetz, das den Namen „Gesetzt zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Effektivierung der Todesstrafe“ trägt.

Auf der Ebene der Gerichte ist der faire und zügige Prozess vor einer Jury seines- oder ihresgleichen, der verfassungsmäßig jeder einer Straftat angeklagten Person zusteht, überwiegend von sogenannten plea bargains ersetzt  worden, in denen die Angeklagten ihr Recht auf einen fairen Prozess gegen eine Strafminderung eintauschen. Wird also jemand zu Unrecht wegen eines schweren Verbrechens (Mord oder was auch immer) angeklagt, sieht er oder sie sich häufig der irrsinnigen Alternative gegenüber, sich entweder schuldig zu bekennen und ohne Prozess „nur“ zwanzig oder dreißig Jahre zu bekommen oder das Risiko eines Prozesses einzugehen, der mit Lebenslänglich oder dem Tod enden kann.

Mit andern Worten: In all diesen Jahren sind nicht nur Mumia Abu-Jamals Rechte beschnitten worden, sondern sein Fall steht für Hunderte (im Fall politischer Gefangener), Tausende (im Fall der Todesstrafe) und sogar Millionen (im Hinblick auf die in den USA seit den 1970er Jahren grassierende Masseneinkerkerung).

Was aber macht dann den Fall Mumias so besonders? Und warum dann überhaupt die Rede von der Mumia-Ausnahme? Zum einen ist Mumias Fall besonders, weil Mumia von allen drei gerade erwähnten Aspekten betroffen ist und dadurch seit seinem US-weiten und internationalen Bekanntwerden seit Anfang der 1990er Jahre Symbolcharakter gewonnen hat. Ironischerweise scheint es so, dass die Gegenseite, die staatlichen Kräfte in den USA, die Mumia immer um jeden Preis zum Schweigen bringen wollten, gerade wegen dieses Symbolcharakters den Einsatz erhöht haben, und deswegen im Lauf der Jahre an Mumia jeden nur vorstellbaren Rechtsbruch begangen haben – und zwar reden wir hier von Rechtsbruch selbst innerhalb des seit vier Jahrzehnten ohnehin schon immer repressiver und angeklagtenfeindlicher gewordenen Rechts!

In den USA wird derzeit das Bewusstsein über solche Zusammenhänge  immer stärker, und so ist es kein Zufall, dass gerade zu einem Zeitpunkt, an dem das offizielle System den Fall Mumia gern für „gelöst“ erklären möchte, sich umgekehrt immer mehr Stimmen für seine Freiheit erheben. Ob es diesen Stimmen gelingen wird, sich zu einem Aufschrei zu formieren, der stark und laut genug ist, um dieses fast utopisch erscheinende Ziel auch durchsetzen zu können, hängt nicht zuletzt auch von uns ab.

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Sagen wir allgemein „Nein!“ zu einer Politik, die Bürgerrechte und Freiheit verhöhnt und einem sinnlosen Strafwahn frönt, sagen wir „Nein“ zu den endlosen Rechtsbrüchen im Fall Mumias, mit dem ihm die ihm längst zustehende Freiheit  verwehrt wird, und fordern wir seine sofortige Freilassung.

Ein zentrales Element, um das  sich die Bewegung für Mumias Freilassung derzeit formiert und das am 9. Dezember 2013 mit vielen Anzeigen und Veranstaltungen US-weit und international möglichst bekannt gemacht werden soll, ist eine elektronisch unter http://www.change.org/petitions/release-mumia-abu-jamal und auf Papier http://mumia-hoerbuch.de/text/Mumia-Petition-dt.pdf (Kopiervorlage) zu unterzeichnende Petition an das US-Justizministerium, den Gouverneur Pennsylvanias und die für Mumia zuständige Anklagebehörde in Philadelphia. Natürlich wissen alle Beteiligten um die Ignoranz der Herrschenden gegenüber Petitionen. Aber eine weltweit von Hunderttausenden unterschriebene Forderung nach Mumias Freilassung würde der Bewegung vor Ort enorme Hilfe beim Durchbrechen der medialen Blockadehaltung bieten. Je mehr Leute schon bis zum 9. Dezember unterzeichnen, desto größer wird die Durchschlagskraft der offiziellen Veröffentlichung der Petition an diesem Tag sein!

Davon abgesehen gibt es natürlich Tausende  von anderen Wegen, etwas für Mumia und gegen die Masseninhaftierung in den USA zu tun. Also heraus mit den Ideen und her mit den Unterstützer_innen! Die Bewegung gegen Unterdrückung und für Freiheit, hier oder in den USA, ist keine Bewegung, wenn sie die dahinterstehenden Einzelschicksale wie das von Mumia ignoriert! Seid wütend und werdet aktiv!

Free Mumia – Free Them ALL!

[1] Prozessrichter Sabo erklärte 1982 bereits vor der Beweisaufnahme gegen Mumia Abu-Jamal, er werde der Staatsanwaltschaft  „helfen, den N****r zu grillen“ (gemeint war der damals noch für Hinrichtungen verwendete elektrische Stuhl).

 

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