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LINKE AUF DER ANKLAGEBANK

Es ist der zweite Verhandlungstag des Prozesses gegen Cem K. Er ist wegen drei Brandanschlägen in den Jahren 2010 und 2011, zu denen sich die Revolutionären Aktionszellen (RAZ) bekannt haben, angeklagt. Vernommen werden an diesem Donnerstag fünf Polizeizeugen, ein Feuerwehrmann und ein Angestellter des vom Brand betroffenen »Hauses der Wirtschaft«. In der Theorie behandelt die Strafprozessordnung alle Zeuginnen und Zeugen gleich – auch wenn diese im polizeilichen Dienst tätig sind. In der Praxis scheint das anders gehandhabt zu werden, wie dieser Prozesstag zeigt.

Die RAZ gelten hierzulande als die letzte klandestine militante Gruppierung, die unter einem sogenannten Markennamen agierte. In den Jahren 2009 bis 2012 führte sie verschiedene Aktionen aus Protest gegen das kapitalistische System durch. Am 4. Februar 2010 war die Fassade des »Hauses der Wirtschaft« mit zusammengebundenen Gaskartuschen, sogenannten Gasaki, in Brand gesetzt worden. Eine Kühlanlage, die an der Fassade angebracht war, kam zu Schaden. Auf einer nahegelegenen Wand entdeckte die Feuerwehr die Buchstaben »RAZ«, dazu einen Hammer und eine Sichel in schwarzer Farbe. Die Polizeibeamten, die zuerst am Tatort waren, sollten an diesem Donnerstag zu ihren Eindrücken und Erinnerungen befragt werden. Die Zeugen hatten einige Schwierigkeiten, sich an Details zu erinnern – nicht unüblich bei einem Fall, der elf Jahre zurückliegt. Unklarheit herrschte etwa bezüglich einer oder mehrerer Ausgaben der linken Untergrundzeitschrift Radikal, die von irgend jemandem – niemand konnte sich erinnern, von wem genau – unter einem Auto in der Nähe des Brandes gefunden worden waren.

Anhand der Erinnerungen oder Gedächtnislücken sollen Verteidigung, Vorsitzende und Staatsanwaltschaft prüfen, ob die Aussagen der Zeugen konstant bleiben, und ihre Kohärenz mit dem in den Akten Geschriebenen vergleichen. In diesem Fall schien jedoch anderes gewünscht zu sein. Polizeizeuge K. verriet im Gerichtssaal, dass der Vorsitzende Richter Thorsten Braunschweig ihm seinen eigenen Bericht zugeschickt hatte, zu dem er im digitalen Polizeisystem keinen Zugang mehr gehabt habe. »Wie will man die Frage einer Aussagekonstanz prüfen, wenn die Erinnerung der Zeugen durch die teilweise Akteneinsicht, ausgehändigt durch den Vorsitzenden, verfälscht wird?« fragte der Verteidiger Sven Lindemann fassungslos im Gerichtssaal.

Auf die Frage, ob er an dieser Praxis festhalten wolle, antwortete der Richter, er habe kein Unrechtsbewusstsein. Gegenüber jW betont Anwalt Lindemann, hier handele es sich um eine »nicht hinnehmbare Privilegierung von Polizeizeugen« und einen klaren »Verstoß gegen die Strafprozessordnung«. Die Verteidigung bespreche nun mit ihrem Mandanten, ob sie einen Befangenheitsantrag gegen den Richter Braunschweig einreichen werden, so Lindemann.
junge Welt 18.6.21