Mehr als ein Plakat – der Kampf um den öffentlichen Raum !

Der Staat als Ausdruck der Herrschaft einer Klasse über die Andere, zeigt auch in Winterthur sein wahres Gesicht – dies der Klassenjustiz. In Gestalt von Bullen und Staatsanwaltschaft wird sechs jungen Genoss_innen der Prozess gemacht. Im Zentrum der Anklage steht das politische Plakat, oder anders formuliert der Ort an dem es zu finden ist – die Strasse.

(agraw) Die Forderung der Staatsanwaltschaft, so rigoros sie auch selbst für bürgerliche Verhältnisse zu sein scheint, lautet ein Jahr bedingt Knast für alle sechs Genoss_innen. Der Vorwurf beinhaltet das Kleistern von mehreren dutzend Plakaten der RJBW (Revolutionäres Jugendbündnis Winterthur) in der Stadt Winterthur in einer Nacht im Januar 2021.

Aufgrund eines offenen Strafbefehls aus Basel wurde das Verfahren in einem absurd anmutenden Prozess, dem sogenannten Gerichtstandsverfahren, zwischen der Staatsanwaltschaft Winterthur und Basel hin und her geschoben. Schlussendlich landete das gesamte Dossier bei der Staatsanwaltschaft im Strafgerichtshof in Basel-Stadt. Ob dieses Vorgehen den Unwillen aufzeigt, diesen Prozess überhaupt zu führen oder ob es Kalkül ist, diesen in Basel zu veranstalten, wird sich noch zeigen. So erlangte die Staatsanwaltschaft Basel eine rege Bekanntheit für politische Prozesse, unter anderem in den noch laufenden Baselnazifrei- und Basel18-Prozessen.

Jedenfalls ist das Vorgehen des Justizapparates nicht isoliert zu betrachten, so ist es doch nichts anderes als die konsequente Fortsetzung der vorangegangenen Repression auf der Strasse. Seien es der Schlafentzug im Knast, Gewalt oder deren Androhung durch die Bullen. Dergleichen ist natürlich nicht nur in Winterthur anzutreffen, reagiert doch beispielsweise die Stadtpolizei St.Gallen ebenso scheinbar empfindlich auf das Plakatieren. Warum reagieren die Herrschenden und ihre Schergen mit solcher Vehemenz?

Die massive Repression ist der Versuch eines gezielten Schlages gegen die organisierte revolutionäre Jugend. Alleine die Tatsache, dass solche Strukturen in der Schweiz existieren, genügt ihnen, um zu versuchen jegliche Organisierungsansätze im Keim zu ersticken. So bekommt dieser Angriff auch den Charakter der präventiven Konterrevolution. In diesem Sinne werden revolutionäre Strukturen präventiv bekämpft, auch wenn ihre Bedeutung in der aktuellen Situation marginal scheint. Jedoch sind sich die Herrschenden durchaus bewusst, dass sich ihre Bedeutung rasch ändern kann und sich so das Kräfteverhältnis durchaus verschieben lässt.

Die Strasse als Ort der politischen Auseinandersetzung

Der Kampf um die Strasse, also den öffentlichen Raum, ist nichts weniger als der Kampf für eine revolutionäre Gegenmacht. Es ist der Ort wo die verschiedenen Stränge des Klassenkampfes zusammenlaufen und sich zu einem Ganzen verknüpfen lassen. Als sozialer Raum jeglicher Subjekte zeigen sich dort mit vollkommener Brutalität die Widersprüche der Klassengesellschaft. Seien es beispielsweise die rassistischen Kontrollen der Bullen, die Aufwertung und Verdrängung ganzer Viertel, die Vertreibung der Jugend, die Kommerzialisierung des Raums oder das Elend der prekarisierten Massen neben strahlendem Luxus in den Boutiquen.

Sich den öffentlichen Raum wieder anzueignen und mit revolutionären Inhalten aufzufüllen ist ein konkreter Ausdruck von proletarischer Gegenmacht. Dabei spielt es keine Rolle, ob dies durch einen Kleber geschieht, durch ein Plakat, einen Spray, eine Demonstration, eine militante Aktion oder einen Stadtrundgang. Sie alle sind Teil eines Ganzen. Soll heissen, jegliche Form hat ihre spezielle Ausdrucksweise und eigene Adressaten – doch dienen sie alle im Allgemeinen dem gleichen Ziel. Der revolutionäre Prozess wird so aus dem Reich der Abstraktionen in einen konkreten Moment transportiert. Er wird sinnlich fass- und erlebbar.

Das revolutionäre politische Plakat als ästhetischer Ausdruck des Klassenkampfes auf der Strasse erfüllt zweierlei Funktionen. Einerseits ist dies die Mobilisierung und Agitation der Massen, andererseits stellt es ein Bruch im öffentlichen Raum dar. Dies dadurch, dass es die Regeln der herrschenden Klasse ignoriert und einen Teil, sei er noch so klein, des öffentlichen Raums der Verwertungslogik des Kapitals entreisst und dem revolutionären Prozess zu eigen macht. Durch diese beiden Funktionen schafft es eine Verbindung zwischen Form und Inhalt.

Unsere Solidarität gegen ihre Repression

Wenn man den Vorwurf und die Repression oberflächlich betrachtet, kommt schnell der Reflex hoch, die Verhältnismässigkeit der Repression zu kritisieren und eine gerechte Strafe einzufordern. Dieser Weg kann uns allerdings nur in die Irre führen, überlassen wir ihn den Moralist_innen. Aus revolutionärer Perspektive kann der Forderung nach einer gerechten Strafe durch die Klassenjustiz nur mit einem müden Lächeln begegnet werden. Wir wissen warum wir kämpfen und warum es keinen Weg der Aussöhnung mit der herrschenden Klasse gibt.

Die Kampagne «Kleisterprozess – Wir lassen uns nicht unter kriegen!» begleitet den Prozess politisch als Soligruppe. Vergangene Erfahrungen, jüngste Beispiele sind der «Kill Erdogan» Prozess in Bern oder der Prozess gegen unsere Genossin Andi in Belinzona, zeigen deutlich auf, dass den Angriffen der Justiz nicht nur auf juristischer Ebene begegnet werden kann. Es gilt den Angriff im Mäntelchen der bürgerlichen Justiz zu demaskieren und seinen wahren Charakter zu offenbaren – den der Klassenjustiz. Wenn wir es schaffen den Spiess umzudrehen, können wir als revolutionäre Bewegung gestärkt aus diesem Feld der politischen Auseinandersetzung hervortreten.

Der Prozess der sechs jungen Genoss_innen wird am 18. und 19. August in Basel stattfinden.

Weiter Informationen unter:

barrikade.info/article/5189 (Communiqué der Soligruppe zum Kleisterprozess)

aufbau.org/2021/02/03/radio-widerspruch/ (Interview mit der Soligruppe im Radio Widerspruch – Juni)

Um was für Plakate geht es?
Inmitten des zweiten Lockdowns in der Schweiz, im Januar 2021, wurden in Winterthur knallgelbe Plakate gekleistert, welche die staatlich-kapitalistische Krisenverwaltung kritisierten. „Der Kapitalismus macht die Pandemie zur Krise“ wurde darauf unter anderem festgehalten. Aber auch die viel verwendete Parole: „Wir tragen eure Krise nicht“ war zu lesen. Eine klare Ansage also, während der Staat die Menschen zur Vereinzelung und Selbstisolation aufforderte, damit möglichst viele Wirtschaftsbereiche weiterhin am Laufen bleiben konnten und das kaputtgesparte Gesundheitswesen nicht überlastet würde.
Das Kleistern von Plakaten war zur Zeit des Lockdowns eine der wenigen Formen, eine linke Antwort auf die Krise auf die Strassen zu bringen.